Bully The Kid
Schon lange vor seinem Erscheinen sorgte das Rockstar-Game „Canis Canem Edit“ – damals noch unter dem Titel „Bully“ – weltweit für Empörung. Als „Columbine Simulator“ verschrien, rief es Eltern, Presse und Experten auf den Plan. Aber wie viel Skandalpotenzial steckt wirklich in dem Internats-adventure um das Problemkind Jimmy?
Der Spieleentwickler Rockstar ist weit über die Gemeinde der Gamer hinaus bekannt. Bekannt vor allem für sein Massenmörderspiel "Manhunt", bekannt für seine "GTA"-Serie, in der es darum geht, sich in einer Gangster-Hackordnung nach oben zu dienen. Bekannt für die "Hot Coffee Mod", die in "GTA San Andreas" versteckte Möglichkeit, den Protagonisten CJ Sex haben zu lassen. Man könnte auch sagen: Bei all jenen, die noch nie ein Rockstar-Spiel gespielt haben, und nur diese drei Dinge über den Entwickler wissen, ist er eher berüchtigt. Als Rockstar dann ein Spiel ankündigte, in dem es um den Internatsalltag eines 15-jährigen Jungen gehen sollte, und dieses "Bully" nannte, war Ärger quasi vorprogrammiert. "Bullying" nennt man das Schikanieren von Schwächeren durch ihre Mitschüler - und dieses Phänomen ist an Schulen in Amerika und England ein Riesenproblem. Ein Spiel mit dieser Thematik und diesem Namen - eine reine Provokation? Wenn "Bully" als solche gemeint war, ging der Plan auf ganzer Linie auf. Umgehend machten besorgte Anti-Bullying-Organisationen - und davon gibt es eine Menge - , Pädagogen und Politiker gegen das Spiel mobil. Allen voran mal wieder der selbst ernannte Anti-Games-Anwalt Jack Thompson. Der hatte auch sofort das passende Etikett parat: "Columbine Simulator". Mit dieser Anspielung auf den Amoklauf zweier Schüler auf der Columbine-High-School wurde Thompson weltweit zitiert. "Bullys" Schicksal schien besiegelt. Das Bizarre dabei: Bis dato hatte noch niemand das Spiel gesehen. Es gab nur ein grobes Setting und einen Titel. Trotzdem war für viele Leute sofort klar, worum es bei "Bully" gehen musste: andere Mitschüler zu schikanieren und vielleicht sogar zu töten. Und wie reagierten die Entwickler von Rockstar auf die Anschuldigungen? Ruderten sie zurück? Entschuldigten sie sich? Erklärten sie, dass alles ein großes Missverständnis sei? Keineswegs. Rockstar-Pressesprecher Rodney Walker ließ lediglich verlauten: "Am Ende wird ,Bully' für sich selbst sprechen. Und die Leute werden sehen was es ist und was es nicht ist." Eineinhalb Jahre und viele, viele Unterstellungen, Befürchtungen und Drohungen später spricht "Bully" für sich selbst. Mittlerweile heißt das Spiel "Canis Canem Edit" - zumindest in Europa und Australien. Das ist Lateinisch und heißt so viel wie Hund frisst Hund. Es erzählt die Geschichte des 15-jährigen Problemkindes Jimmy Hopkins, das von seiner Mutter und ihrem reichen neuen Freund für ein Jahr in ein Internat gesteckt wird, damit die beiden ungestört eine ausgedehnte Kreuzfahrt unternehmen können. Unangenehmerweise ist die Bullworth Academy das härteste Internat Neu-Englands. Nerds, Rocker und andere Schülergangs stehen in erbitterter Feindschaft zueinander. Prügeleien und Ärger scheinen an der Tagesordnung. Genau das richtige Setting für ein Schulhof-"GTA" also, könnte man denken. Es gibt Gangs und Gewalt und jede Menge Möglichkeiten, sich Ärger einzuhandeln. Vielleicht hatten Thompson und die anderen doch Recht? Vielleicht wird Jimmy sich als erstes eine Knarre besorgen, ein Auto klauen und eine Spur der Verwüstung auf dem Schulgelände hinterlassen? Nichts von dem passiert. Gut, als Jimmy das erste Mal auf sein Zimmer will, um sich seine Schuluniform anzuziehen, lauern ihm ein paar Schläger auf. Diese harmlose Prügelei am Anfang ist aber eher dem Spielfluss geschuldet als eine Einstimmung auf den Geist des Spiels. Es ist ein kurzes Tutorial für das Kampfsystem. Die Kämpfe erinnern dabei eher an die eigenen, harmlosen Pausenraufereien. Zwar gibt es einen Baseballschläger, mit dem man zuhauen kann, und einige herbere Schlag- und Tritt-Kombos. Aber am Ende bleibt es eine Schulhofprügelei. Niemand stirbt, es fließt kein Blut, und ist der Gegner geschlagen, kann man "tausend Nadeln" bei ihm machen oder ihn in den Schwitzkasten nehmen und mit der Faust über den Kopf rubbeln, bevor er aufsteht und wegrennt. Auch die Frage nach den Referenzen für "Canis Canem Edit" liefert null Skandalpotenzial. Die Entwickler von Rockstar lassen sich gerne von Film- und Popkultur inspirieren, das wissen wir schon seit "GTA" und der überaus beseelten Filmversoftung "The Warriors". Doch dieses Mal sind die Vorlagen weit weniger düster und cool, sondern ziemlicher Mainstream: "High-School- und Internatsfilme", lautet die Antwort. Deswegen ist "Canis Canem Edit" auch keine knallharte Abrechnung mit den Geschehnissen auf der Columbine-High-School