Auf eigene Faust

Auf eigene Faust

Riesenbudgets, Riesenteams, Riesenerfolgsdruck – wirtschaftliche Zwänge lähmen die Spielebranche. Doch im Untergrund brodelt es: Eine Independent-Entwicklerszene produziert mit wenig Geld und viel Kreativität neue Ideen. Kann sie das Videospiel vor seinem eigenen Erfolg retten?

Vor gar nicht allzu langer Zeit war Computerspielentwicklung wie digitales Heimwerken. Es war die Zeit der "Schlafzimmer-Programmierer": Das Ehepaar Roberta und Ken Williams erfand mit dem nach Feierabend gebastelten "Mystery House" das Grafik-Adventure, die Schüler Philip und Andrew Oliver programmierten nach den Hausaufgaben den Jump'n'Run-Klassiker "Dizzy", und das Softwareunternehmen Codemasters wurde von den britischen Teenagern Richard und David Darling gegründet, die ihre Games noch eigenhändig mit selbst gemalten Covern beklebten. Um Spiele zu entwickeln, brauchten sie einen Heimcomputer, Zeit und vor allem gute Ideen. Geld spielte kaum eine Rolle. Viel hat sich seither geändert. Aus dem Kinderspielzeug Videospiel ist ein Massengut geworden, und die Schlafzimmerentwickler sind einer Industrie mit Milliardenumsätzen gewichen. Nie hätten die Oliver-Zwillinge 1982 in ihrem Kinderzimmer auch nur geahnt, dass ein Vierteljahrhundert später Teams von mehr als hundert Mitarbeitern an einem Spiel arbeiten und die Produktionskosten im zweistelligen Millionenbereich liegen würden. Hätten sie ihre selbst gebastelten Spielchen an der Technik aktueller Titel wie "Crysis" messen müssen - sie wären wohl vor Scham im Boden versunken. Und doch hatten sie etwas, das der heutigen Spieleindustrie immer mehr abhanden kommt: kreative Freiheit.

Volle Konten, leere Köpfe

Nie wurde so viel Geld in die Entwicklung und Vermarktung von Games investiert wie heute: "Crysis" verschluckte 16 Millionen Euro, "Halo 3" 40 Millionen Dollar, und bei "Killzone 2" wird von bis zu 60 Millionen Dollar gesprochen, obwohl die Produktion noch gar nicht abgeschlossen ist. Das sind gewaltige Investitionen, die sich aber lohnen können: So spielte etwa "Halo 3" alleine in der ersten Woche 300 Millionen Dollar ein. Doch längst nicht jeder Titel wird ein "Halo". Und während die Pioniere sich nach einem Misserfolg über die verlorene Zeit geärgert und einen neuen Versuch gestartet oder sich ein anderes Hobby gesucht hätten, kann heute ein kommerzieller Misserfolg den finanziellen Ruin eines ganzen Unternehmens bedeuten. Die Reaktionen auf diese wachsenden Planungsrisiken sind unübersehbar: "Need For Speed 12". "Final Fantasy 13". "FIFA 2009". Es wird fortgeführt, was sich als gut verkäuflich bewährt hat - ob als offizielle Fortsetzung oder als Klon eines anderen Topsellers, dessen Spielprinzip, Setting oder Erzählung abgekupfert werden. Oder die Branche sucht ihr Glück in Lizenzprodukten und produziert Spielumsetzungen erfolgreicher Filme, Fernsehsendungen oder Comics. Die horrenden Budgets zwingen zum Konservatismus. Denn eine Spielidee mag noch so innovativ und anders sein - wer garantiert den Investoren, dass die zahlenden Kunden überhaupt etwas Anderes, Innovatives haben wollen? Die Situation erinnert an die wirtschaftliche Zwickmühle, in die der Hollywoodfilm schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Aufkommen des Blockbuster-Produktionsprinzips geriet: Auch da gab es immer teurere Filmproduktionen, die finanziell auf immer höhere Einspielerfolge angewiesen waren. Auch hier waren es zunehmend die Geldgeber, die entschieden, welche Visionen verwirklicht werden konnten und welche nicht. Als Gegenbewegung entstand der Independentfilm, der nach alternativen Finanzierungsquellen jenseits der großen Studios suchte und sich mit kleinen Budgets und kurzen Drehzeiten all jenen Ideen zuwandte, die für die Traum- fabrik zu riskant geworden waren. Mit den oberflächlichen Reizen des "großen Kinos" konnten diese Produktionen zwar nicht mithalten, das wollten sie aber auch gar nicht: Sie setzten auf originelle Konzepte.

