Gegen jede Regel
Videospiele sagen dem Spieler in der Regel deutlich, was Sache ist: "Das bist du. Das kannst du machen. Zum Endgegner bitte da lang." Was aber passiert, wenn der Spieler die Aufforderung ignoriert und in die entgegengesetzte Richtung losrennt? Ein Aufruf zum spielerischen Ungehorsam
Jedes Spiel hat seine Regeln - Himmel und Hölle, Schiffe versenken und Monopoly. Manchmal machen Spiele aber erst so richtig Spaß, wenn man die Regeln hier und da ein wenig dehnt, abändert oder schlichtweg missachtet. Zum Beispiel Videospiele. Ihre immer komplexer werdenden Welten laden zum zivilen Ungehorsam förmlich ein, weswegen sich Zocker fast zwangsläufig irgendwann fragten: „Und was kann ich hier noch machen?“ So begannen sie, sich eigene Aufgaben zu stellen, anstatt sich den Vorgaben des Gameplays zu unterwerfen. Schnell blühte neben dem standardisierten Zockerleistungsbewusstsein bei einigen Radikalen der anarchistische Spaß am freien Spiel auf. In „Quake III“ beispielsweise fanden ein paar Spieler heraus, dass man seinen Avatar auf den Kopf einer anderen Spielfigur stellen kann, und begannen, sich online zum geselligen Avatarpyramidenbau zu verabreden. Schon 1999 baute eine Gruppe von 46 spanischen Spielern einen Turm aus ebenso vielen Avataren - heute liegt der Rekord bereits bei stolzen 64 Spielfiguren. Ein „Deus Ex“-Spieler stellte fest, dass die Haftminen in diesem Spiel sich hervorragend als Vorsprünge für Freeclimbing eignen. Er setzte eine Mine an die Wand, sprang hinauf, setzte eine weitere darüber und so weiter. Auf diese Weise gelangte er bis an die Spitze von Hochhäusern, von denen aus der Rand der Spielwelt zu sehen war: ein Ausblick, der auf dem Boden verweilenden Spielern nie gewährt würde. Mittlerweile ist das „adhesive mine climbing“ für Fans des Spiels ein fester Begriff. Im Shooter „Half-Life“ fingen Spieler derweil an, Rekorde im Rucksackbomben- Turmbau aufzustellen oder möglichst vielfältige Arten virtueller Selbstmorde in Online-Galerien festzuhalten. Und zum zweiten Teil des Kult-Shooters erschien mit „Garry's Mod“ sogar eine komplette Modifikation, die es sich zur Aufgabe gemacht zu haben scheint, allerlei Unfug hervorzubringen. Die Spieler konzentrieren sich hier primär darauf, mit Spielfiguren möglichst alberne Grimassen zu ziehen oder aus Schrott Skulpturen zu bauen. Ein User fühlte sich von dieser Mod und der viel gerühmten Physik-Engine von „Half-Life 2“ gar dazu inspiriert, in mühsamer Kleinstarbeit zahllose Stahlplatten, Türen, Wippen, Bälle, Reifen und Stahlseile zu einem riesigen Dominospiel zusammenzustellen, dessen letzter Dominostein den Bossgegner unter sich begräbt. Und Spieler der „Ultima“-Reihe stellten fest, dass man Brot nicht nur essen, sondern auch vorzüglich Treppen daraus bauen kann, mit denen sich eigentlich unzugängliche Orte erreichen lassen. Schnell gehörte zur ständigen Grundausstattung des „Ultima“-Abenteurers auch ein Sack voller Brote … nur für den Fall. Längst wird in „Ultima“-Foren angeregt über die „staircases of bread“ und deren Konstruktion diskutiert. Während etwa der traditionsbewusste subversive Baumeister weiter auf seine krossen Laibe schwört, wagen progressivere Handwerker auch den Griff zu exotischen Materialien wie Fischen, Kürbissen oder Leichen. Seinen vorläufigen Höhepunkt fand der virtuelle Treppenbau in dem Werk von J.P. „Doug“ Morris, der in „Ultima 9“ Interkontinentalbrücken aus Flaschen, Stäben, Papierbögen und selbstverständlich auch Brot über den Ozean baute. Chris Brandt saß