Leben, wie wir spielen

Leben, wie wir spielen

Videospiele steigern unsere kognitiven, logischen und strategischen Fähigkeiten, sagen Experten – doch wenn wir wollten, könnten wir aus unserem Spiel noch sehr viel mehr lernen. Und zwar so Entscheidendes, dass es unser ganzes Leben grundlegend verändern würde. Eine Anregung Werbetexter ist ein schwieriger Beruf. Kreativität muss hier auf Knopfdruck funktionieren. Echte Pointen müssen her, Perspektiven sollen auf den Kopf gestellt werden, der Kunde zahlt Millionen und erwartet die beste, originellste und überraschendste Kampagne, die der Globus je gesehen hat. Und das pronto! Eine Technik, die Werber verwenden, um ihr Gehirn zu lockern, ist ganz einfach und wird doch von kaum jemandem im Alltag angewandt: Sie nehmen neue Wege. Wörtlich verstanden. Sie fahren eine andere Route zur Arbeit, spazieren stundenlang durch Viertel, die sie noch nie gesehen haben oder radeln in Außenbezirke ihrer scheinbar vertrauten Heimat, die so fremd und verlassen wirken wie ein Dorf im Mittelwesten kurz vor der Ankunft des A-Teams. Sie essen in Restaurants, die eigentlich niemals auf ihrer Liste stünden, und sie quatschen mit fremden Leuten, um zu verstehen, wie sie die Welt betrachten. Ähnliches machen Teilnehmer von Selbstsicherheitsseminaren. Sie verwickeln Fremde in Gespräche, flirten mit Männ- oder Weiblein, geben ohne Quittung eine Teichpumpe im Baumarkt zurück oder geben sich zur Übung als jemand anderes aus. Das Gefühl, das all diese Techniken erzeugen, ist das Gefühl der Freiheit. Die Erkenntnis: "Hey, ich kann ja im Prinzip alles machen. Ich habe endlose Möglichkeiten. Ich kann viele Wege nehmen." Ein Gefühl, das wir Gamer nur zu gut kennen. Nur nicht aus der Wirklichkeit.

Open World?

Ist das nicht merkwürdig? Werfen wir den Computer oder die Konsole an, haben wir schnell das Gefühl, uns in einer Welt unendlicher Optionen zu bewegen. Selbst dort, wo die Handlungsmöglichkeiten objektiv sehr begrenzt sind. Sicher, das "Second Life", die Online-Rollenspiele, die -Lebens- und Göttersimulationen oder die Städte aus "Grand Theft Auto" lassen uns heute tatsächlich viele Freiheiten, aber das Gefühl, sich in einer offenen Welt zu bewegen, hatten wir doch schon, als wir zu Urzeiten das erste Mal die "Maniac Mansion" betraten. Und auf dieses Gefühl kommt es an. Gerade klassische Adventures gaben uns ja de facto nie die Freiheit, zu tun, was wir wollen, sondern warteten nur darauf, dass wir während des Herumprobierens endlich auf die eine richtige Lösung kamen, die den Plot voranbringt. Trotzdem fühlten wir uns, als lebten wir in einer Parallelwelt. Wir können ja in "Maniac Mansion" den Hamster in die Mikrowelle stecken, wenn wir wollen. Wir können jeden anquatschen, auch wenn sich die Dialoge aus vorgefertigten Äußerungen zusammensetzen. Wir können stundenlang in ein paar Dutzend Bildschirmen herumlaufen, auch wenn es praktisch nichts bringt. Es waren diese frühen Abenteuer, die uns daran erinnerten, dass wir auch in der Wirklichkeit viele Optionen haben. "Sprich mit dem Hafenarbeiter und frag ihn nach der Fracht." Oder: "Benutze Schlafsack mit Wald." Oder: "Frage alte Frau nach Menschen, die früher in diesem Haus wohnten." Man glaubt gar nicht, was sich dabei manchmal herausfinden lässt. Übertragen wir das Gefühl unendlicher Möglichkeiten aus den Spielen auf die Wirklichkeit, kann diese sich wie ein Adventure anfühlen, selbst wenn wir niemanden umbringen, umfahren oder bestehlen. Warum nicht Wildfremden investigative Fragen stellen und schauen, was passiert? Warum nicht mit dem Finger auf der Landkarte irgendein unheimliches Provinzdorf in den Bergen antippen und hinfahren? Warum nicht raus in ferne Gebiete? Die Vulkaneifel oder die Mecklenburgische Seenplatte sind nicht so weit weg und bereits -unwirklicher als manche intergalaktische Imagination. Ein Spiel, das die Größe der echten Weltkarte samt all ihrer Optionen abbilden kann, wird so schnell nicht erfunden. Und doch fühlt es sich so an, als hätten wir hinter dem Monitorglas mehr Optionen.

