Der Weg ist das Spiel

Der Weg ist das Spiel

Das Navigationssystem GPS steuert Schiffe über die Weltmeere und Raketen ins Ziel – jetzt nutzen immer mehr Spiele-Entwickler die Technik für „Location Based Games“. Ein neues Genre entsteht. Es könnte unseren Blick auf die Welt um uns herum völlig verändern Wie ein kleiner Geheimagent bin ich mir vorgekommen, als ich das erste Mal ‚Fast Foot Challenge‘ gespielt habe“, schwärmt Benjamin Zahn, der an einem Lkw in Berlin Spandau steht. Neben ihm streifen sich der lokal bekannte Rapper Crazy H. und seine Crew gerade T-Shirts über, auf denen ein großer, stilisierter Fuß zu sehen ist – das Logo des Spiels. Zahn, der inzwischen das Marketing für „Fast Foot Challenge“ macht, übergibt der Gruppe Handys und GPS-Empfänger – denn die brauchen sie, um am Spiel teilzunehmen: Das Handygame verwandelt die Stadt um sie herum in das Spielfeld eines virtuellen Räuber-und-Gendarm-Spiels. Die Aufgabe des Rappers und seiner Leute wird es sein, „Mr. X“ zu fangen. Der wurde zuvor aus dem Publikum gewählt und ist bereits seit fünf Minuten auf der Flucht, ebenfalls ausgerüstet mit Handy und GPS-Empfänger. Eine Minute darauf ist seine Position das erste Mal auf den Displays der Verfolger zu sehen. Das ist das Startsignal: Die Gruppe teilt sich auf und läuft in verschiedene Richtungen. Sie will X einkesseln. Im Umkreis von einem Kilometer um den Startpunkt herum dürfen sich X und die Verfolger bewegen. Auf dem Display wird dabei nicht etwa eine Straßenkarte gezeigt, sondern nur ein grauer Kreis, in dem die Positionen der Spieler mit Pfeilen markiert sind. X sieht die Pfeile seiner Häscher ständig, seine eigene Position jedoch wird auf den Displays der Verfolger nur alle sechs Minuten aktualisiert – ein bisschen wie im Brettspielklassiker „Scotland Yard“, nur viel direkter, schweißtreibender, echter: „Man muss sich nicht erst in eine Figur hineindenken wie in einem Videogame, sondern ist sofort mit dem ganzen Körper Teil des Spiels“, sagt Tom Nicolai, der mit einem Studienkollegen seit drei Jahren an „Fast Foot Challenge“ arbeitet.