gemeinsam mit seinem Freund Jesse Reklaw zu fortgeschrittener Stunde und unter nicht unerheblichem Einfluss bewusstseinsverändernder Substanzen auf einer Party in San Francisco vor einer Dreamcast-Konsole. Da Jesse unfähig war, sich die komplizierten Schlagkombos des Beat'em-ups „Soul Calibur“ zu merken und auch der zuvor in rauen Mengen konsumierte Alkohol dieses Vorhaben kaum erleichterte, zappelte er mehr oder weniger sinnlos mit seiner Spielfigur herum. Nach einer Weile stellte Brandt fest, dass sich die Bewegungen der Kämpfer mit der Musik auf der Party synchronisieren ließen. Kurze Zeit später waren die beiden Nerds mit ihren synchron zu Ludacris tanzenden Avataren das Herz der Fete. Brandt erkannte das Potenzial und schmiedete Pläne für eine komplett ausgearbeitete Choreografie. Einziges Problem: Jesse Reklaw wohnte Hunderte von Kilometern entfernt, und Brandts Mitbewohner zeigte sich zunächst nicht besonders begeistert von der Perspektive, Wochen damit zu verbringen, Tanzschritte für eine Beat'em-up-Figur namens Voldo auswendig zu lernen. Einige Überzeugungsarbeit später willigte er dann aber doch ein. Das einzige, das dem virtuellen Kampfballett nun noch in die Quere kommen konnte, waren die Trinkgewohnheiten von Brandts Zimmergenossen: Für das tägliche Tanztraining standen nur fünf Stunden zur Verfügung, bis „Mr. M“ (aus verständlichen Gründen bevorzugt er es, anonym zu bleiben) zu betrunken war, um weiterzumachen. Nach einer Woche Dauertraining war es schließlich vollbracht: Die beiden Zocker waren in der Lage, eine ununterbrochene und fehlerfreie fünfminütige Tanznummer hinzulegen. Zwei Voldos in SM-Anzügen tanzen mit, ähem, dezenten homoerotischen Untertönen inmitten eines Lavasees zu Nellys „Hot in Herre“. Prost! Auch der Vorreiter des non-linearen Gamedesigns mit maximalem Sandkasten- Feeling - die „GTA“-Serie - bietet eine Fülle von Möglichkeiten für durchgeknallte Spielstrategien. Zum Beispiel Basejumping: Der aufmerksame Spieler wird irgendwann im Verlauf von „GTA 3“ festgestellt haben: Wer mit voller Lebensenergie von einem sehr hohen Bauwerk springt, stirbt nicht. Unnötig zu erwähnen, dass sich die Beliebtheit dieser Disziplin mit der verführerischen Kombination „Hochhäuser und Helikopter“ in „Vice City“ noch weiter steigerte. Die kreativeren Suizidanwärter verlegten sich aufs Zielspringen von Hochhäusern, und wem das noch nicht genug war, der versuchte, beim Absprung aus einem in Maximalhöhe fliegenden Hubschrauber ein bestimmtes Ziel zu treffen. In „GTA San Andreas“ schließlich wurden von den Entwicklern Fallschirme eingeführt und damit das Basejumping von der subversiven in eine vorgesehene Spielaktion verwandelt. Andere „GTA“-Fans schlossen sich zusammen, um „GTA Vice City“ wie „Tony Hawk's Pro Skater“ zu spielen - mit den Autos als Skateboards: 720s über Swimmingpools oder Wallrides an Hochhäusern waren plötzlich viel interessanter als eine knallharte Gangsterkarriere. Schnell fanden die findigen Stuntmen auch heraus, dass sich Motorräder prima dazu eignen, Boardslides an kopfhohen Zäunen zu machen oder Palmen hochzugrinden. Oder schon mal eine Corvette beim Kickflip über eine Mauer gesehen? Und für Profis: Backside Nollie 180 to Alley Oop 50-50 Grind Heelflip 180 off - in einem LAM-BOR-GHI-NI! Unbestrittene Königsdisziplin des subversiven Spielens in „GTA“ ist allerdings das „Car Surfing“: Man stoppe ein bemanntes Auto und klettere auf das Dach des Fahrzeugs. Nun feuere man eine Waffe ab. Der Fahrer des Wagens sowie jene der umliegenden