Unendliche Geschichten

Unendliche Geschichten

Meistens erfährt man nichts über den Spielehelden, den man nächtelang durch die Level scheucht. Das ist Absicht – und soll die Vorstellungskraft des Spielers beflügeln, die Identifikation mit der Spielfigur erleichtern. Manchen Spielern geht die Fantasie allerdings gehörig durch. Das Ergebnis: Fanfiction

Gordon Freeman ist frisch promovierter Physiker. Sein Arbeitsplatz: ein unterirdischer Laborkomplex unter der Wüste Arizonas. Schlecht bezahlte Doppelschichten im Außerirdischenvernichten, Außendienstarbeiten in Paralleldimensionen inklusive. Jeder kennt „Half-Life“ – aber wie gut kennen wir den schweigsamen Mann an der Brechstange? Hat er Hobbys? Familie? Steckt unter dem harten Hazard-Suit am Ende doch ein weicher Kern? Eins steht fest. Mit wortkargen Game-Heroes wie Freeman, Sam Fisher oder dem Space-Marine aus „Doom“ könnte man keine Talkshowrunde besetzen. Das hat aber mitnichten etwas mit Lieblosigkeit zu tun, sondern soll so sein: Spielentwickler lassen ganz bewusst Leerstellen in den Beschreibungen der Charaktere und ihrer Geschichten. Der Spieler soll so die Hauptfigur als eine Art Leergefäß wahrnehmen, das er mit den eigenen Vorstellungen füllt. Einigen Spielern reicht es aber offensichtlich nicht, sich nur im Geiste auszumalen, was ihr Avatar nach Feierabend noch so alles treibt. In „Fanfictions“ oder kurz „Fanfics“ schreiben sie die Spielabenteuer kurzerhand selbst fort, und in „Fanart“-Bildern erweitern sie die Spielwelt visuell. Die so entstandenen Geschichten, Gedichte, Liedertexte oder Bilder werden dann im Internet veröffentlicht: Entweder als Beiträge in Fan-Foren zum Spiel (die mittlerweile schon häufig eine separate Fanfiction-Abteilung führen) oder in einem der großen Fanfiction-Archive wie www.fanfiction.net. Diese Archive sind Sites, die nach Film-, Buch-, oder Spielvorbildern geordnet, Tausende von Fanfics zusammenstellen. Des Weiteren werden Fanfics in zahllose Untergattungen unterteilt: „Songfics“ etwa sind Liedtexte über Games, „Badfics“ sind absichtlich miserabel geschriebene Fangeschichten, in „Deathfics“ stirbt einer der Hauptcharaktere, und „Genfics“ gehören keiner speziellen Nische an. Voraussetzung für die Veröffentlichung in einem Archiv ist häufig eine an festgelegten Kriterien orientierte Altersempfehlung des Autors, die dem Text vorangestellt wird, sowie ausdrückliche Hinweise auf Inhalte, die manche Leser anstößig finden könnten. Mit der Veröffentlichung setzt der Urheber seine Schöpfung dann der Kritik der Öffentlichkeit aus: Über eine Kommentarfunktion kann die gesamte Community ihren Meinung zu dem Text direkt auf der Site abgeben. Diese Kommentarfunktion wird von vielen Hobbyautoren auch dazu verwendet, sich gegenseitig über bestimmte Erzähltechniken auszutauschen und sich gegenseitig inhaltliche Anregungen zu liefern. So viel zum Ablauf. Aber was wird in solchen Texten denn nun mit dem Original angestellt? Alles Mögliche. Charaktere und Handlungen des Spiels können in Fanfics nicht nur stur fortgesetzt, sondern auch vollkommen durcheinandergeworfen werden. Etwa, indem das Beziehungskarussell des Vorbildes mit ungewöhnlichen „Pairings“ in Schwung gebracht wird. Dann verlieben sich plötzlich „American McGee’s Alice“ und die Grinsekatze aus dem Wunderland ineinander. Und während Dan Smith aus „Killer 7“ seinen Kollegen Kevin Smith anbaggert (obwohl ja genaugenommen beide ein und dieselbe Person sind), pfeift der linke Schläger von „Pong“ gut gebauten Seitenlinien hinterher. Ja, selbst die Bots aus „Quake 3“ verspüren in der Hitze des Deathmatches plötzlich aufwallende Frühlingsgefühle und lassen die Waffen sinken. Manchmal werden in Fanfics aber auch Figuren aus vollkommen verschiedenen Spielwelten miteinander kombiniert – man spricht dann von einem Crossover. Da hauen sich schon mal Höllenkreaturen aus „Doom“ und Aliens aus „Half-Life“ gegenseitig die rot glühenden Mutantenaugen blau, während der Space Marine und Gordon Freeman nichts besseres zu tun haben, als sich ebenfalls an die Gurgel zu springen. Max Payne muss die Beine in die Hand nehmen, um sich vor dem „Hitman“ in Sicherheit zu bringen, und die Protagonisten von „GTA 3“, „Vice City“ und „San Andreas“ kämpfen sich gemeinsam durch „Ecco The Dolphin“, „Abe’s Odyssey“ und „Donkey Kong“. Dabei