wie Gus van Sants "Elephant" oder ein Spiel in der Tradition nachdenklicher Coming-of-Age-Klassiker wie "Breakfast Club". Stattdessen orientiert sich "Canis Canem Edit" an leichtherzigen bis pubertären Komödien wie "Ferris macht blau", "American Pie" - und sogar "Harry Potter". Spätestens hier wird klar: Rockstar hat keineswegs vor, einen provokativen Titel im Stile von "Manhunt" auf den Markt zu bringen. Sondern eine Hommage an die Schulzeit. Protagonist Jimmy geht es darum, in der Bullworth Academy seinen Weg zu finden. Nicht darum, sie zu beherrschen, sondern in dem komplexen Mikrokosmos High School seine Nische zu finden. Wo genau diese Nische sich befindet, entscheidet der Spieler. Denn wie "GTA" hält auch "Canis Canem Edit" neben einem Hauptplot jede Menge Sidequests bereit, die darüber entscheiden, wie angesehen du bei den verschiedenen Gruppierungen der Schule bist. Wenn du Eunice, dem dicken Mädchen, das vor den Toiletten weint, ihren Schokoriegel wiederbeschaffst, bekommst du nicht nur einen dicken Kuss, sondern auch mehr Respekt von den Nerds. Eine Eins im Englischunterricht, der im Übrigen ein Anagram-Minispiel ist, bei dem man in kurzer Zeit aus einer Reihe von Buchstaben möglichst viele verschiedene Wörter bauen muss, hebt nicht nur deinen Respekt bei Lehrern. Die Note verbessert auch deine Kommunikations-Skills. So kannst du dich das nächste Mal, wenn dir ein anderer Schläge androht, geschickt aus der Affäre quatschen - und sogar Mädchen leichter dazu überreden, mit dir zu knutschen. Zum Unterricht zu gehen wird im Übrigen genauso empfohlen wie sich nicht dabei erwischen zu lassen, wie man Stinkbomben zündet, mit einer toten Ratte nach einem Mädchen wirft oder einen Typen in seinen eben von dir geknackten Spind sperrt. Denn überall patroullieren Aufpasser. Und wenn sie dich erwischen, gilt es abzuhauen und im nächstgelegenen Mülleimer unterzutauchen. Kriegen sie dich, setzt es nämlich unendlich langweilige Strafen wie Rasen mähen. So ist "Canis Canem Edit" also unterm Strich tatsächlich ein Schulhof-"GTA". Und trotzdem ganz anders, als alle es erwartet hätten. Der Humor, die neuenglische Stadt um die Bullworth Academy, die man mit Fahrrad, Bus und Skateboard durchcruisen kann, die Minigames und Aufgaben - alles atmet die Seele des Rockstar-Bestsellers. Da gibt es BMX- statt Autorennen. Aufgaben, bei denen man in einer bestimmten Zeit von Punkt A nach Punkt B kommen oder eine bestimmte Anzahl von Dingen einsammeln muss. Hinzu kommt noch dieselbe Ästhetik, die fast vermuten lässt, dass die Bullworth Academy nur wenige hundert Meilen den Highway rauf von San Andreas entfernt liegt. Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass Rockstar für "Canis Canem Edit" einfach ein Schulhof-Setting über das "GTA"-Grundgerüst gezogen hat, anstatt ein wirklich neues Spiel zu erfinden. Und das ist am Ende der einzige Aufreger des Spiels. "Canis Canem Edit" ist weit davon entfernt, ein Columbine-Simulator zu sein. Rückblickend wirkt die Ankündigung des Internatsabenteuers "Bully" fast wie ein Dumme-Jungen-Streich, den Rockstar den Medien gespielt hat. Eine durchschaubare Provokation, auf die sowohl die Presse als auch selbst ernannte Sittenwächter wie Jack Thompson prompt hereingefallen sind. Das macht Sinn. Denn eigentlich kam die Firma Rockstar doch schon immer eher wie eine Clique von Rabauken rüber als wie der ernst zu nehmende Entwickler von Spielebestsellern, der sie ist. Ist "Manhunt", mit etwas Abstand betrachtet, nicht eher ein offensichtlicher Scherz über die Gewalt in Computerspielen, ein Versuch, seine Grenzen als Spieleentwickler auszutesten? Oder die "Hot Coffee Mod", deren etwas verklemmte Sexanimation für so viel Empörung sorgte: Ist sie nicht eher pubertär als pornografisch? Sind das nicht am Ende alles Streiche, vergleichbar mit denen, die Jimmy seinen Lehrern und Mitschülern an der Bullworth Academy spielt? Sind Rockstar und seine Spiele nicht eigentlich viel harmloser, als die Medien es sich eingestehen wollen? Denn ganz ehrlich: "Canis Canem Edit" ist nicht nur ein absolut unproblematisches Spiel, sondern geradezu unschuldig. Unschuldiger als "GTA" sowieso. Aber auch unschuldiger als die Realität an amerikanischen Internatsschulen. In "Canis Canem Edit" werden Schlüpfer stibitzt, anstatt in die Räume der Mädchen zu schleichen, um ungeschützten Sex zu haben. Seinen Energiebalken lädt man im Spiel mit Softdrinks auf, anstatt sich in dunklen Schulhofecken mit Koks und Amphetaminen frisch zu machen. Und anstatt in der begehbaren Stadt rund um die Bullworth Academy nach einem Laden zu suchen, in dem Alkohol an Jugendliche verkauft wird, macht man Besorgungen für die Köchin. Wie sagte Rockstar noch selbst? "Harry Potter" lässt grüßen. Text: Benjamin Maack