Angriff aus Fernost
Shooter sind in Japan nicht besonders beliebt. Genauer gesagt: Japanern wird von Egoshootern schlecht. Wie also kommt es, dass ausgerechnet ein japanisches Entwicklerstudio sich daranmacht, einen Vorzeige-Shooter für die Xbox 360 zu programmieren? Und: Was kann dabei überhaupt herauskommen? Erstaunlich viel Gutes, wie "Lost Planet" beweist
Wenn wir von „Lost Planet“ weltweit mehr als eine Million Spiele verkaufen, dann wäre das, als würde Japan die Fußballweltmeisterschaft gewinnen. Sagt Keiji Inafune und lacht. Aber warum lacht der Mann? Sein voriges Spiel, „Dead Rising“ für die Xbox360, hat gerade die 900000-Stück-Marke durchbrochen. Mit seinem Entwicklerstudio Capcom hat er Videospiel-Meilensteine wie „Mega Man“, „Onimusha“ und nicht zuletzt „Resident Evil“ realisiert, die sich weltweit millionenfach verkauften. Wo also ist der Witz? Ganz einfach: „Lost Planet“ ist der erste klassische 3D-Shooter von einem japanischen Entwicklerstudio. Shooter, in Europa und den USA immer noch das beliebteste Videospielgenre, haben in Japan einen schweren Stand. Der Grund: Japanische Spieler haben Probleme mit der typischen Steuerung von 3D-Shootern, bei der die Bewegungen der Spielfigur und ihre Blickrichtung getrennt voneinander koordiniert werden müssen. „Motion Sickness“ nennt sich das Symptom und bedeutet: Japanern wird von Egoshootern schlecht. „Eigentlich sind Japaner sehr offen, was neue Genres angeht“, versichert Inafune, auf diese Problem angesprochen. „Als ‚Doom‘ und andere Shooter herauskamen, haben viele Leute hier sie auch ausprobiert. Dann wurde ihnen von der herumschwankenden Kamera leider schlecht, und sie gaben auf, bevor sie sich daran gewöhnen konnten. Seitdem haben Shooter in Japan ein Stigma.“ Entsprechend konnte sich in der Capcom-Zentrale anfangs kaum jemand für die Idee von „Lost Planet“ erwärmen. Während man als Entwickler bei westlichen Publishern mit einem Egoshooter-Konzept fast immer offene Türen einrennt, weil der kommerzielle Erfolg quasi vorprogrammiert ist, war im Falle von „Lost Planet“ Überzeugungsarbeit nötig. Verkehrte Welt in Japan? „Wir mussten schon eine Menge Überzeugungsarbeit leisten“, erinnert sich Inafune. „Um bei der Fußballanalogie zu bleiben: Das war, als müsste man jemanden davon überzeugen, ein Riesenstadion zu bauen für einen Club, dessen Spieler noch nie gegen einen Ball getreten haben. Unser Glück war am Ende die Tatsache, dass wir bei Capcom mit unseren Spielen nicht nur auf den japanischen Markt, sondern auch sehr stark auf westliche Gamer zielen.“ Aha. Ein Shooter, made in Japan, gemacht vor allem für westliche Gamer. Wie sieht so was aus? Im Falle von „Lost Planet“ ziemlich gut. Schon lange vor dem angepeilten Erscheinungstermin im Januar 2007 fährt das außergewöhnliche Projekt die Lorbeeren gleich säckeweise ein. Die Fachpresse ist angetan. Und vergibt auf dem Gipfel der Begeisterung den „Best Of GC“-Award für das beste Xbox-Game der Games Convention 2006 an „Lost Planet“. Dabei bietet das Spiel bei einem ersten, schnellen Blick wenig Grund für so viel Überschwang. Einen 3rd-Person-Action-Shooter sieht man da auf dem Bildschirm, mit relativ traditionellen Waffen, relativ traditionellen Gegnern – nicht optisch, sondern traditionell im Sinne davon, wie man sie als Spieler zur Strecke bringt – und offensichtlichen Anleihen bei einem der unbestrittenen Könige des Shooter-Genres. Da flüchtet sich Inafune auch gar nicht erst in Ausreden: „,Halo‘ war der erste Shooter, mit dem ich etwas anfangen, bei dem ich mich der Faszination dieses Genres öffnen konnte. Ich hatte auch vorher schon andere Shooter gespielt, aber erst ,Halo‘ machte mir wirklich Spaß, nicht als Entwickler, sondern als Gamer.“ Damit auch seinen Mitarbeitern die Augen geöffnet würden, ordnete Teiji Inafune gegenüber dem kompletten Entwicklerteam das Spielen von „Halo“ an. „Nur damit es keine Missverständnisse gibt: Es ging mir nicht darum, mit ‚Lost Planet‘ einen ,Halo‘-Klon abzuliefern. Sondern darum, jedem Mitglied des Teams den Reiz eines Shooters aus dem Westen vor Augen zu führen.