Mal wer anderes

Mal wer anderes

Manchen reicht es nicht ein Manga zu lesen oder ein Videospiel zu spielen. Sie wollen in die Rolle ihrer Helden schlüpfen. Dafür fertigen sie in oft monatelanger Arbeit aufwendige Kostüne an. Cosplay nennt sich dieses Phänomen. Hier sind seine Protagonisten

Es gibt Leute, die investieren fast 1000 Euro in ihr Kostüm. Meins hat so 70 gekostet.“ Wie durch ein Bullauge betrachtet muss die Welt für Florian aussehen. Er lugt durch den obersten der drei Saugnäpfe auf seiner Verkleidung. Dünner Stoff verbirgt sein Gesicht. Der 24-Jährige hat sich als das lila Tentakel aus dem legendären Lucas-Arts-Adventure „Day Of The Tentacle“ verkleidet. Neben ihm steht sein Freund Peter. Auch er schaut durch einen Saugnapf in die Welt. Peter gibt das freundliche, grüne Tentakel. Leicht könnte man die beiden auslachen, ihnen sagen, dass sie aussähen wie verunglückte Kondome. Aber das macht hier niemand. Stattdessen drehen sich die Menschen mit bewundernden Blicken nach ihnen um. Einige kommen und fragen sie aus. Wie sie auf die Idee für die Verkleidung gekommen sind oder welche Stoffe sie benutzt haben, um sie zu schneidern. Andere jauchzen schon von weitem auf, ticken ihre Begleitung an, zeigen auf Florian und seinen Kumpel und rufen laut „Wow, geil! ,Day Of The Tentacle‘!“ Viele zücken ihre Digitalkameras und bitten höflich darum, ein Foto machen zu dürfen. In seinem normalen Leben hat Florian Lagerarbeiter gelernt und fährt von montags bis freitags Coca-Cola aus. Auf der Connichi ist er ein Star. Die Connichi in Kassel ist eine Convention für Manga, Anime und alles, was mit japanischer Popkultur zu tun hat. Dazu gehört auch Cosplay. Ein Phänomen, das bereits in den späten achtziger Jahren in Japan populär wurde und mit dem weltweiten Mangaboom Mitte der Neunziger auch nach Deutschland gelangte – und seitdem mehr und mehr Anhänger findet: Fast jeder auf der Connichi ist kostümiert. Florian ist ein bereits seit 1998 dabei. Ein Cosplayer der ersten Stunde, mit mittlerweile 21 Kostümen im Schrank. „Hier sind eben Gleichgesinnte, mit denen man sich über den ganzen Kinderkram – Zeichentrick, Comics, man kennt das ja – unterhalten kann“, sagt Florian. Sein seliges Lächeln kann man sogar durch das Tentakelkostüm sehen. Eigentlich geht es beim Cosplay darum, sich als Charakter aus einem Manga, Anime oder japanischen Videospiel zu verkleiden und dessen Verhaltensweisen nachzuahmen. Seltener werden Mitglieder japanischer Bands oder auch selbst ausgedachte Figuren mit Mangabezug „gecosst“. Game-Cosplays sind dabei am wenigsten gern gesehen und Kostüme nach amerikanischen Vorbildern eigentlich ein absolutes Tabu. Charaktere aus all diesen Bereichen trifft man aber trotzdem auf der Connichi. Einige Harry Potters, einen Jack Black aus „Fluch der Karibik“. Oder eben auch Florian und Peter, die Tentakel. Denn eigentlich sind all diese „Eigentlichs“ egal, wenn das Kostüm gut gemacht ist, der Cosplayer den Charakter überzeugend darstellt oder man einfach nur merkt, wie viel Spaß ihm das Spiel mit der Verkleidung macht. Natascha hat offensichtlich Spaß. Mit einer Gruppe von Leuten in Militärverkleidung stürmt sie, das Holzgewehr im Anschlag, durch die Menge, fordert: „Hände hoch!“ Sie ist komplett weiß gekleidet. Trägt einen Overall und eine Skimaske. Fragt man Natascha, ob sie und ihre Freunde „Counter-Strike“ cossen, erntet man einen vorwurfsvollen Blick. „Das ist ,Metal Gear‘“, erklärt sie, „und ich bin ein Arctic Trooper aus dem ersten Teil. Das ist der allererste Gegner, auf den man trifft. Den erkennt jeder echte ,MGS‘-Fan.“ Natascha ist ein echter „Metal Gear“-Fan. Sie hat alle Teile durchgespielt. Den ersten mittlerweile zum zwölften Mal. Als Cosplayerin ist die 19-Jährige erst das zweite Mal unterwegs. Ihre Premiere hatte sie vor zwei Monaten auf der Animagic, der zweiten großen Cosplay-Convention in Deutschland. „Da haben wir den ersten Platz im Gruppen-Cosplay gewonnen.