Sieger nach Punkten

Sieger nach Punkten

Twin Galaxies sind nicht nur seit einem Vierteljahrhundert die Gralshüter der Videospiel-Highscores, sondern auch die heimlichen Erfinder des E-Sport. Wir gratulieren zum 25. Geburtstag und erzählen ihre unglaubliche Geschichte

Walter Day ist nicht einfach fasziniert von Highscores, er scheint regelrecht besessen von ihnen. Und das bereits sein halbes Leben lang. Denn der 58-Jährige ist Gründer und Leiter von Twin Galaxies, einer amerikanischen Institution, die seit einem Vierteljahrhundert Weltrekorde von Videospielen sammelt. Und sich die übermenschliche Mission auf die Fahne geschrieben hat, für alle Games mit einer Punkteanzeige, die es je gegeben hat, einen Champion zu küren. "Highscores sind sportliche Höchstleistungen. Deshalb ist es wichtig, die Punktzahlen für die Nachwelt zu erhalten", sagt Day, der Highscores so ernst nimmt wie andere Menschen Weltrekorde in der Leichtathletik. Und nichts so sehr hasst wie Cheater, die sich ihre Punkte im Spiel erschummeln. Sogar das Guinnessbuch vertraut deshalb auf Days Dienste, denn Twin Galaxies stellt seit vielen Jahren die Gaming-Höchstleistungen für den Rekordband zusammen. Dies ist seine unglaubliche Geschichte. Es beginnt alles mit einem Hobby: Bevor Day Twin Galaxies gründet, geht er einem lukrativen Job als Öl-Broker in Texas nach. Als ihn im Sommer 1981 verschiedene Geschäftsreisen quer durch die USA führen, besucht er Hunderte von den seit Ende der siebziger Jahre existierenden Videospiel-Arcades. "Ich liebte diese Spiele von der ersten Sekunde an", erinnert sich Day. "Ich war fasziniert von der benötigten Hand-Augen-Koordination und der immensen Ausdauer, die Games wie 'Space Invaders' oder 'Centipede' verlangen, deren Spiele leicht Stunden dauern können. In jeder Spielhalle hielt ich nach den Champions Ausschau, guckte mir ihre Tricks ab und schrieb ihre Punktzahlen in ein Buch." Und bewahrte so die Scores vor dem Vergessen, denn normalerweise gehen die Punkte jeden Abend mit dem Ab-schalten der Geräte verloren.

Arcade-Fieber

Im November 1981 ringt Day sich schließlich dazu durch, seinen lukrativen Job zu kündigen und eine eigene Spielhalle aufzumachen. Als Standort wählt er die verschlafene 27000-Einwohner-Stadt Ottumwa in Iowa, weil es dort noch keine Arcade gibt. In Wirklichkeit benutzt Day die Spielhalle natürlich als Ausrede, um den ganzen Tag die neuesten Automaten zocken zu können. Er tauft sein Reich "Twin Galaxies". Und ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Denn 1982 beginnen Games kommerziell richtig durchzustarten. Mitverantwortlich für den Durchbruch ist eine Titelstory im "Time Magazine". Der Artikel feiert unter anderem einen Jungen namens Steve Juraszek als Helden eines neuen Zeitalters. Denn Juraszek hatte nach 16 Stunden ununterbrochenen "Defender"-Spielens den immensen Score von 15 Millionen Punkten hingelegt. Kurz darauf klingelt bei Day das Telefon. Am Apparat ist ein 16-jähriger Jungspund namens Tony Matten, der regelmäßig bei Twin Galaxies ein- und ausgeht. Matten behauptet, den "Defender"-Rekord locker brechen zu können. Day ist zunächst skeptisch. Aber schon kurz darauf spielt Matten vor Days Augen unglaubliche 24 Stunden lang nonstop den Weltraum-Shooter, als wäre es eine seiner leichtesten Übungen. Als Juraszeks Score um mehr als 10 Millionen Punkte übertroffen ist, beendet Matten freiwillig sein Spiel. Als Day die neue Höchstpunktzahl für "Defender" publik macht, erhält er ein immenses Medienecho. Da kommt ihm eine Idee: Day kramt die Charts zu über 50 Spielen hervor, die er während seiner Geschäftsreisen gesammelt hat. Und erkundigt sich bei Spieleherstellern wie Atari, Midway oder Nintendo, wie sich die von ihm notierten Scores im Vergleich zu den ihnen bekannten Höchstpunktzahlen schlagen. Der einheilige Tenor lautet: Keine Ahnung - wir haben keinen blassen Schimmer, welche Scores auf den Geräten eigentlich möglich sind. Walter Day kündigt daraufhin selbstbewusst an, fortan ihr offizieller Highscore-Verwalter zu sein. 1982 wird diese Sammlung von Scores als "Twin Galaxies National Scoreboard" erstmals öffentlich gemacht. Und erregt enormes Feedback: Jeden Tag rufen Spieler an, geben Punktzahlen für neue Games durch oder nennen Scores, welche die alten Rekorde um ein Vielfaches übertreffen. Walter Day notiert alles, ohne zu unterscheiden, ob die einzelnen Spiele nun Meisterwerke oder totale Gurken sind. Sogar für in den dreißiger Jahren gebaute Flipperautomaten gehen Punktzahlen bei Twin Galaxies ein. Die Scoreboards erscheinen in der Folgezeit in einigen Tageszeitungen, später auch in amerikanischen, englischen und sogar italienischen Videospiel-Zeitschriften. Twin Galaxies wird immer bekannter und erhält sogar Punkte-Einsendungen aus Süd-afrika und Hongkong. Immer wieder klopfen Medien bei Day an und bieten ihm finanzielle Deals für die exklusiven Abdrucksrechte der Höchstpunktzahlen, aber er lehnt stets ab, weil diese für ihn eine zu wichtige Information für die Allgemeinheit darstellen.