beschränken sich Crossover natürlich nicht auf Figuren aus Games. Die Film-„X-Men“ säubern mit ihren übernatürlichen Kräften auch die City 17 aus „Half-Life 2“ tiefenwirksam von bösen Schergen, „American Mc Gee’s Alice“ lernt im Irrenhaus Rotkäppchen kennen, und der Soldat Shepherd aus „Opposing Force“ findet sich plötzlich bei Harry Potter in Hogwarts wieder. Und mitunter sind es nicht Figuren, sondern andere Medienformate, die dem Game beigemengt werden. Beispiel: Die drei „GTA“-Avatare Carl Johnson, Tommy Vercetti und Claude gehen in den „Big Brother“-Container, wo sie sich unter den Augen eines Millionenpublikums darum streiten, wer im Etagenbett oben schlafen darf und wer wem letzte Nacht mit dem Kuli einen Bart ins Gesicht gemalt hat. Die Stimmung spannt sich zusehends an, als die drei sich mit „Reise nach Jerusalem“-Spielen ihr Abendessen verdienen müssen. Perfekt ist das Chaos schließlich, als noch zwei weitere Mitbewohner zur WG hinzustoßen: Cesar, der sich einen Tiger als Haustier hält, und Max Payne, der allen mit seinen metaphorisch aufgeladenen Erzählerstimmen-Monologen aus dem Off auf die Nerven geht. Max, Tommy und Carl versuchen in Gruppensitzungen, Claude von seinem Drang, Mitbewohnern mit einer Bratpfanne auf den Kopf zu schlagen, zu befreien. Zu guter Letzt beschließt Max Paynes körperlose Erzählerstimme, Standup-Comedian zu werden und treibt die Mitbewohner fortan mit lahmen Witzen zur Weißglut. Wenn, wie in „GTA Big Brother“, Konzept und Personal der Vorlage auf die Schippe genommen werden, spricht man auch von einer „Parodyfic“. In solchen Geschichten führt Gordon Freeman Gespräche mit seinem Brecheisen, das er liebevoll „CrowBarbie“ nennt, und Max Payne verwandelt sich in einen fanatischen Möbelschützer, der Sofas vor den Attacken drogensüchtiger Gangster bewahrt. James Sunderland aus „Silent Hill 2“ erlebt mit seiner toten Ehefrau, ihrer halluzinierten Doppelgängerin, dem Psychokiller Eddie und den Protagonisten von „Silent Hill 4“ ein Weihnachtsfest des Grauens. Nach der misslungenen Feier raucht James gemeinsam mit dem Obermonster-Sensenmann Pyramid Head einen Versöhnungsjoint, woraufhin der beschließt, die Sense Sense sein zu lassen und eine eigene Fernseh-Quizshow auf die Beine zu stellen. Erstaunlicherweise werden sogar Games als Fanfics verwurstet, in denen Ottonormalspieler in aller Regel unterhalb der Zweipromillegrenze überhaupt keine Hintergrundgeschichte, geschweige denn Charaktere ausmachen könnte. Wer hätte schon geahnt, dass sich hinter dem scheinbar geschichtslosen Stapelspiel „Tetris“ die dramatische Geschichte der Internierung und Vernichtung Tausender bunter Blöcke im Krieg gegen die Menschheit verbirgt? Oder die schamlose Webcamübertragung ausschweifender Block-Sexpartys, auf denen geneigte L- und Z-Klötze gleich rudelweise die körperliche Vereinigung suchen? Wer hat sich je Gedanken gemacht über die zarten Gefühle eines jungen blauen Blocks für einen im Park spazierenden rosa Block? Über die Konflikte, die er durchleben muss, da er den Zorn seiner rassistischen Blaublock-Eltern fürchtet? Ähnlich achtlos sind sicherlich die meisten von uns mit „Pong“ umgegangen. Dabei ist das Geschehen hinter den Kulissen keineswegs so unkompliziert, wie es das Spiel glauben machen möchte: Wenn „Lefty“, der geltungssüchtige linke Schläger, mal wieder einen schlechten Tag hat und den devoten Ball anbrüllt, weil „Righty“, der rechte Schläger, aufgrund seiner Reinlichkeitsneurose nicht aus der Dusche und aufs Spielfeld kommen will, spüren wir so richtig die delikate Sozialdynamik des beteiligten Trios. Als am Ende des Tages der Ball mit seinen Saufkumpels auf Kneipentour geht, kommt es endlich zur Aussprache zwischen den beiden Schlägern. Am Ende holt Righty sein Akkordeon hervor und stimmt eine Melodie an, die alle Streitigkeiten auf dem Platz vergessen lässt. Delikates Intermezzo: Ein Insider-Interview mit „Brickles“, dem jüngeren und besser aussehenden Bruder von „Pong“, der frustriert darüber ist, ewig im Schatten des großen Bruders stehen zu müssen. Nach Jahren der Demütigung schmiedet „Brickles“ bereits finstere Rachepläne, um den verhassten Bruder vom Thron zu stoßen. Und wie haben wir uns in Pac-Man getäuscht. Dauergrinsender, pillenfressender Glückskeks? Mitnichten. Der legendäre Videospielheld ist ebenso wie