Faulheit und Nostalgie: Das Passivspielen

Das hätte es früher nicht gegeben. Während einige nebenbei wütende Vögel aufeinander losgehen lassen oder ihre Farm pflegen, frönen andere täglich einer heimlichen Leidenschaft – dem Abtauchen in die eigene Spielervergangenheit.

Der Wikinger steht mit Frau und Kind vor seiner Hütte und stellt sich vor. „My name is Erik the swift. I can run like the wind and leap tall huts in a single bound.“ Natürlich stehen diese Fähigkeiten nur als Blockbuchstaben in einer Sprechblase. Mit Sprachausgabe war’s noch nicht viel im Jahre 1993 auf dem Commodore Amiga, dafür bumpert eine wenig wikingerhafte Musik zu den zackig wackelnden Pixelhelden. Heute würden in einem Dorf aus nordischer Vorzeit Orchesterklänge ertönen. Damals dudelte der Sound unserer Kindheit durch die Monitorboxen, die sogenannten Chiptunes. Es wäre nun durchaus anspruchsvoll, das Spiel The Lost Vikings nach all der Zeit noch mal zu zocken. Inspiriert von Lemmings musste man die Fähigkeiten der drei Wikinger darin in einer Mischung aus Jump’n’Run und vorausschauendem Puzzle kombinieren. Wie die meisten Titel aus dieser Zeit hatte der Schwierigkeitsgrad es in sich. Aber das macht nichts, denn der „Spieler“, von dem hier die Rede ist, spielt gerade gar nicht. Er schaut sich auf YouTube einen „Full Walkthrough“ von Lost Vikings, einem von vielen Anbietern, die das Videoportal nutzen, um eine Leidenschaft zu befriedigen, die vor allem unter älteren Gamern um sich greift: Das Passivspielen.

Während das Passivrauchen selbst für Niktonsüchtige eher unangenehm und unbefriedigend ist, scheint das Passivspielen dem erwachsenen Menschen, der längst mitten im Berufsleben steht, eine wohlige Alternative zu sein. Statt sich heimlich ein Browsergame zu öffnen, klappen überall in Deutschlands Bürostuben die Videofenster auf und lassen nebenher oder zwischendurch die Kindheit wieder aufleben. Denn darum geht es bei der gepflegten Berieselung mit gemächlich abgefilmten Durchläufen oder gar fehlerfreien „Perfect Runs“ zehn, zwanzig oder dreißig Jahre alter Titel – sie regen die Gefühle und Erinnerungen eines Lebensabschnitts an, in dem man sich noch nicht auf Abruf um die Bedürfnisse des blöden Chefs oder der anstrengenden Kunden zu kümmern und nach Feierband die Kinder zu ihren Kursen in Mandarin, Violine und Nano Engineering zu bringen hatte, damit sie zukunftsfähig werden. Es geht um das komplette Gegenteil von Zukunftsfähigkeit überhaupt, um die so tröstende Ausflucht in die Epoche des eigenen Jugendzimmers, in dem man die schwerstmöglichen Herausforderungen bestand, während Mutter das Essen zubereitete, Vater draußen das Garagentor reparierte und die Oma jeden Sonntag dem regulären Taschengeld noch einen Zuschuss unter der Kaffeetafel hinterherschob. Während „Walkthroughs“ aktueller Titel eher dazu dienen, aus Neugierde oder Verzweiflung zu spoilern, geht’s bei den Tonnen nostalgischen Materials darum, eine Zeitreise zu machen. Man fühlt, hört und riecht sein altes Leben, während fremde Menschen wie ScHlAuChi spielt Turrican 2 komplett durch … etwa, das einem selbst damals, wenn man ganz ehrlich ist, nie zu hundert Prozent gelang. Das ist der zweite große Reiz des Passivspielens: Man sieht zwei Jahrzehnte später endlich Gebiete, Levels und Schlussszenen, zu denen man sich damals nicht vorgekämpft hatte. Es fühlt sich an, als würde man endlich, endlich mit einem Kapitel abschließen können, als hätte man nach einem halben Leben die tausend Seiten von Tolstoi wirklich durch.

Ein Aufruf, liebe Freunde des verstohlen konsumierten Passivspiels: Kramt Eure alten Geräte vom Dachboden oder besorgt sie euch neu. Zieht los und legt Scheine auf die Tische von Trödelmärkten oder Retromessen. Verkabelt Amigas, Super Nintendos, Mega Drives oder Master Systems mit Röhrenfernsehern und stellt Originalspiele in Originalkartons in das schwarze Billy-Regal daneben. Richtet euch ein Zeitreisezimmer ein. Das ist schließlich auch das Gute am Erwachsengewordensein. Heute könnt ihr euch das einfach leisten. Und gegen das Gefühl, ein Turrican 2, ein Lost Vikings oder gar ein Secret Of Evermore 24, 23 oder 19 Jahre nach Erscheinen nicht passiv, sondern aktiv selber bis zum letzten Screen durchgespielt zu haben, kommt keine YouTube-Mittagspause der Welt an. Und die Werbung für Landliebe-Joghurt wird dann ebenfalls nicht vor den Wikingern eingeblendet …
von Volker Hansch / Juni 17th, 2015 /

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