Standort-bestimmung

Möglich wird sein Spiel durch das Global Positioning System, kurz GPS, das mithilfe von mehr als 20 Weltraumsatelliten und einem entsprechenden Empfänger fast überall auf der Welt eine genaue Position bestimmen und die Route zu anderen Positionen berechnen kann. Die Idee, diese ursprünglich für das US-Militär entwickelte Technik spielerisch zu nutzen, kam auf, kurz nachdem im Jahr 2000 die künstliche Signalverzerrung des Systems abgeschaltet wurde und sich die Genauigkeit dadurch von 100 Metern auf zehn Meter verbessert hatte. Da versteckte der Amerikaner Dave Ulmer eine schwarze Plastikkiste und stellte die Koordinaten ins Internet, damit andere sie finden konnten. Neben ein bisschen Geld, Büchern und CDs enthielt seine Kiste ein Logbuch, in das sich die Finder eintragen sollten: „Geocashing“ war geboren, die GPS-Schatzsuche. Jeder, der einen GPS-Empfänger hat, kann sich seitdem selbst auf die Suche nach solchen Verstecken begeben. Die ganze Welt wird so zur Spielumgebung; sogar in der Antarktis gibt es versteckte Schätze. Mehr als 800000 davon sind heute weltweit zu finden, 312 allein in der Umgebung der GEE-Redaktion. Größe und Inhalt variieren, manche Schätze sind erst durch das Lösen von Rätseln zu entdecken. Oft wird auch eine Kamera in der Kiste deponiert, damit die Finder ein Foto von sich machen können, bevor sie die Kiste wieder verstecken. Die Welt zum Spielfeld machen: Das will auch das bereits 2005 erschienende Gratis-Handygame „GPS:Tron“. Es stellt die Laufwege der Spieler auf dem Display als farbige Linien dar. Das Ziel des Spiels: Wie die Spuren der futuristischen Motorräder aus dem Film „Tron“ dürfen sich die Linien niemals kreuzen, die Spieler müssen sich also dementsprechend in ihrer Umgebung bewegen. 200 Meter Weg entsprechen circa einem Zentimeter Linie auf dem Bildschirm. Der Clou: Die Spieler brauchen sich nicht am gleichen Ort zu befinden, nicht einmal auf demselben Kontinent. Einer könnte in Moskau eine Linie ziehen und der andere in Lübeck herumlaufen – durch die Darstellung beider Linien auf demselben virtuellen Spielfeld wird daraus ein Game. Ein weiterer Pionier dieser Spielform ist der Amerikaner Jeremy Woods. Der fuhr bereits vor fünf Jahren mit seinem Wagen so planmäßig durch die Straßen von Hollywood, dass die Aufzeichnung seines GPS-Empfängers ein knapp 24 Quadratkilometer großes „Tic Tac Toe“-Spielfeld ergab. Dann fuhr er mit einem Freund abwechselnd so durch Los Angeles, dass sie in der Aufzeichnung Kreuze und Kreise hinterließen. Spiele wie diese funktionieren überall auf der Welt, andere werden für einen bestimmten Ort entwickelt. Eines der ersten deutschen „Location Based Games“ war „REXplorer“ (2007), das seine Spieler mit einem speziellen Multimedia-Controller auf eine Entdeckungsreise durch Regensburg schickte – und zwar mit Bildungsauftrag: „Wie bringt man jemanden, der keine Lust auf Stadtführungen hat, dazu, doch eine zu machen?“, lautete die Frage, die sich Game-Design-Forscher Steffen P. Walz gestellt hatte. Seine Antwort: „nur mit spielerischen Mitteln“. An bestimmten Stellen der Stadt meldete sich also der Controller zu Wort, stellte ortsbezogene Aufgaben oder gab Hintergrund-informationen. „REXplorer“ erzählte eine märchenhafte Geschichte über die „immerwährende Magie“ Regensburgs und war damit sehr erfolgreich: „Weil die Stadtführung in Gestalt eines Spiels daherkam, hat es den Teilnehmern plötzlich Spaß gemacht“, sagt Walz. Ein ähnliches Projekt läuft derzeit in Weimar: In „Annas Geheimnis“ führt ein im Handy gefangener Geist – der von innen an die Scheibe klopft, wenn er etwas zu sagen hat – die Spieler mit einer Rätselgeschichte durch den örtlichen Ilmpark. Das „Geocaching“ wird so durch eine Story, Aufgaben und Multimedia ergänzt, und die ganze Stadt wird zum Schatz, den die Spieler für sich entdecken.

