Leben auf dem Schlachtfeld

Leben auf dem Schlachtfeld

Was bringt uns eigentlich die nächste Konsolengeneration, außer toller Grafik? Ausgerechnet ein Weltkriegs-Shooter zeigt es uns. Zu Besuch bei Gearbox, dem Entwickler von "Brothers In Arms: Hell's Highway"

Es sieht einfach so verdammt gut aus. Der Soldat geht auf den Tisch zu, dreht sich im Sprechen um, stützt sich mit einer Hand auf und setzt sich dann auf die Tischkante, die Beine nach vorne ausgestreckt. Er legt den Helm neben sich, holt eine Zigarette hinter dem Ohr hervor, steckt sie in den Mund, klopft dann mit beiden Händen suchend seine Taschen ab. Hosentaschen, Brusttaschen, er hat kein Feuer. Einer seiner Kameraden wirft ihm ein Zippo zu. Der Soldat fängt es mit einer geschmeidigen Bewegung auf, öffnet ebenso lässig die Klappe des Feuerzeugs und zündet sich die Zigarette an. So fängt die Demo von „Brothers In Arms: Hell’s Highway“ an. Auf der E3 im Mai in Los Angeles hatten wir sie zum ersten Mal gesehen. „Das hier ist Next Gen“, hatte uns der Mitarbeiter von Publisher Ubisoft noch zugeraunt, bevor er uns in den schwarzen Kubus mit der Großbildleinwand schob. „Schon klar“, dachten wir noch, als die ersten Bilder aus dem virtuellen Eindhoven im Jahre 1945 bereits über den Bildschirm flimmerten. Die vierte Auflage eines im Zweiten Weltkieg angesiedelten Shooters sollte ausgerechnet der Botschafter für Next-Gen-Innovationen sein – „Brothers In Arms“, eine Shooter-Serie, die sich von Anfang an viel vorgenommen hatte, aber sich in den bisherigen Teilen kaum über den Durchschnitt des so beliebten WW2-Shooter-Genres erheben konnte, jetzt die neue Next-Gen-Messlatte? Unvergessen das erste Zusammentreffen mit „Brothers In Arms“ Anfang 2004 bei uns in der Redaktion. Da pries John Antal, ehemaliger Colonel der US-Armee und inzwischen Berater bei „BIA“-Entwickler Gearbox, den hohen Realismusgrad des Spiels. Er höchstpersönlich hätte mit seinem Fundus an Erfahrungen aus dem ersten Golfkrieg die Grundlage für das Kampfsystem des Spiels gelegt. „Fix him, Flank him, Finish him!“, trichterte er uns wieder und wieder die Grundtaktik eines erfolgreichen Angriffs ein, während wir uns mit der ziemlich umständlichen Handhabung der Teamkommandos abmühten. Doch mit diesem spröden, von Strategie geprägten Spielprinzip, welches zwar realistisch sein mochte (im Sinne von den realen Angriffstaktiken des US-Militärs folgend), aber ansonsten kaum Gefühl von Echtheit vermittelte, hatte die Vorführung in Los Angeles überhaupt nichts mehr zu tun. Im Gegenteil. Was wir dort zu sehen bekamen, strotzte nur so vor Lebendigkeit. Spielfiguren, die sich bewegen wie echte Menschen, dynamische Kamerafahrten, die denen einer aktuellen Hollywood-Produktion in nichts nachstehen, und ausgesprochen intelligente Computergegner – wird das der neue Games-Standard? Und wie viel davon haben wir tatsächlich der neuen Konsolengeneration zu verdanken? Mit diesen Fragen auf den Lippen machten wir uns also ein paar Monate später auf nach Texas, zu Gearbox, dem Entwickler von „Brothers In Arms: Hell’s Highway“. Jeramy Cooke, Produzent des Spiels, muss nicht lange überlegen, wem er diese neuen Freiheiten beim Game-Design zu verdanken hat. „Anders als die aktuellen Konsolen verfügen Xbox360 und PS3 nicht über einen einfachen Prozessor, sondern über einen Prozessor, der aus mehreren, unabhängig voneinander operierenden Kernen besteht. Diesen Kernen können wir unterschiedliche Aufgaben zuweisen, zum Beispiel einen Kern nur für die Berechnung von Animationen abstellen. Hätten wir ähnlich komplexe Animationen wie in ‚Brothers In Arms: Hell’s Highway“ auf einer Xbox oder einer PS2 realisiert, wäre kaum noch Rechenkapazität für andere Aspekte des Spiels übrig geblieben.