“ Es muss wohl eine Weile gedauert haben, bis auch der letzte aus dem Team mit ‚Halo‘ warm geworden ist, „doch am Ende liebten es alle. Erst dann begannen wir mit der Arbeit an ‚Lost Planet‘“. Trotz dieser Huldigung wäre ein Vergleich mit dem großen Vorbild tatsächlich vollkommen unangebracht. Denn obwohl „Lost Planet“ sich offensichtlich an den besten der westlichen Shooter gemessen hat, entwickelt das Spiel mit jeder Minute, die man es länger spielt, eine ganz eigene Faszination. Eine Faszination, deren Ursprung lange verborgen bleibt. Es ist nicht die Grafik, die mit zum Besten gehört, was man bisher auf der Xbox 360 gesehen hat und die an manchen Stellen vergessen lässt, dass diese Welt nur am Computer erschaffen wurde. Es ist auch nicht die Welt selbst, die mit ihrem Setting eines Eisplaneten irgendwo in der nahen Zukunft der Menschen zwar un-, aber nicht außergewöhnlich ist. Es sind auch nicht die Akriden, diese wie aus „Star Ship Troopers“ entlehnt wirkenden Alien-Gegner, obwohl die mit manch ihrer liebevoll ersonnenen Attacke selbst eingefleischte Shooter-Veteranen überraschen dürften. Und es sind auch nicht die Roboter, die man in „Lost Planet“ entern und das Geschick der Schlacht in Sekundenbruchteilen wenden kann. Nichts von alldem macht allein den Reiz von „Lost Planet“ aus – und doch dürfte keines dieser Elemente fehlen. Das Geheimnis von „Lost Planet“ ist die Liebe, der Perfektionismus, der jedem dieser einzelnen Teile zugedacht wurde. Natürlich gibt es Roboter oder Mechs schon lange in Videospielen. Capcom selbst legte mit „Steel Batallion“, einem Kampfroboter-Simulator inklusive Schreibtisch-füllendem Cockpit-Controller, die Benchmark in Sachen Mech-Action vor. Trotzdem fühlte es sich noch nie so überzeugend an, einen Kampfroboter zu steuern, wie in „Lost Planet“. Entert man dessen Kommandozentrale, wechselt nicht etwa einfach die Kamera in Bullaugenperspektive, und der Spieler stapft drauflos. Nein, in liebevoller Animation wird der „Startvorgang“ des Roboters gezeigt. Man hört die einzelnen Elektromotoren surren, während sich der Koloss langsam aufrichtet, schwankend auf die Beine kommt. Bei jedem Schritt erklingt eine ganze Sinfonie aus mechanischen Geräuschen, die einem ein ziemlich gutes Gefühl davon gibt, was unter dem Blechkleid gerade für ein Tanz aufgeführt wird. Springt man mit dem Mech in die Luft, so verstummen alle Geräusche in dem kurzen Moment, in dem man schwebt, sich kein Teil des Roboters mehr bewegt – nur um doppelt so laut wieder loszulegen, wenn die Kampfmaschine schwer in den Schnee zurückfällt. Das größte Glücksgefühl erfährt der Spieler hinter dem Steuerknüppel eines solchen Mechs aber dann, wenn er beide Waffenbuchten der Maschine mit schwerem Gerät aufgestockt hat. Rechts 400 Schuss im Maschinengewehr, Links 50 Schuss in der Kanone. „Für mich ist das einer der besten Momente in ‚Lost Planet‘“, zeigt sich Inafune sichtlich von seinem eigenen Spiel begeistert, „du steigst in einen dieser unglaublich robusten „Vital Suits“ mit ihrer überlegenen Feuerkraft und hast auf einmal Oberwasser. Du rennst nicht mehr davon, mit wenig Lebensenergie, ständig auf der Flucht vor den Gegnern. Sondern steigst ein, ziehst den Abzug durch, grinst, und denkst: Jetzt komme ich!“ Und wieder ist es die Detailverliebtheit der Entwickler, die das Überlegenheitsgefühl des Spielers untermauert. Wahrhaft infernalisch hämmert das Maschinengewehr sein glühendes Stakkato, mit einem blechernen Klingeln läuft die Trommel in der Feuerpause nach. Die Kanone wiederum explodiert mit einem blechernen, dreckigen, endgültigen „Pang!“, das man eher einem Panzergeschütz als einer Robokanone zugetraut hätte. Das mögen nur kleine Details sein, doch sie machen am Ende den Unterschied zwischen einem einfachen Vehikel in einem Videospiel und einem blechernen Anzug, den man überstreift, mit dem man als Spieler förmlich verschmilzt. Für Inafune ist die liebevolle Darstellung der Mechs dabei kein Zufall, sondern Ehrensache: „Um das zu verstehen, musst du unsere Kultur betrachten. In Japan wachsen die Kinder nicht mit einer Vielzahl von Spielzeugen auf, sondern vor allem mit Spielzeugrobotern. Überall wo du in Japan hingehst, findest du Sachen wie ,Gundam‘-Modelle (ein Mech-Anime, Anm. d. Red). Diese Fülle von Robotern im Fernsehen, bei Spielzeugen, in Comics, diese Selbstverständliche Coolness von Robotern für uns hat immens dabei geholfen, die ,Vital Suits‘ in ‚Lost Planet‘ so realistisch zu gestalten.