Mehr Details

Noch etwas, das wir im Alltag oft vernachlässigen, obwohl es in Videospielen für uns selbstverständlich ist: Achtsamkeit. Genaues Wahrnehmen. -Einfach hinsehen. Ich jedenfalls, das gebe ich zu, kann eher die Atmosphäre, den Klang und den eingebildeten Geruch abrufen, der mich um 4:37 Uhr morgens in der französischen Provinz umgibt, während ich bei "Operation Flashpoint" durchs Unterholz robbe, als präzise zu erläutern, wie sich ein Morgen im Münsterland anfühlt. Wissen wir, wie die Häuser in unserer Nachbarschaft genau aussehen? Sehen wir uns in der Wirklichkeit ein winziges Detail minutenlang genau an? Wo wir in Spielen noch das allerletzte Medipack in der dunkelsten, zugestelltesten Ecke finden, wissen wir in unserem eigenen Haus nicht mal mehr, wo wir die Bohrmaschine hingelegt -haben. Tagebücher des 15. Lebensjahres finden wir erst beim Umzug, und dass wir tatsächlich eine englische Erstausgabe von "Neuromancer" besitzen, erstaunt uns. Wer hat uns die denn mal geschenkt? Oder geliehen? Und wann? Achtsamkeit ist eine der wenigen Techniken aus Lebensratgebern, die wirklich funktionieren. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit nach außen, stoppt unnötige Grübeleien und Gedankenschleifen und führt uns weg von Wertungen. Wir urteilen nicht, wir nehmen wahr. Nicht: "Was sollte sein?", sondern "Was ist?" Dass uns dazu nicht nur malerisch gestaltete High-End-Spiele anregen, belegen Berufssimulatoren wie "Euro Truck". Stundenlang fährt man dort mit dem Laster von Augsburg nach Prag und erlebt dabei, wie Oliver Klatt in GEE ganz richtig geschrieben hat, die "bittersüße -Melancholie" einsamer Autobahnen. Genau in die könnten wir uns auch in Wirklichkeit fallen lassen, statt vor lauter Stress ins Steuer zu beißen. Ästhetik ist überall, und es bereichert den Alltag, den Blick für sie zu schärfen.

Hartnäckigkeit

Unser Leben ist eine Abfolge abgebrochener Handlungsstränge. Von ihnen gibt es viel mehr als von denen, an denen wir kleben blieben oder die wir zu Ende brachten. Der Abbruch der meisten stört uns nicht. Okay, denken wir uns, hätte ich weitergemacht, könnte ich heute Gitarre -spielen. Spräche Italienisch. Wäre ausgebildeter Buchhändler. Büke Brot oder spielte in der zweiten Bundesliga Tischtennis. Macht nix. Was uns aber wirklich nachhängt, sind Spiele, die wir nicht zu Ende gebracht haben. Diese offenen Fäden -liegen zuckend wie abgeschnittene Kabel in unserem Leben und führen immer noch Strom. Dutzende und Aberdutzende von Spielständen lauern auf Festplatten. Memory Cards, die in die unterste Schublade verbannt wurden, klopfen in regelmäßigen Abständen leise von innen ans Holz. Es gibt nicht wenige, die heute noch das Gefühl haben, "Alien Breed", "Project X" und "The Last Ninja" seien niemals aus ihrem Leben verschwunden, sondern warteten lediglich seit 15 Jahren auf ihre Vollendung. Und selbst, wenn wir mit den linearen Spielen fertig sind, warten sie mit den High-scores und dem Hochleveln von Charakteren auf neue Rekorde. Hinzu kommt das Ehrgefühl, trotz vorhandener Täuschungsmöglichkeiten auf -anständige Weise und ohne Mogelei ans Ziel zu -gelangen. Ein Ethos, dem wir im echten Leben seit den, sagen wir mal "kooperativ" gelösten Klausur- und Hausaufgaben in der Schule nicht mehr dauerhaft folgen. Ein möglicher Grund dafür, warum wir bei Spielen Hartnäckigkeit, Geduld, Frustrationstoleranz und Ehre entwickeln, ist sicherlich ihre Zweck- und Zwangfreiheit. Ein Spiel will nichts von uns. Das Spiel kann warten und sogar auf uns verzichten. Ein Spiel setzt uns keine Deadline. Ein Spiel bittet uns nicht, endlich den Dachboden aufzuräumen oder die Steuererklärung zu machen. Müssten wir allerdings in dem Spiel selbst die Steuererklärung machen, wäre das eine Herausforderung, die wir gerne annähmen. Wir räumen ja auch in den "Vice City Stories" immer wieder stumpf mit dem Stapler das Lager aus. Davon, dass wir uns freiwillig "Mathematik-Trainer" ins Haus holen oder gegen den aufreizend geduldigen Coach in "Wii Fit" im Wettbewerb Liegestützen machen, gar nicht zu sprechen.