Freigespielt

Das ist ein Ansatz, der auch im Gamedesign immer mehr Anhänger findet. Independent-Spielentwickler verzichten auf die Unterstützung großer Publisher und finanzieren, entwickeln und vertreiben ihre Produkte auf eigene Faust. Einer von ihnen ist der Amerikaner Jason McIntosh, ein Gamedesigner aus Leidenschaft, der schon im zarten Alter von elf Jahren begann, Spiele zu programmieren. Mit seinem dreiköpfigen Kleinstentwicklerstudio "Creatrix Games" arbeitet er zurzeit an dem surrealistischen Online-Spiel "Lila Dreams", das in der Traumwelt des kleinen Mädchens Lila spielt und in dem Elemente aus Action-, Rollenspiel und Jump'n'- Run miteinander verschmelzen. Die Spieler müssen Lisas Emotionen im Traum so beeinflussen, dass sie bestimmte Dinge in der Realität tut, wobei sich Spielwelt und Gameplay je nach Stimmung des Mädchens verändern. Kein Konzept für den Massenmarkt, das weiß auch McIntosh: "Wir versuchen nicht, mit 'World Of Warcraft' zu konkurrieren", sagt der heute 35-Jährige, "wir wollen eine andere Art Gamer ansprechen. Nur indem man Nischen erschließt, kann man es mit den Branchenmultis aufnehmen." Die Bedingungen für Indie-Entwickler sind laut McIntosh heute besser denn je: "Es gibt komfortablere und zugänglichere Entwicklungstools als je zuvor. Es ist sehr einfach geworden, Spiele zu machen. Wenn du heute gute Ideen hast, hast du keine Ausrede mehr, sie nicht auszuprobieren." Auch sei man dank des Internets nicht mehr auf einen Publisher angewiesen. Kommunikation, Werbung, Veröffentlichung - all das läuft bei "Creatrix Games" über das Netz. Die Zusammenarbeit des Teams läuft ausschließlich online ab. Das spart nicht nur Bürokosten, sondern bietet auch die Möglichkeit, Arbeitskräfte überall auf der Welt schnell mit einbinden zu können. "Wenn das Spielkonzept interessant genug ist, stößt man als Indie-Entwickler überall auf Verbündete", sagt McIntosh: "Seit Kurzem unterstützt uns zum Beispiel ein Autor, der Ideen zur Spielerzählung einbringt. Anders als große Unternehmen können wir interessierten Leuten kreative Einbindung anbieten. Und es ist erstaunlich, wie viele Menschen einen unterstützen, wenn sie an etwas mitwirken dürfen, das sie wirklich lieben."

Underdogs als Überflieger

Dass ungewöhnliche Visionen wie "Lila Dreams" beileibe keine Traumtänzerei sein müssen und ein größeres Publikum erreichen können, hat der britische Indie-Entwickler Introversion Software bewiesen. Die drei Londoner veröffentlichten 2001 die Hacker-Simulation "Uplink", die während ihrer gemeinsamen Studienzeit entstanden war. Zuerst verbreitete sich das eigenwillige Game, in dem der Spieler als Auftragshacker sensible Forschungsdaten von Servern stiehlt, Geld wäscht und Unternehmen sabotiert, nur über Mund-zu-Mund-Propaganda. Doch als das britische Magazin "PC Gamer" im März 2002 "Uplink" testete und als "Geniestreich" feierte, fand das frische Spielprinzip trotz der spartanischen Optik das Interesse vieler Spieler und verkaufte sich gut genug, um einen zweiten Titel zu finanzieren: "Darwinia", ein Strategiespiel in Retro-Vektorgrafik à la "Tron", bei dem der Spieler im Inneren eines Computers gegen Viren kämpft und seine Befehle als Gesten mit der Maus auf den Bildschirm malt. Mit diesem Spiel wurden die drei Briten endgültig die Rockstars der Indie-Szene. Auf dem Independent Games Festival 2006 - der "Oscarverleihung" der unabhängigen Gamesentwickler - sahnten sie Auszeichnungen und über 25000 Dollar Preisgelder ab. In einer legendären Dankesrede rotzten sie damals den versammelten Smokingträgern der Industrie entgegen: "Wir haben kein Geld von Publishern angenommen, weil wir nicht wollten, dass sie unser Spiel versauen!" Dieser Maxime sind sie trotz ihrer wachsenden Bekanntheit bis heute treu geblieben, wie Mastermind Chris Delay jüngst in einem Interview mit dem "Guardian" unterstrich: "Unsere Mission ist es immer gewesen, wirklich kreative Games zu machen, und das verbietet es einfach, mit Publishern zusammenzuarbeiten", erklärt er. "Man verliert die Flexibilität, die man braucht, um auch verrückte Ideen auszuprobieren. Bei Darwinia haben wir zunächst 18 Monate herumexperimentiert, und nur dadurch konnte das Spiel so ungewöhnlich werden. Daran wäre so ziemlich jeder große Entwickler bankrott gegangen." Der dritte Umbruchpunkt kam für Introversion schließlich im Dezember 2005 mit ihrer Aufnahme in das Online-Angebot der populären Spielplattform Steam. Binnen vier Wochen verkauften sie mehr Exemplare von "Darwinia" als in den vorangegangenen neun Monaten zusammen. Der Traum vom großen Geschäft ohne die große Industrie war wahr geworden.