Es lebe der Sport

Als selbst das "Guinness Buch der Rekorde" Twin Galaxies' Scores aufnehmen möchte, beschließt Day, noch einen draufzusetzen und die Spieler in eigenen Turnieren gegeneinander antreten zu lassen. Er bittet die besten Gamer aus North Carolina und Kalifornien zum Kräftemessen. Day war nämlich aufgefallen, dass aus diesen beiden Bundesstaaten die größte Anzahl an Highscore-Haltern stammt. Das "California Challenges North Carolina All-Star-Playoff" wird schließlich in 17 verschiedenen Spielen wie "Robotron", "Frogger" oder "Battlezone" ausgetragen. In den nächsten beiden Sommern folgen weitere Turniere und Anfang 1983 sogar die ersten "Videospiel-Weltmeisterschaften", bei der jedoch fast alle Teilnehmer aus den USA stammen. Der Bürgermeister von Ottumwa tauft das Städtchen daraufhin selbstbewusst "Videospiel-Hauptstadt der Welt" - ein Titel, den der Gouverneur von Iowa später in einer Zeremonie "offiziell bestätigt". Mit Turnieren wie diesem nimmt Twin Galaxies den E-Sport vorweg - zu einer Zeit, als niemand auch nur im Traum daran denkt, Gaming als Sport zu begreifen. Walter Day ist der erste, der Videospiel-Wettbewerbe organisiert, Mannschaften zusammenstellt und gegeneinander antreten lässt. "Ich lernte immer mehr Spieler kennen, die Lust hatten, ihr Geld durch professionelles Videospielen zu verdienen", erinnert sich Day. "Das waren superbrillante und smarte, wenn auch manchmal etwas langweilige Kids. Ich versuchte so viele Auftrittsmöglichkeiten wie möglich für sie zu finden." Doch die waren damals eher spärlich gesät. Einmal erhält Day ein Angebot, mit seinen Spielern an einer Mischung aus Zirkus-Show und Freizeitpark namens "The Electronic Circus" teilzunehmen. Der Veranstalter ködert mit der Aussicht, mehrere tausend Dollar in der Woche zu verdienen und 40 Städte der USA zu bereisen. Day willigt ein und stellt ein Team auf, zu dem unter anderem Billy Mitchell gehört, der 1999 durch die perfekte Runde "Pac-Man" weltweite Berühmtheit erlangen wird. Aber schon nach fünf Vorstellungen in Bosten ist Schluss. Die Veranstaltung stellt sich als gigantischer Flop heraus: Zwar stehen auf dem 2000 Quadratmeter großen Areal unglaubliche 500 Spielautomaten herum. Und die Gamer sollen als eine der Attraktionen des Zirkus gegeneinander antreten. Statt der erwarteten 100000 Besucher in fünf Tagen verirren sich jedoch nur 5000 Menschen in den Zirkus. "Die Spieler waren damals einfach ihrer Zeit voraus", resümiert Day. "Der heutige E-Sport funktioniert ja nur deshalb so gut, weil Sponsoren Umsummen an Geld reinstecken, um an die junge, kaufkräftige Zielgruppe zu gelangen. Das war damals einfach nicht der Fall. Es gab in der Regel auch keine Preisgelder. Wenn die Spieler irgendwo auftraten, waren sie manchmal sogar darauf angewiesen, ihr eigenes Geld in die Münzschlitze der Automaten zu stecken." 1984 muss Day nicht nur seine Pläne begraben, das erste professionelle Gaming-Team der Welt auf die Beine zu stellen, sondern auch noch einen weiteren Schicksalsschlag verkraften: "Es blieb mir nichts anderes übrig, als die Twin-Galaxies-Spielhalle zu schließen, weil durch meine Berühmtheit quasi über Nacht drei weitere Arcades in Ottumwa aufmachten", erzählt Day heute ohne Bitterkeit. "Und vier Spielhallen in einer Stadt mit nicht mal 30000 Einwohnern konnten nicht funktionieren: Wir gingen alle zusammen pleite." Doch auch ohne Spielhalle oder eigenes Gaming-Team hält er den Gedanken von Videospielen als Sport hoch: Day konzentriert sich fortan ausschließlich darauf, Highscores zu sammeln. Und das allein wird zu einem Fulltime-Job, denn Heimkonsolen wie das NES machen Gaming endgültig salonfähig, und immer mehr Scores treffen bei Day ein. Mittlerweile besteht Twin Galaxies aus einem Team von fünfzehn Leuten, die alle aus reiner Leidenschaft mitarbeiten. Denn Twin Galaxies wirft bis heute kein Geld ab. Die Betreuung der Website, die Veranstaltung von Turnieren mit kleinen Preisgeldern und letztlich Days Lebensunterhalt finanziert sich nur aus den Mieteinnahmen eines viktorianischen Landhauses aus dem 19. Jahrhundert, das sich in seinem Besitz befindet.

