Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Vor dreißig Jahren hat Sven Stillich Zeitungen ausgetragen, um sich einen C64 kaufen zu können, heute schreibt er sie voll. Er ist Journalist, Buchautor und Textchef von GEE. Und unser Kolumnist. Dieses Mal schreibt er über: Spielrunden Keine Munition mehr. Klick. Nachgeladen in sicherer Deckung. Jetzt ist der Gegner an der Reihe, der am Ende des Ganges vor mir steht. Er macht genau einen Schritt auf mich zu. Jetzt ich wieder. Ich klicke auf eine Aktionskarte in meinem Interface und habe nun zwei Züge. Der erste: Ich springe geschickt über die Kiste, hinter der ich gekauert habe. Der zweite: Ich visiere meinen Widersacher an, schieße – und treffe. Der Gegner sackt in sich zusammen. Oder eine andere Szene: Hastig verteile ich meine Armeen auf dem planetengroßen Schlachtfeld. Schon ist der Gegner da, er ist überall, und er wirft alles in den Kampf, was er hat. Alles passiert nun gleichzeitig, auf der Süd- und auf der Nordhalbkugel, bei Tag und bei Nacht trifft Metall auf Metall, Rüstungen platzen, Funken stieben, ich baue eine Kirche, ich errichte einen Marktplatz und eine Kaserne, und ich trainiere Soldaten, und ich weiß nicht, was auf der anderen Seite des Planeten gerade geschieht, aber ich hoffe, dass alles gut ausgeht, und ich denke nicht mehr, ich bin reinste Aktion – doch seine Städte fallen nicht. Noch nicht. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Alles ist eine Frage der Zeit. Und die ist in Computer- und Videospielen seit Jahrzehnten rigide strukturiert. Entweder wir spielen mit ihr im Fluss, im steten Jetzt. Dafür wurde das schöne Wort „Echtzeit“ erfunden. Oder wir spielen ein digital aufgemotztes Brettspiel, immer fein hintereinander: Spieler, Computer, Spieler, Computer. „Rundenbasiert“ heißt das dann – und für viele Gamer ist das gleichbedeutend mit „gähnend langweilig“: keine Action, viel zu viel Zeit zum Nachdenken, ein viel zu großer Abstand zwischen Reiz und Reaktion. Rollenspiele von Bioware versuchen diese Zweiteilung bereits aufzuweichen: Ihre Spiele wie „Knights Of The Old Republic“ oder „Mass Effect“ präsentieren in einem Genre, in dem traditionell rundenbasierte Kampfsysteme verwendet werden, eine Mischung aus Action und Nachdenken, in dem der Spieler die in Echtzeit ablaufenden Ausein-andersetzungen zwischendurch anhalten kann. Diese neue Mischung ist nicht zuletzt aus kommerziellen Interessen entstanden, um die hoch komplexen, epischen Spiele einer breiten Masse zugänglich zu machen („episch“ ist übrigens vom Gattungsbegriff in den vergangenen Jahrzehnten in Spielkritiken auch zu einem Zeitbegriff geworden und meint heute schlicht „von langer Dauer“). Wäre es nicht spannend, diese Zeitgrenzen – vielleicht auch nur als bloßes Gedankenspiel – noch weiter aufzubrechen und die Runden-Spielmechanik auf andere Genres anzuwenden? Wie würde es sich zum Beispiel anfühlen, einen rundenbasierten Egoshooter zu spielen wie in der Einstiegsszene zu dieser Kolumne? Was würde das ändern? Klar, die Hektik wäre weg, all das schnelle Waffenwechseln und Nachladen und Anvisieren und Abdrücken, der ganze WASD-Rausch. Und auch die Angst würde verschwinden, potenziell jede Sekunde von einem Gegner aus dem Hinterhalt abgeknallt werden zu können. Aber halt: Wären unsere Hände wirklich trockener? Und hätten wir wirklich weniger Angst? Hätten wir zudem weniger das Gefühl, unsere Handlungen bewegten die Welt (denn um nichts anderes geht es ja in den meisten Egoshootern)? Ich denke nein. Geschickt gemacht, wäre ein Scharfschütze auch in einem rundenbasierten Shooter eine stetig lauernde Bedrohung – gerade weil die namensgebende Perspektive (das „Ego“) sich nicht ändern würde, hätten Gegner immer noch Orte zum Verstecken und Lauern. Das Ego schränkt unsere Sicht ein, wie immer. Wir wüssten demnach auch weiterhin nicht, was hinter uns geschieht. Wie würde sich das Spielgefühl ändern, wenn uns „Umdrehen“ eine Runde kosten würde? Auch bei anderen Genres wäre es interessant, die Echtzeit durch Runden zu ersetzen. Ein Fußballspiel wie „Fifa“ oder „PES“ wäre nicht nur noch taktischer geprägt, wir könnten endlich alle elf Spieler in einem Match bewegen und wären noch dichter am Fußball dran, weil wir uns überlegen müssten, was jeder einzelne Spieler in diesem bestimmten Moment machen würde. Nicht nur der ballführende Spieler und vielleicht ein Stoßstürmer, dem wir den Ball zupassen, wären uns unterstellt, wir würden die ganze Mannschaft kontrollieren. Die Runde muss ins Eckige, wie bei einem Elf-gegen-elf-„Tipp-Kick“. Oder nehmen wir Games wie „Alan Wake“ oder „Resident Evil“. Wäre denn nicht mal Zeit für eine Runde Horror? Interessant wäre auch, wie sich „Tekken“ oder „GTA“ spielen würden. Sicher ist: Der Zeitwechsel würde auch hier die taktisch-strategischen Anteile heraus-kitzeln. Denn unter uns: Videospiele sind ja durch ein rundenbasiertes Spiel erst groß geworden. „Pong“ ist schließlich genau das; da endet die Runde, wenn der Ball auf den Schläger getroffen ist. So viel würde sich also ändern, nur weil jemand an der Uhr gedreht hat. Und umgekehrt? Umgekehrt gibt es das natürlich: Aus rundenbasierten Strategiespielen wurden Echtzeitstrategiespiele mit ihrer eigenen Art Zeitfluss. Von denen könn-ten die Rundenshooter eine Menge lernen – zum Beispiel, wie man Action in ein Spiel hineinbringt. Durch verkürzte Rundenzeiten, zum Beispiel. Wie wäre es, wenn wir nur zehn Sekunden zum Überlegen hätten? Oder nur fünf? Genau so viel, um die Echtzeit ein wenig zu fragmentieren? Vielleicht wären diese Spiele unspielbar, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls, diese Prognose sei gewagt, würden wir eines in diesem Experiment herausfinden: dass „Echtzeit“ eine Illusion ist. Dass wir die ganze Zeit nichts anderes machen, als die Spielzeit in winzige Einheiten zu zerhacken. In diesen treffen wir dann unsere Entscheidungen, eine nach der anderen. Bis am Ende des Spiels eine runde Sache daraus geworden ist.
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von Chris Rotllan / Februar 4th, 2011 /

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