Kurzurlaub

Kurzurlaub

Nirgends auf der Welt gehört das Videospielen so sehr zum Leben wie in Japan. Ein Besuch in der Arcade-Halle – für viele Japaner eine Auszeit vom Alltag.

Der Mann im schwarzen Anzug ist offensichtlich gerade von der Arbeit gekommen. Er lehnt seine Aktentasche gegen den riesigen "Guitar Freaks V2" Automaten, ein Gitarrespiel, bei dem man im richtigen Moment die richtige Taste auf dem Gitarrenhals greifen und mit der rechten Hand die passende Zupfbewegung machen muss. Er lockert die Krawatte, knöpft das Jacket auf und schwingt sich gekonnt den massiven Gitarrencontroller um. Zum Stakkato eines schnellen Rockriffs wippt er locker mit dem Fuß. Im Nu klettert das Combometer auf dem Bildschirm auf 240 erfolgreiche Griff-/Zupf-Kombinationen ohne Fehler in Folge. Wenn man mich fragt, gehört der Mann nicht hinter einen Schreibtisch, sondern auf die Bühne. Ich befinde mich in einer der zahlreichen Spielhallen im Tokioter Stadtteil Akihabara, auch Electric Town genannt. Hier reiht sich ein Elektronik-Kaufhaus an das nächste, zwischendrin immer wieder "Entertainment Center". Auf gut Deutsch: Spielhallen. Vor dem Eingang dieser Spielhalle steht ein Automat mit zwei riesigen afrikanischen Congas. Als ich die Spielhalle betrete, steht dort gerade ein junger Mann und trommelt sich mit daumendicken Schlagstöcken in Trance. Hinter ihm auf dem Bürgersteig eine kleine Ansammlung von Menschen, andächtig lauschend, anerkennend nickend. Im ersten Stock dann die Automaten für Kinder. Zwei Mädchen stehen vor einem besonders bunten Exemplar, das Spielprinzip verstehe ich nicht, aber sie haben offensichtlich großen Spaß. Fein säuberlich geparkt vor ihren Füßen: die Schultaschen. Hier spielt ja einfach jeder! Ich will auch mitmachen. Eine halbe Stunde stehe ich bei einem von vier "F-Zero GX" Sci-Fi-Rennspiel-Automaten an. Eine Achterbahn auf vier Quadratmetern: Die kräftigen Hydraulikarme, an denen die Kabinen aufgehängt sind, rütteln die Insassen derartig durch, dass mir beim Zuschauen schon blümerant wird. Doch solche Gedanken helfen nicht beim Vorhaben, an die zu Hause an der Konsole bei "F-Zero GX" erspielten Bestzeiten anzuknüpfen. Endlich darf ich in meinen Gleiter klettern. Meinen Kontrahenten, einer jungen Mutter und ihren beiden Töchtern, gönne ich nur ein mildes Lächeln, dann kuschele ich mich in mein enges Cockpit. Anderthalb Runden später ist meine Überheblichkeit verflogen. Ich bin Letzter, mein Renngleiter auf dem Bildschirm ist von etlichen Kollisionen zermürbt und raucht bedenklich. Wie ein nasser Sack werde ich in meinem Cockpit hin und her geworfen, der Versuch, Herr der Lage und des Lenkrads zu werden, scheitert ein weiteres Mal, dann explodiert mein Gefährt auf dem Bildschirm. Doch statt mich mit einem "Game Over" zu entlassen, damit ich mich davonstehlen kann, während Mutter und Töchter um die ersten Plätze streiten, wird ein neuer Gleiter bereitgestellt, und eine Runde später noch einer. Nach drei Runden ist der Spuk endlich vorbei. In jeder Hinsicht geschlagen falle ich fast aus dem Automaten, wanke auf unsicheren Beinen zum Ausgang. Die Mutter und ihre beiden Töchter lächeln zum Abschied milde. Um die Arcade-Kultur in Japan zu verstehen, muss man die japanische Kultur verstehen. Leben in Japan heißt, jeden Tag in einem engen Korsett aus Ansprüchen, Regeln und Verhaltenskodexen zu verbringen. Kinder widmen sich mit Leib und Seele der Schule, Erwachsene ihrem Job. Außerdem gibt es in größeren Städten, zum Beispiel Tokio, kaum Grünflächen. Die Spielhallen in Japan sind also Spielplätze. Für die Kinder und für die Erwachsenen. Text: Michael Hengstenberg
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von Volker Hansch / Juli 10th, 2006 /

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