Regeln gegen das Cheaten

Mitte der Achtziger gestaltet sich das Sammeln von Highscores nicht nur aufgrund der schieren Menge an neuen Games als zeitaufwendig, sondern auch weil die eingesendeten Punktzahlen immer unglaubwürdiger werden. Und die Scores zu überprüfen ist eine mühselige Angelegenheit: Kids lassen sich bei Nachfragen am Telefon verleugnen oder tauchen, als Day sie zum Beweis ihrer Skills zum Vorspielen einlädt, plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht und Gips an den Händen auf. Es bleibt Day nichts anderes übrig, als offizielle Regeln aufzustellen: Alle, die einen Score bei Twin Galaxies einsenden, müssen fortan per Unterschrift einwilligen, dass sie jederzeit herausgefordert werden dürfen. Außerdem müssen die Highscorehalter im Zweifelsfall in der Lage sein, zumindest 85 Prozent ihrer Höchstpunktzahl vor Zeugen zu wiederholen. Damit Highscores weniger vom körperlichen Durchhaltevermögen und mehr von der spielerischen Technik abhängen, ist es außerdem Pflicht, immer den höchsten Schwierigkeitsgrad zu wählen. Ferner dürfen keinerlei Fehler, die im Spiel stecken, ausgenutzt werden. Jedes Game soll so gespielt werden, wie es von seinen Entwicklern gedacht ist. Diese strikten Regeln machen die Twin Galaxies heute noch so wertvoll. Denn eigentlich könnte man denken, dass die derzeitige Gaming-Welt keinen Walter Day mehr benötigt: Viele Spiele erzählen anstelle eines punktebasierten Gameplays Geschichten, die der Spieler von Anfang bis zum Ende erlebt und danach das Game zur Seite legt. Und die aktuellen Bastionen Highscore-basierten Gameplays wie die Xbox Live Aracde führen automatisch über ihre Höchstpunktzahlen Buch. So zeigt einem zum Beispiel der Xbox-360-Shooter "Geometry Wars" sofort nach jeder Partie, wie sich die eigene Leistung im internationalen Vergleich schlägt. "Die Xbox Live Arcade ist wundervoll", gibt auch Day zu, "weil sie ein Bewusstsein für die Klassiker von damals schafft und mitverantwortlich für die aktuelle Renaissance der Arcade-Spiele ist. Aber fast jedes Spiel hat Fehler und Lücken, die sich durch das Internet viel schneller rumsprechen als früher und gnadenlos ausgenutzt werden. Deshalb authentifizieren wir unsere Scores mittlerweile per Videobeweis, bei dem unsere Schiedsrichter die Aufnahmen Bild für Bild überprüfen, um herauszufinden, ob jemand schummelt." So erreicht Walter Day mit Twin Galaxies etwas, das für den Highscorejunkie das Größte an seinen geliebten Rekorden ist: Zeitlosigkeit. "Wenn ein Spiel mit den von uns empfohlenen Regeln gespielt wird, kann jemand in einem ganz anderen Teil der Welt 50 Jahre später versuchen, gegen die Bestleistung anzutreten. So wird ein Highscore über Raum und Zeit vergleichbar. Einige Spiele erlauben das heute leider nicht: Bei einem Ego-shooter etwa weiß kein Spieler, wie gut er wirklich ist. Wenn Fatal1ty, der zwölffache E-Sport-Weltmeister und derzeit beste ‚Quake‘-S.pieler, bei einem Turnier alle anderen Spieler erledigt, wird er zum Sieger gekrönt. Aber der Champion, der in zehn Jahren seine Position einnimmt, wird nie wissen, ob er besser oder schlechter als Fatal1ty spielt. Bei Games mit Highscores ist dies möglich." Dank Twin Galaxies.