Angereicherte Wirklichkeit

Form und Inhalt der erhältlichen „Location Based Games“ sind völlig unterschiedlich, doch das Prinzip dahinter ist stets dasselbe: Die Realität wird durch virtuelle Zusätze überlagert, durch Fakten, Bilder oder Hinweise, die nur mit der passenden Ausrüstung zu sehen sind. So entsteht eine zweite Ebene, die Außenstehenden verborgen bleibt: Für jene mit der richtigen Hard- und Software wird zum Beispiel die Wiese im Stadtpark zu einem riesigen Irrgarten, dessen Mauern nur auf dem Display zu sehen sind – andere sehen dort nur Gras und Bäume. Moderne GPS-Navigationsgeräte haben simple Spiele dieser Art vielfach schon eingebaut. Und durch die zunehmende Verbreitung von leistungsfähigen Mobiltelefonen mit GPS-Empfänger gibt es immer mehr Menschen, die diese Ebenen sehen und mit ihnen spielen können. Zu entdecken gibt es einiges: Bei „Tourality“, einem kostenlosen Spiel, das für viele Handymodelle verfügbar ist, geht es zum Beispiel um Schnelligkeit. Das Ziel: Vorgegebene Orte müssen in einer bestimmten Reihenfolge abgelaufen werden. Allein, im Team oder gegeneinander und von bis zu 40 Teilnehmern gleichzeitig. Die jeweiligen Kurse werden von den Spielern auf einer Webseite erstellt. Auch das Spiel „GPS Mission“ setzt auf Inhalte von Usern. Die legen auf einer Landkarte im Internet die Wegpunkte einer Mission fest, verknüpfen Orte mit Rätseln, verteilen haufenweise imaginäres Gold in den Straßen und setzen Fotospots. Dort müssen die Spieler später ein Foto machen und es auf die Webseite hochladen. Gold sammeln sie ein, indem sie die Plätze besuchen, auf denen es in der Karte eingezeichnet worden ist, und bei Rätselfragen zeigt „GPS Mission“ den nächsten Wegpunkt erst an, wenn die Spieler die Lösung ins Handy getippt haben. Eine Gefahr sind bei solchen Spielen noch die Kosten. Der Empfang des GPS-Signals ist zwar gratis, aber um mit dem Spiele-server Daten auszutauschen, ist eine Internetverbindung nötig wie bei jedem anderen Onlinespiel auch. Und genau das kann teuer werden. „Bis zu zehn Euro kann eine Runde ‚Fast Foot Challenge‘ kosten“, warnt Entwickler Tom Nicolai. Doch solche Kostenfallen könnten schon bald der Vergangenheit angehören, schließlich werden auch hierzulande Datenflatrates wie beim iPhone oder dem Blackberry immer gängiger. „Wenn diese Einstiegshürden wegfallen, werden GPS-Games ihren Durchbruch erleben“, prognostiziert Klemens Zleptnig von „Tourality“. Dann wäre die Zeit endlich reif für sogar noch komplexere Spiele als „Mobile Dead“, das es derzeit nur für den Blackberry gibt. Der mobile Tod schickt seine Spieler als High-Tech-Zombies durch Manhattan. Genauer: Es zeigt sie entsprechend ihrer realen Position in Manhattan auf dem Display als kleine Männchen an. Auf einer echten Karte von Manhattan und nahezu in Echtzeit. Zusätzlich sind auf der Map Waffen und Medi-Packs eingezeichnet, die der Spieler aufsammeln kann, indem er sich real an ihren Lagerplatz begibt. Treffen sich zwei Spieler, tragen sie einen rundenbasierten Kampf aus, tauschen Gegenstände oder bookmarken sich als Freund. „Mobile Dead“ nutzt zur genaueren Standortbestimmung nicht nur GPS, sondern auch die Funkzellen des Mobilfunknetzes. Zudem läuft das Spiel ohne Pause, und so kann es passieren, dass die Spieler auch auf ihren alltäglichen Wegen durch die Stadt versteckte Gegenstände oder Goodies wie virtuelle Sammelaufkleber finden. Noch vor ein paar Jahren wäre ein so aufwendiges Spiel unmöglich gewesen: 2004, als sich einige New Yorker als Pac-Mans und Geister verkleideten, um sich in „Pac Manhattan“ durch die Stadt zu jagen, mussten sie ihre jeweiligen Positionen noch mündlich per Handy an ihre Mitspieler durchgeben. Beim Einkaufen aus Versehen über Schätze zu stolpern oder auf dem Campus plötzlich virtuell „angegriffen“ zu werden: Dieses Immer-im-Spiel-Sein könnte den „Location Based Games“ zum Durchbuch verhelfen. „Eine ganz normale Tätigkeit mit einem Spiel zu verknüpfen ist der Schlüssel zum Massenmarkt“, sagt „REXplorer“-Erfinder Steffen P. Walz, „die Spiele müssen den Alltag begleiten.“ Oder sogar bereichern, wie das amerikanische iPhone-Spiel „Gowalla“, das lustige Abzeichen verleiht, wenn der Spieler Sehenswürdigkeiten besucht.