“ Allerdings, das muss man dazu auch sagen, ist es nicht schiere Rechenleistung allein, die so flüssige Bewegungen möglich macht. „Mit der Leistung kommen aber die Innovationen im Software-Bereich, die uns solche Details überhaupt erst ermöglichen. Zum Beispiel ein ziemlich neues Programm, mit dem wir verschiedene Arten von Animationen miteinander verschmelzen können. Vorberechnete Animationen, Animationen, die von der künstlichen Intelligenz des Spiels berechnet werden, und Animationen, die über die Physik-Engine laufen – und zwar für jeden einzelnen Knochen des Körpers.“ Und weil Bilder einfach mehr sagen als tausend Worte Entwicklerkauderwelsch, schmeißt Jeramy noch mal die Demo von „Brothers in Arms: Hells Highway“ an, um das Zusammenspiel der verschiedenen Animationsformen vorzuführen. Jeramy kämpft sich als Teamleader Baker mit seinen Kameraden durch die Gärten eines Vororts von Eindhoven in Holland bis an eine Straße heran, auf deren Kreuzung ein deutsches Geschütz aufgebaut ist. Lässt seine Kameraden ein kleines Stückchen weiter die Straße herunter hinter einer Mauer in Deckung gehen, spurtet dann über die Straße. Auf der anderen Seite angekommen, gibt er seinen Leuten den Befehl, ihm zu folgen. Ein, zwei, drei Soldaten schaffen es über die kleine Mauer. Der vierte bleibt hängen – und stürzt. Sein Vordermann bemerkt das, hält inne, dreht sich um, läuft zurück und hilft dem Kameraden über die Straße. Alles läuft so natürlich, selbstverständlich, flüssig ab, dass man sich unwillkürlich an eine Zwischensequenz erinnert fühlt. „Auf keinen Fall“, zerstreut Jeramy diesen Gedanken sofort. „Wir haben zwar bei dieser Vorführversion dafür gesorgt, dass dieses kleine Malheur auf jeden Fall stattfindet, im fertigen Spiel passiert das aber von alleine.“ Moment mal. Sollten Videospiele etwa dank der neuen Hardware tatsächlich in der Lage sein, den Zufallsgenerator Leben zu imitieren? Wenn ja, dann wäre das natürlich ein ziemlich großer Schritt in Richtung Realismus – schließlich ist es ja vor allem die Unberechenbarkeit, die das Leben so lebendig machen. „Genau so ist es“, freut sich Jeramy, „wir haben eine künstliche Intelligenz in ,Brothers In Arms: Hell’s Highway‘ implementiert, die permanent die Umstände in der virtuellen Welt, die Aktionen des Spielers und die Aktionen der Computergegner miteinander abgleicht. Hält diese künstliche Intelligenz den Zeitpunkt für gekommen, löst sie eigenständig diese emotionalen Momente aus, wie wir sie nennen. Dank der Möglichkeiten der neuen Hardware können wir das ‚normale‘ Spiel und diese ‚emotionalen Momente‘ nahtlos ineinander übergehen lassen.“ „Emotionale Momente“, das hört sich im ersten Moment ein bisschen zu griffig an, als hätten nicht die Entwickler, sondern jemand in der Marketingabteilung diesen Begriff erschaffen. Wie dem auch sei. Diese Momente, diese Situationen erzeugen auf jeden Fall eine Reaktion: Überraschung. Waren einem Figuren, egal ob eigener Charakter, Gegner oder einfach nur Passanten, in Videospielen bisher wie hölzerne Marionetten vorgekommen, wirken die Figuren in „BIA: HH“, als hätten sie ihren eigenen Willen. Später, nachdem die Überraschung verflogen ist, verstärken die „emotionalen Momente“ nicht weniger als den Eindruck, Teil einer pulsierenden, atmenden Welt zu sein. Einen großen Beitrag zu diesem Gefühl des Verschmelzens leistet die Kamera, die ebenfalls dynamisch auf das Geschehen reagiert. Dabei folgt auch sie dem wundervollen Zusammenspiel aus zwingender Logik des Lebens und dem Element Zufall. So endet zum Beispiel die Zigarettenpause zu Beginn der Demo mit dem Einschlagen einer Granate direkt vor dem Spielzeugladen, in dem Baker und seine Männer sich getroffen haben. Mit fiependen Ohren wankt Jeramy alias Sergeant Baker hinaus ins Freie. Dort trifft er auf einen Kameraden. „Baker!