Dauerfeuer Sechs Gamer versuchen 100 Stunden lang nonstop ein Videospiel zu spielen. Ein Contest wie kein anderer

Als berüchtigtstes Ereignis in der Geschichte von Twin Galaxies gilt der Iron-Man-Wettbewerb, der am 5. Juli 1985 in Victoria in Kanada stattfand. Hier finden sowohl die ganz eigene Poesie als auch der Irrsinn der Highscore-Wettkämpfe ihren endgültigen Höhepunkt. Die Prämisse vom Iron Man klingt simpel: Wer es schafft, ein Spiel über 100 Stunden am Laufen zu halten, erhält 10000 Dollar. Während heute selbst epische Rollenspiele nach dieser Zeit ihren Abspann zeigen, ermöglichen die Klassiker eine solche Spieldauer, weil sie in der Regel kein Ende besitzen und einfach unendlich fortlaufen. Sechs Spieler gehen an diesem Tag beim Iron Man an den Start. Nach sieben Stunden bricht als erstes ein spontan dazugestoßener japanischer Teenager ab, der "Ms. Pac-Man" spielt. Seine Großmutter und seine Schwester flehen ihn aus Besorgnis um seine Gesundheit weinend an aufzuhören, schließlich gibt er nach. 17 Stunden später scheidet Tom Asaki aufgrund eines Fehlers des "Nibbler"-Automaten aus: Wer mehr als 127 Leben im Spiel sammelt, verliert sie alle. Bis auf das Leben, das er gerade spielt. Asaki hat dies nach einem Tag Zocken nicht mehr auf der Rechnung. Als der Fehler auftritt, ist er derart geschockt, dass der Bildschirm innerhalb von nur wenigen Sekunden "Game Over" zeigt. Besser läuft es für Billy Mitchell an "Centipede". Obwohl er unter erschwerten Bedingungen kämpft: Da Automaten keine Pausentaste besitzen, bleibt den Spielern, wenn sie auf Klo müssen, nämlich nichts anderes übrig, als das Game weiterlaufen zu lassen und ein Leben nach dem anderen zu verlieren. Während die anderen Games es aber erlauben, sich ein Polster an Extraleben für die Pinkelpause zuzulegen, lässt "Centipede" nur eine Ma-ximalanzahl von sechs Leben zu. Als Mitchell sein Geschäft erledigen muss, bleibt ihm also nichts anderes übrig, als den kompletten Spielautomaten mit aufs stille Örtchen zu schieben. Mitchell scheint dies nichts auszumachen. Nach 39 Stunden scheidet er trotzdem aus: Der Trackball von "Centipede" erleidet aufgrund des Schweißes an Mitchells Händen eine Fehlfunktion. Das Spiel geht in eine Warteschleife. Laut Reglement hätte Mitchell nach einer Reparatur eigentlich weiterspielen dürfen. Doch als Stunden später der Trackball wieder funktioniert, schläft Mitchell bereits tief und fest. Nach 45 Stunden verliert dann Mark Bersabe sein letztes Leben bei "Asteroids". Und bei 50 Stunden erleidet Jeff Peters beim Spielen von "Q*Bert" einen Kreislaufkollaps. Obwohl er es sich am gemütlichsten von allen gemacht hat: Peters saß beim Spielen in einem Sessel und spielte mit dem aus dem Automaten ausgebauten Steuerpanel auf seinem Schoß. Am längsten hält der 18-jährige James Vollandt durch. Anfangs sieht es nicht danach aus, denn in den ersten Stunden des Wettbewerbs nickt er beim Spielen für eine Viertelstunde ein. Als er wieder aufwacht, hat sich seine Anzahl von Leben bereits von 100 auf 40 verringert. Damit dies nicht wieder passiert, beginnt Vollandt sich ab Stunde 60 Eisspray ins Gesicht zu spritzen. Nach 67, 5 Stunden gibt er beim Stand von sechs Leben trotzdem auf. Sein "Joust"-Score von 107.216.700 Punkten gilt bis heute als unerreicht. Das Preisgeld kann Vollandt sich trotzdem abschminken, weil er nicht über 100 Stunden durchgehalten hat. Text: Heiko Gogolin, Fotos: Walter Day, Enrico Ferorelli
Tags: , , , , , ,
von Volker Hansch / Juli 10th, 2007 /

Comments are closed.