der „Pong“-Ball innerlich zerfressen von der Monotonie seines Daseins. Ohne jedes Zeitgefühl irrt er Tag für Tag durch finstere Irrgärten ohne Ausweg, gejagt von geisterhaften Gestalten – „phantoms of my past who would devour me if I gave them the chance“. Entnervt von der dröhnenden, immergleichen Musik und desillusioniert nach einer endlosen Reihe gescheiterter Fluchtversuche bleiben ihm nur die kurzen Glücksmomente, in denen er nach dem Verspeisen einer Bonuspille mit sadistischer Freude seine Peiniger durch das Labyrinth treiben kann. Selbst das primitive Pixelgeballer „Asteroids“ wird in den Köpfen der Fans noch zu den Drogeneskapaden eines von seinem Bildschirm aufgesaugten Nerds, der vollkommen stoned versucht, außerirdische Steroidfabriken zu vernichten und in eine Beziehungskrise zwischen Terminator und Predator gerät, um am Ende herauszufinden, dass nicht nur Darth Vader sein Vater, sondern unglücklicherweise auch noch Yoda sein Onkel ist. Von den „Canterbury Tales“ bis „Star Trek“: Die Geschichte der Fanfiction Natürlich gab es Fanfiction schon lange vor dem Computerspiel. Wie lange genau, ist abhängig davon, wie weit man den Begriff fasst: Zählt man auch mündliche Erzählungen dazu, so hat es Fangeschichten im Grunde schon seit Beginn des Erzählens gegeben, da in der mündlichen Überlieferung immer wieder beliebte Motive aufgegriffen, verändert und erweitert wurden. Eines der ältesten Beispiele für das Schreiben von Fangeschichten zu einem bekannten literarischen Vorbild ist John Lydgates „The Siege Of Thebes“, eine inoffizielle (und ziemlich miserabel geschriebene) Fortsetzung von Geoffrey Chaucers „Canterbury Tales“ – entstanden im Jahr 1422. Fanfiction als Beschäftigung einer Gruppe von Hobbyautoren mit einem gemeinsam angehimmelten Kultwerk entstand allerdings erst erheblich später: Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg schlossen sich Fans der „Sherlock Holmes“-Krimireihe zusammen, um gemeinsam Fortsetzungen der Abenteuer des britischen Detektivs zu schreiben. Ende der sechziger Jahre entstand mit dem bis heute andauernden Fankult um die „Star-Trek“-Reihe ein neuer wichtiger Impuls für die Entwicklung der Fanfiction-Szene. In Fanmagazinen wie „Spockanalia“ sponnen Hardcore-Trekkies die Abenteuer ihrer geliebten Serienfiguren weiter und ließen in so genannten Slashfics auch schon mal das Feuer der Liebe zwischen Captain Kirk und Mr. Spock entflammen. Mit der Verbreitung des Internet in den Neunzigern erlebte die Fanfiction ihren entscheidenden Boom: Waren es bisher nur kleine, eingeschworene Kreise von Hobbyautoren gewesen, die in selbst gemachten Magazinen ihrem Kultobjekt huldigten, so ließen nun die einfachen Publikationsmöglichkeiten des World Wide Web die Szene explosionsartig wachsen. Überall entstanden Fansites, die neben Bildern, Interviews und News rund um die geliebten Fernsehserien, Bücher, Kinofilme, Games auch von Fans geschriebene Kurzgeschichten anboten. Mittlerweile ist die Community so stark geworden, dass es eigene Webarchive nur für Fanfics gibt, auf denen man sich Abertausende Geschichten, Gedichte und Lieder zum Lieblingsspiel mitsamt Altersfreigaben und Leser-Ratings zu Gemüte führen kann. Trotzdem: Auch wenn die Zahl der Autoren stark angestiegen ist, kann man als Schreiber von Fanfiction über die jeweilige Fanszene hinaus kaum zu Ruhm gelangen. Grund dafür ist die problematische Urheberrechtslage. Schließlich bedienen sich die Fanfic-Schreiber eines vorgegebenen Universums von Figuren und Ereignissen, das bis ins kleinste Detail rechtlich geschützt ist. Angesichts der großen Popularität von Fangeschichten gerade im Computerspielbereich ist seit einigen Jahren zu beobachten, dass die Publisher von Games Lizenzen an pro- fessionelle Autoren vergeben, die dem angebotenen Videospiel im Fließbandverfahren produzierte Romanreihen zur Seite stellen. Offensichtlich nicht ohne Erfolg: Erst kürzlich erklomm der offizielle Roman zum Spiel „Splinter Cell“ die Bestsellerliste der „New York Times“. www.deviantart.com, www.sheezyart.com, evilasylum.com/fan/mpreg/, www.cubeit.com/ctimes/, www.fanfiction.net Text: Danny Kringiel, Illustration: ITF Grafik Design
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von Volker Hansch / Januar 10th, 2006 /

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