“ Konsistenz, so dämmert es, ist das Zauberwort bei „Lost Planet“. Die Dinge, die es im Spiel gibt, sind nicht einfach da. Sie fühlen sich verdammt echt an. So wäre es ein Leichtes gewesen, die verschneite Welt von „Lost Planet“ einfach als Kulisse zu benutzen, eine zweidimensionale Schneetapete hinter das Gameplay eines 3rd-Person Shooters zu legen. Doch damit gaben sich die Entwickler von „Lost Planet“ nicht zufrieden. Sie wollten den Spieler die Welt, die sie dort erschaffen haben, fühlen lassen. So verlangsamen sich die Bewegungen von Wayne, wenn er durch den Schnee stapft, geben ein Gefühl dafür, wie anstrengend es sein muss, ebenso wie die Bewegungen der Mechs ein Gefühl dafür vermitteln, wie massiv diese Kampfmaschinen sind. Und jedes Mal, wenn das Gebell der Waffen verklingt, legt sich ein eisiges Schweigen über den verlorenen Planeten, pfeift ein kalter Wind um die Spielfigur auf dem Bildschirm. Und man fragt sich unwillkürlich, ob man den letzten Gegner nicht lieber am Leben hätte lassen sollen – nur um nicht so einsam zu sein. Der Welt, dem Setting ist übrigens auch die einzige echte Gameplay-Innovation geschuldet. Denn in „Lost Planet“ gibt es keine Medipacks, die man aufsammeln muss. Er gibt nur die so genannte Thermalenergie, die jedes Lebewesen und einige Objekte in sich speichern. Erledigt man einen Gegner oder lässt ein Ölfass hochgehen, wabert danach die orangene Thermalsuppe auf dem Boden, je nach Größe des Gegners oder Objektes in einer unterschiedlich großen Pfütze. Wird diese Thermalenergie aufgesammelt, füllt sie den Speicher des Spielers auf. Der Clou dabei: Der eigene Vorrat an Thermalenergie wird nicht nur dann dezimiert, wenn die Gegner einen Treffer landen oder man als Spieler von einem zu hohen Felsen springt. Die Wärme nimmt, der Logik einer Eiswelt folgend, konstant ab – und zwar rapide. Was das für den Spieler konkret bedeutet, erklärt Inafune gern. „Eine Sache, die mir bei Shootern aus den USA oder Europa immer wieder auffällt, ist das relativ niedrige Spieltempo. Sie verlangen vom Spieler, dass er sich vorsichtig durch das Spiel begibt, nicht entdeckt wird. Ich dagegen wollte ein Spiel machen, bei dem sich der Spieler nicht verstecken kann, sondern heraustreten muss aus dem Schatten, mitten rein in die Action. Das System der Themalenergie zwingt den Spieler, sich ständig vorwärts zu bewegen, ständig Risiken einzugehen.“ Und wie einen dieses Feature nach vorne peitscht. Von einem gegnerischen Roboter eine Rakete einzufangen, auf einmal die Wärmeenergie halbiert zu sehen, panisch nach Gegnern zu spähen, die man erledigen und sich ihre Wärme einverleiben kann, um, den dabei stetig sinkenden Energiehaushalt im Auge behaltend, mit letzter Kraft die Konfrontation mit dem schier übermächtig scheinenden Robotergegner zu suchen – das ist schon etwas Besonderes. Allerdings auch nicht so Besonders, dass man beim Spielen immer unweigerlich an eine Revolution im Shooter-Genre denken müsste. Und trotzdem fesselt „Lost Planet“ mehr als so mancher Shooter, der für sich in Anspruch nimmt, alles anders und damit besser zu machen als der Rest. Immer und immer wieder stürzt man sich mit unverhohlener Vorfreude in die einzelnen Level, oder genauer gesagt: in die Welt von „Lost Planet“. Genießt das Gefühl, wie beim Einstudieren einer Choreografie immer eleganter durch die so wunderbar ausbalancierten Passagen zu tanzen. Freut sich über kleine Details und große Gegner, die auch noch beim vierten Durchspielen eines Level erstaunen. Genießt das Feuerwerk an Effekten, das die Xbox 360 im besten Lichte strahlen lässt. Schon komisch. Es gibt so viele Widersprüche um „Lost Planet“. Die Tatsache, dass Inafune seine Chefs überreden muss, einen Shooter zu machen, wo doch jeder westliche Publisher vor Erleichterung seufzen würde, einen bodenständigen Verkaufsgaranten vorgesetzt zu bekommen. Die Tatsache, dass ein japanisches Entwicklerstudio einen Shooter macht, obwohl dieses Genre in Japan überhaupt nicht beliebt ist. Die Tatsache, dass in „Lost Planet“ wenig wirklich Neues steckt und das Spiel trotzdem frischer ist als viele westliche Kollegen, die für sich in Anspruch nehmen, ihr Genre umzukrempeln. Doch spielt man „Lost Planet“, so ergeben diese scheinbaren Widersprüche auf einmal einen Sinn. Wir zumindest setzen bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 auf Japan. Text: Michail Hengstenberg