“, schreit der. Im selben Moment schwenkt die Kamera an Baker hinunter und verharrt bei dem blutigen Glassplitter, der in seinem Arm steckt – so lange, bis der Kamerad den Splitter hinausgezogen hat. Es mag ein Detail sein, aber ein wichtiges. Wer einen Splitter im Arm hat, guckt eben nicht stur über den Gewehrlauf geradeaus. Wer über eine Mauer flankt, guckt auch zuerst, wo er sich aufstützt – so wie die Kamera in „BIA: HH“. Natürlich gab es solche Momente ansatzweise auch schon früher in Games. Mini-Zwischensequenzen, die an einem bestimmten Punkt eines Levels ausgelöst werden. Das Faszinierende bei „BIA:HH“ ist, wie flüssig diese Dinge ineinander übergehen. Keine Verzögerung, keine Veränderung der Grafik – nahtlos wechselt die Perspektive. Außerdem weiß man nie, was jetzt eigentlich gerade für die Inszenierung der Details verantwortlich ist: das Script des Games oder die künstliche Intelligenz der Spieleengine, die eigenmächtig Entscheidungen über den Blickwinkel fällt. Entscheidungen zum Beispiel wie die Frage, ob man als Sergeant Baker gerade die Muße hat, sich die unglaublich detailverliebte Animation des Panzerfaust-Gespanns aus dem eigenen Team anzugucken. „Diese Ladeanimation findet immer statt, egal ob Baker hinguckt oder nicht“, erklärt Jeramy, „das ist eine Frage der Balance. Die Panzerfaust ist eine sehr starke Waffe, ihr Einsatz muss auch gleichzeitig ein Handicap sein, sonst stimmt das Verhältnis nicht. Ob die Kamera die Animation allerdings zeigt, also den Blick von Baker darauf lenkt, hängt davon ab, ob der gerade beschäftigt ist. Es kann passieren, muss aber nicht.“ Wie man etwas wie den Ladevorgang des Panzerfaust-Teams in „BIA:HH“ als Handicap bezeichnen kann, will uns im ersten Moment nicht in den Sinn kommen. Die Bazooka geschultert, hockt einer der Soldaten in der Deckung einer Hausecke. Sein Kamerad greift in seine Umhängetasche und holt das panzerbrechende Geschoss heraus. Lädt es von hinten in die Bazooka, klopft dem Schützen zur Freigabe kurz auf den Helm. Die Kamera zoomt auf den Lauf der Panzerfaust, „Stella“ ist dort mit Kreide draufgeschrieben, dann drückt der Schütze ab. Das Geschoss rast los, die Kamera hinterher, eine Riesenexplosion – die Demo ist vorbei. Und die Zeiten, in denen der Begriff „Realismus“ bei „Brothers In Arms“ vor allem so interpretiert wurde, dass die Angriffstaktiken des Spielers deckungsgleich sein mussten mit denen der US-Armee, offensichtlich auch. Apropos, „der Colonel“, wie er inzwischen fast schon liebevoll genannt wird, darf natürlich auch bei unserem Besuch in der Gearbox-Zentrale nicht fehlen. Erste Station der Studiotour: Antals Büro. Auf dem Programm: ein kleiner Rundgang durch seine Militär-Memorabilien. Antal bei einer Truppenübung auf einem Panzer, Antal in Kuwait, Antal als junger Offizier. Urkunden, Orden, ein Dankschreiben vom US-Präsidenten. Und ein paar Ratschläge fürs Leben. Aber irgendwas ist anders dabei. Früher war Colonel John Antal das Aushängeschild von „Brothers In Arms“, er bürgte für die Authentizität des Spiels. Heute wirkt er eher wie das Maskottchen der Serie. Scheint so, als hätte sich die „Brothers In Arms“-Serie für einen anderen als seinen Realismus entschieden. Text: Michail Hengstenberg
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von Volker Hansch / November 10th, 2006 / 1 Kommentar

1 Kommentar

  1. gnuk.gem sagt:

    Ein schöner Artikel, auch wenn, wie ich finde, der letzte Absatz die Authesität des Artikels zerstört.Hier und da noch ein paar kleine Macken, alles in allem aber Informativ und gut geschrieben.