Der Untergrund bebt

Seither mehren sich die Zeichen dafür, dass Independent-Games aus ihrem Nischendasein heraustreten. Eines dieser Zeichen ist der Umstand, dass auch die große Industrie sich für Indie-Titel zu interessieren beginnt. So blieben Introversion nicht die einzigen Independent-Entwickler, die über Steam veröffentlichen. Immer mehr unabhängige Produktionen wie das Märchen-Jump'n'Run "Wik And The Fable Of Souls", die Fischzüchter-Lebenssimulation "Insaniquarium" oder das bizarre Zeichentrickadventure "Full Pipe" drängten auf die Online-Plattform, die für Indie-Games wie geschaffen ist: keine DVDs, die gepresst, keine Cover, die entworfen, keine Packungen, die produziert werden müssen. Keine Lieferkosten in die Geschäfte und keine Rückrufkosten, falls das Produkt sich schlecht verkauft. Die Entwickler des Indie-Spiels "Narbacular Drop" wurden sogar kurzerhand vom Steam-Betreiber Valve selbst eingestellt, um mit Zugriff auf die "Half-Life 2"-Engine ihr Spielkonzept im großen Rahmen erneut umzusetzen. Das Ergebnis, der Ego-Puzzler "Portal", wurde zum Überraschungserfolg und stellte das Genre des Shooters auf den Kopf. Das Modell Steam hat offenbar Schule gemacht: Jüngst ließ Microsoft verlauten, auch über den Online-Service Xbox Live werde es künftig für jeden möglich sein, selbst entwickelte Spiele zu veröffentlichen. Die Motivation des Softwaregiganten aus Redmond dürfte hierbei in erster Linie darin bestehen, schnell sein Spielangebot zu erweitern und damit konkurrenzfähig zur erstarkenden Playstation 3 zu bleiben. Doch das kann den Indie-Entwicklern nur recht sein, erhalten sie doch über Xbox Live Zugang zu einem Publikum von rund zehn Millionen Usern. Ein zweites Indiz für die wachsende Bedeutung von Independent-Games ist die Tatsache, dass mittlerweile selbst Universitäten sich dem Thema zuwenden. So läuft im Herbst 2008 an der Universität Krems in Österreich ein neues Masterstudium "Independent Games Development" an. Professor Michael Wagner erklärt, das Studium sei eine Reaktion auf die zunehmenden Anfragen von Medienschaffenden gewesen: "Durch Indie-Games findet gerade eine wesentliche Demokratisierung der Produktion von Spielen statt", sagt er, "wir sind an einem Umbruchpunkt." Ein drittes Anzeichen für den Durchbruch der Indie-Szene ist schließlich die wachsende Bedeutung des Independent Games Festivals. 1998 als Pendant zum Sundance Filmfestival gegründet und ursprünglich mehr ein Anhängsel der zeitgleich stattfindenden Game Developers Conference, zog das IGF bald das Interesse der internationalen Gamesindustrie und Spielepresse auf sich. Mittlerweile werden hier jährlich die besten Indie-Games mit Preisen in Höhe von 50000 Dollar prämiert. Vielen Indie-Entwicklern verhalf das zum Durchbruch: Das 2005 prämierte "Alien Hominid" (siehe Kasten Seite 55) erhielt Publisherdeals, das Ninja-Jump'n'Run "N" wird derzeit für die großen Konsolen weiterentwickelt, und der 2007 ausgezeichnete "Everyday Shooter" ist kürzlich auf Sonys Playstation-3-Network erscheinen. Von Jahr zu Jahr nimmt die Zahl der Bewerbungen zu: In diesem Jahr waren es bereits 173 Projekte. Die Spielentwicklung hat also seit ihren Anfängen eine weite Reise gemacht. Auf gewisse Weise ist sie heute wieder dort angekommen, wo sie begonnen hat: im Schlafzimmer. Die Durchstarter von Introversion haben sich selbst einmal so genannt: "die letzten Schlafzimmerprogrammierer". Sie hätten falscher nicht liegen können: Die letzten sind nur die ersten gewesen. Text: Danny Kringiel
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von Volker Hansch / April 10th, 2008 /

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