Wagen geraten augenblicklich in Panik und kesseln fluchtartig los, alle Hindernisse rücksichtslos aus dem Weg rammend. Ziel: so lange auf dem Wagendach bleiben wie möglich. Erfahrene Surfer liefern sich mittlerweile in einschlägigen Foren Debatten über Fragen wie Panikmaximierung des Fahrers (viele schwören hier darauf, den Startschuss nicht in die Luft, sondern in die Motorhaube des Surf-Fahrzeugs abzufeuern) oder fachsimpeln über ihre Lieblings- Surfreviere (besonders angesagt: die Highways in San Andreas, auf denen mit Höchstgeschwindigkeiten gefahren wird). Ehrgeizige Autosurfer werkeln schon an „Intercity Car-Surfs“ von Stadt zu Stadt, kombinieren Basejumping mit Car-Surfing oder trainieren Car-Transfers aus der Fahrt per Sprung auf andere Autodächer. Und die echten Gefahrensucher geben sich den ultimativen Kick durch Car-Surfing mit aktiviertem „Flying Cars“-Cheat. Man munkelt, dass auch Rockstar Games die Beliebtheit dieses neuen urbanen Sports nicht entgangen ist. Oder ist es purer Zufall, dass die Standfestigkeit des Avatars auf Autodächern von „GTA 3“ bis „San Andreas“ deutlich verbessert wurde? Den Sprung von der zeitweiligen Umnachtung zum systematisch organisierten Schwachsinn wagen die Betreiber der Homepage www.it-he.org. Hier hat es sich eine Gruppe junger Männer mit einem ebenso reichhaltigen Vorrat schräger Ideen wie überschüssiger Freizeit zum Auftrag gemacht, so genannte Anti-Walkthroughs zu erstellen. Diese Nicht-Walkthroughs erklären dem Rabbatz-affinen Zocker, wie sich verschiedene Games auf möglichst abwegige Weisen durchspielen lassen. Empörte Fehlermeldungen der veräppelten Spiele gehören hier zur Tagesordnung. Wer zum Beispiel dachte, „Deus Ex“ hätte irgendwas mit Hackern, Megakonzernen und Seuchen zu tun, wird hier eines Besseren belehrt: In Wirklichkeit geht es darum, unsterbliche, unter Wasser fliegende Zombiemöwen zu züchten! Es geht darum, den eigenen Kopf an Dobermänner zu verfüttern, ohne daran zu sterben! Mischt eine Konferenz auf, indem ihr die Stuhlbeine aller Teilnehmer absägt! Habt ihr euch auch immer einsam gefühlt im Singleplayermodus? Setzt einfach euren Kontaktmann unter Drogen, legt ihn über die Schulter, und ihr werdet nie wieder allein sein in einer Mission. Und für die ganz Ehrgeizigen: Versucht ihn bis zum Ende des Spiels mitzuschleppen, ohne dass er stirbt! Kämpfen? Ach herrje, schließt euch lieber in einem Wandschrank ein und lasst die NPCs die Arbeit für euch machen. Diejenigen, die dann noch stehen, schickt ihr einfach in einen Kampf auf Leben und Tod - gegen einen Staubsauger. Nach getaner Arbeit füllt ihr schließlich euren Avatar mit den mühsam zusammengeklaubten 60 Flaschen Schnaps ab, studiert vor einem Spiegel „silly walks“ ein und baut schließlich im Vollrausch eure Mauskugel aus, um psychedelische Effekte mit den Stimmen der NPCs zu erzielen. Und für diejenigen, denen die Bewusstseinserweiterung noch nicht weit genug geht, findet sich eine Anleitung, wie man NPCs in durchsichtige, explodierende Geister verwandelt (und zu guter Letzt den Schnapskater durch eine fachmännische, möglichst spektakuläre Selbstsprengung wieder loswird). Auf diese Weise werden alle möglichen Spiele durch den Wolf gedreht: Wer sich für Online-Galerien explodierender Schweine in „Arx Fatalis“ interessiert oder schon immer wissen wollte, wie er seinen Avatar durch Rattenbisse zum Fliegen bringen kann, wird hier ebenso fündig wie „System Shock“-Spieler, die gern die Arme ihrer Spielfigur 13 Fuß lang machen und dann die