“ Denn oft gibt es auf Cosplay-Conventions auch Wettbewerbe, bei denen man allein oder als Gruppe wie Natascha und ihre Freunde auf der Bühne einen Sketch oder ein kurzes Schauspiel vorführt. Kennen gelernt hat sie die anderen über das Internet. Auf Animexx.de, wo die Cosplay-Community Tipps und Tricks zur Herstellung ihrer Kostüme austauscht, kleinere Treffen verabredet oder Gruppen-Cosplay-Vorschläge macht. So kommen oft Leute zusammen, die sich vorher noch nie getroffen haben, einfach weil sie vom selben Comic oder Videospiel begeistert sind. In monatelanger Arbeit werden dann gemeinsam über E-Mail, Telefon und Chatrooms die Kostüme perfektioniert und eine Performance für den Wettbewerb geplant. Schaut man auf die Animexx-Seite, findet man schon jetzt Gruppen-Cosplay-Vorschläge für das nächste Jahr. „Zuerst ging es mir nur darum zu zeigen, dass ich ,Metal Gear‘-Fan bin“, erklärt Natascha, „jetzt mache ich auf jeden Fall weiter. Wegen meiner Freunde, die ich durch das Cosplay neu kennen gelernt habe.“ In Japan ist Cosplay inzwischen so populär, dass von den berühmtesten Cosplayern sogar Sammelkarten herausgebracht werden. In Deutschland dagegen gibt es momentan kaum eine Fangemeinde außerhalb der aktiven Szene. Vielleicht liegt es daran, dass auf die Frage nach den Stars unter den Cosplayern erst mal ein Schulterzucken folgt. Schließlich kennt sich der harte Kern. Entweder über die Animexx-Community oder von den Conventions. Hakt man trotzdem nach, lobt jeder einen engen Freund. Natascha erzählt von Guido, der mit ihr gemeinsam am „MGS“-Cosplay teilgenommen hat. Guido war auch ein Arctic Trooper. Er hat die Holzgewehre für sich und Natascha gemacht – damit sie gleich aussehen. Florian schwärmt von Peter, dem lila Tentakel, der vor jeder Convention für Wochen in seiner Werkstatt verschwindet und dort die durchgedrehtesten Konstruktionen entwickelt. „Peter ist nur knapp 1,60 Meter groß, aber der macht so riesige Kostüme, dass man den gar nicht übersehen kann. Morgen cosst er einen Magier aus ,Final Fantasy 9‘. Da ist allein der Hut so hoch, dass er fast zwei Meter groß ist – obwohl er in dem Kostüm auf Knien läuft.“ Obwohl die Verkleidungen wichtig sind, scheint es gar nicht so sehr um das Kostümieren an sich zu gehen. Eher wirkt es so, als sei das Spiel mit den Identitäten nur ein Vehikel für etwas ganz anderes. Vielleicht einfach dafür, sich mit anderen auszutauschen, gegenseitig ihre Arbeit an etwas zu respektieren und selbst Respekt zu ernten. Oder einfach darum, Freunde zu finden, die für die gleiche Sache brennen. Dass es aber noch um etwas viel Wichtigeres geht, versteht man erst, wenn man Marlene fragt, warum sie sich als als Ork aus „World Of Warcraft“ verkleidet. Was cool an denen ist. Dann nämlich schaut das klein gewachsene rothaarige Mädchen ganz verklärt durch seine runden Brillengläser. „Eigentlich alles. Sie sind stark, mächtig, ehrenvoll, gute Krieger“, antwortet sie, „Sie waren einmal ein schamanistisches Volk, bis sie durch Dämonen verdorben wurden. Okay, bei ,Warcraft‘ sind sie schon recht grob und dumm …“ Dann denkt die 17-Jährige noch einmal kurz nach und sagt entschlossen: „Manchmal wäre ich gerne wie die Orks.“ Wenn man Marlene fragt, warum sie sich als das vielleicht hässlichste Wesen im „World Of Warcraft“-Universum verkleidet, versteht man, dass es beim Cosplay um Schönheit geht. Denn wenn ein 18-jähriges Mädchen einen 400 Pfund schweren Ork verkörpert, dann kann das schön sein. Wenn das Kostüm gut gemacht ist, wenn sie das Wesen des Charakters überzeugend verkörpert, wenn sich die Liebe zu dieser Figur in ihrem Auftritt widerspiegelt. Jeder, dem diese Dinge gelingen, kann für ein Wochenende, abseits von gesellschaftlichen Normen und Schulhofmoden, schön sein. Das ist das Versprechen von Cosplay-Veranstaltungen wie der Connichi. Text: Benjamin Maack, Fotos: Benne Ochs
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von Volker Hansch / November 10th, 2006 /

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