Selbstreflexion

Auch in der Spieleproduktion selbst gibt es Aspekte, die aufs echte Leben übertragen Wunder wirken würden. Allen voran: das so genannte Killer-Feature. Das eine Element, das ein Spiel außergewöhnlich macht. Die zündende Idee, die sich in einem Satz zusammenfassen lässt und für die allein die Kunden schon in den Laden rennen. Haben wir uns eigentlich mal überlegt, welches Killer-Feature uns auszeichnet? Es wäre vielleicht von Vorteil. Bei Bewerbungsgesprächen und beruflicher Lebensplanung. In der Frage, was wir eigentlich wollen und ob wir gerade genau das tun, was prinzipiell nicht zu uns passt. Oder gerade das tun, was zu uns passt, und es uns bloß nicht zugestehen wollen, weil wir immer noch der Idee anhängen, wir könnten Farmer in Kanada sein. Es gibt eine Menge Leute, die aus dem Nichts heraus Geschäftsmodelle mit "Killer-Feature" entwickelt haben und in kurzer Zeit von Lohnzettelbienen zu Unternehmern wurden. Wer sich selbst fragt, was ihn wirklich von anderen unterscheidet, wird auch einen Unterschied machen.

Moralische Selbsthinterfragung

Ein in Film, Fernsehen und Gameswelt immer stärkerer Trend ist die Relativierung von Gut und Böse, von Täter und Opfer. Haben wir als Kinder bei Karl May, "Knight Rider" oder der "Tagesschau" noch gelernt, dass sich die Welt in zwei Lager aufteilt, machten uns spätestens die gebrochenen Helden von Marvel darauf aufmerksam, dass es so einfach nicht ist. Heute ist uns völlig klar, dass wir ebenso den Täter wie das -Opfer in uns tragen, wenn wir bei "Shadow Of The Colossus" mit Tränen in den Augen unschuldige Giganten töten, uns als ausgenutzte und -unter Drogen gesetzte Söldner durch "Haze" ballern oder mit Niko Bellic in Liberty City ein Leben leben, das mit Moral und Anstand ebenso wenig zu tun hat wie mit reinem Sadismus. In Spielen leben wir immer häufiger in der Grauzone der Ethik - nicht, weil wir töten, sondern weil wir es nicht mehr für eine "richtige" Sache tun und das ganz genau wissen. Diese Skepsis geht uns im wirklichen Leben allerdings immer noch ab. Der Berliner Autor Andreas Krenzke bringt das in seinem Buch "Imbiss wie damals" humorvoll auf den Punkt. Dort beschließt die Konferenz der Amokläufer, dass der wahre Amoklauf heute in einem schlichten Einkauf im Supermarkt bestünde, da die Folgen der Fleisch- und Fischindustrie global gesehen weit mehr Unschuldigen das Leben koste als ein paar Schüsse in den Lottostand. Ein Beispiel von Täterschaft, die wir niemals so nah an uns ranlassen würden wie das Schuldgefühl nach dem Meucheln eines pelzigen Kolosses.

Pimp Your Reality

Bewusstsein für Optionen, achtsame Wahrnehmung, Hartnäckigkeit, Konsequenz, Selbstreflexion: Würden wir so leben, wie wir spielen, bereicherte das unsere Wirklichkeit ungemein. Sie bietet es an. Jeden Moment. Nur eine kleine Verschiebung der Perspektive, und wir sind drin. In einer Realität, die sich unwirklicher anfühlen würde, aber gegenüber des eingeschliffenen Trotts dem Erweckungserlebnis der roten Pille nahe käme. Den Versuch ist es zumindest wert. Solange wir keine Headshots verteilen, haben wir eine Menge Continues zur Verfügung.
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von Volker Hansch / Oktober 10th, 2008 /

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