Erde in die Luft jagen würden. „Thief“-Zocker erfahren, wie man Klingelstreiche bei den Hammeriten durchführt und Wachen zum Fechten in die Badewanne lockt, Fans von „Thief 2“ werden ausführlich darüber informiert, wie man Amok laufende Wachroboter auf eine Party der Stadtobrigkeit lockt und anschließend hübsche Skulpturen aus mit 14 000 Umdrehungen pro Minute rotierenden Vasen baut. Und nur um das Ausmaß des Wahnsinns ganz deutlich zu machen: Die Vasendrehzahl ist kein fiktiver Wert - sie wird in dem Walkthrough haarklein ausgerechnet! Ganz klarer Liebling der Anti-Walkthrough-Autoren ist allerdings die „Ultima“- Reihe. Hier erhält der ambitionierte Spielevermurkser Antwort auf seine geheimsten Fragen: Wie klaue ich Schafen, Kühen und Hühnern die Eingeweide, ohne sie zu töten? Wie klone ich Lord British, um ihn gegen sich selbst kämpfen zu lassen? Wie kann ich die Erschaffung von Frankensteins Monster mit meinen Partymitgliedern nachspielen und wie dem Pfarrer sein Pult klauen, sodass er bei der Abendmesse stotternd vor der versammelten Gemeinde steht? Und natürlich besonders wichtig: Wie stelle ich essbares Gold her (das Brot brauche ich schließlich zum Treppenbauen)? Neben den „normalen“ Anti-Walkthroughs, die sich mit verschiedensten Fragen von allgemeinem Interesse befassen - etwa „Wie baue ich mir einen als Motorradrocker verkleideten Kampfroboter?“ oder „Wie schaffe ich es, im Stehen und auf einem Baumstamm balancierend, der in 2000 Grad heißer Lava schwimmt, zu schlafen?“ -, gibt es auch eine Reihe von Spezialartikeln. Sie widmen sich besonders umfangreich einzelnen Facetten des subversiven Verdrehens der „Ultima“-Spiele. Ein Guide mit dem hübschen Namen „Further Drug Experiments in Ultima 7“ zeigt, wie man seine treuen Kampfgefährten durch exzessive Drogenpartys in menschliches Gemüse verwandelt. Und wie man die halb toten Partymitglieder nach dem Hangover zu unverwundbaren Göttern macht (durch noch mehr Drogen natürlich). Ein Hundeliebhaber-Walkthrough für „Ultima 9“ erklärt, wie man das Spiel schlägt, ohne dass dabei Wölfe zu Schaden kommen, beziehungsweise wie man nach dem einzig unvermeidbaren Wolfsmord die Führung über das verwaiste Rudel übernimmt und aus Rache alle Schafe der Auftraggeberin erlegt. Ein „Ultima 8“-Anti-Walkthrough mit dem viel sagenden Titel „How To Be A Complete Bastard In Pagan“ zeigt uns schließlich, wie man sich selbst sprengt, dennoch überlebt und anschließend die eigenen verstreuten Körperteile einsammelt. Außerdem erfährt der geneigte Leser, wie man den Weihnachtsmann als Menschenopfer darbringt. Was vor allem insofern beachtenswert ist, als der Weihnachtsmann im Spiel überhaupt nicht vorkommt. Und das alles sind nur einige Möglichkeiten, wie man Spiele wie „Ultima“, „GTA“ oder „Soul Calibur“ anders spielen kann. Also Spieler, benutzt eure Fantasie und übernehmt die Kontrolle, anstatt immer nach der Pfeife der Entwickler zu tanzen! Setzt den Schiri ab, übersprüht die Feldlinien mit euren eigenen Zeichen, und baut euch eigene Tore aus ein paar geklauten Brettern, Nägeln - und Brot! ¡Viva la revolución! Diskussion über Treppenbaumaterialien in „Ultima“ beziehungsweie „Exult“: http://snipurl.com/hffj Diskussion über Car-Surfing in „GTA“: http://snipurl.com/hffl, http://snipurl.com/hffn Diverse Anleitungen zum Wahnsinn-Treiben in diversen Games: http://www.it-he.org „Bored In San Andreas“ - ein Gamespy-Guide: http://snipurl.com/hffo „San Andreas“-Verdrehungsanleitungs-Walkthrough: http://snipurl.com/hffp Text: Danny Kringiel