Die beste Grafik der Welt

Trotz der rasanten Entwicklung der vergangenen Jahre steht das Genre jedoch erst am Anfang, und das nicht nur technisch: „Derzeit sind es eher technikaffine Leute, die solche Games spielen“, sagt Walz – Studenten, Großstädter und neugierige Nerds. „Die meisten Leute fühlen sich nicht besonders wohl, wenn sie in der Öffentlichkeit, etwas Ungewöhnliches tun“, sagt der Entwickler – und wer auf ein Handy starrend wild durch die Gegend rennt, fällt natürlich immer auf. „So etwas funktioniert in Gruppen gut, weil man sich da nicht allein zum Affen macht.“ Und zwar so gut, dass es mit „The Go Game“ in den USA sogar einen Anbieter gibt, der solche Gruppenspiele für Events, Konferenzen oder zur Stärkung des Teamgeistes in Unternehmen ausrichtet – für 10 bis 10000 Spieler. Welche Spielideen sich durchsetzen werden, wird sich zeigen. Die besten und originellsten wurden bisher bestimmt noch nicht einmal erfunden. Und das ist eine wunderbare Vorstellung: Niemand weiß, was kommt – nur dass wir irgendwann die Möglichkeit haben werden, mit der besten Grafik zu spielen, die es gibt: mit der echten Welt da draußen. Kaum vorstellbar, dass die kommenden Versionen von Handhelds wie Nintendos DS oder Sonys PSP ohne integriertes GPS erscheinen werden. Mit dem separat erhältlichen GPS-Modul für die aktuelle PSP machen einige Games schon heute erste Gehversuche: Der „GPS Scan“-Modus von „Metal Gear Solid: Portable Ops“ zum Beispiel platziert einen imaginären Gegner in der Umgebung des Spielers. Auf dem bläulichen Display erscheint er nur als Punkt – und um den zu gewinnen, muss sich der Spieler der angezeigten Position nähern, so weit es geht. Wenn er Glück hat, wartet sein „Gegner“ nicht auf dem Dach eines Hochhauses, sondern an einer leichter zu erreichenden Stelle. Auf einem Weg dahin begleitet ihn das monotone Piepsen der PSP. Sie hetzt ihn, sie lässt sein Herz schlagen. Der Spieler wird zu James Bond auf geheimer Mission. Er ist mit seinem Körper im Spiel und doch jemand anderes. Er läuft durch seine Stadt, wie er sie kennt – aber noch nie war sie aufregender. In Berlin Spandau ist die Jagd nach Mr. X gerade zu Ende gegangen, und Crazy H. und Crew fühlen sich überhaupt nicht wie Geheimagenten. Der Flüchtige ist ihnen immer wieder entwischt. Und die Zuschauer am Truck haben alles live mitverfolgt. Denn alle „Fast Foot Challenge“-Spiele werden mit Google Earth optisch aufbereitet und im Netz übertragen. Zermürbt trotten die Rapper zurück zum Treffpunkt. Das hatten sie sich natürlich anders vorgestellt. Breit grinsend erscheint jetzt Mr. X. Auf einem Fahrrad. Lässig posiert er mit seiner Sonnenbrille für den Fotografen und erzählt: „Erst habe ich mich von einem Motorradfahrer mitnehmen lassen, dann bin ich mit dem Bus weiter, und dann habe ich mir das Fahrrad einer Freundin ausgeliehen.“ Er hat den Radius des Spielfelds komplett ausgenutzt, die Verfolger abgehängt und lässt sich nun feiern. „Das gibt richtig Adrenalin“, sagt er, „manchmal sind sie mir ziemlich nahe gekommen.“ Dann braucht er erst einmal eine Pause, denn bald fängt schon das nächste Spiel an, und da will Mr. X wieder mitmachen – als Jäger und nicht als Gejagter.
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von Chris Rotllan / August 25th, 2009 /

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