Mass Effect

Mass Effect

Mit ihrem neuesten Spiel emanzipieren sich die Schöpfer von "Knights Of The Old Republic" von ihrer "Star Wars"-Vergangenheit und erschaffen eine eigene Science-Fiction-Mythologie mit moralischem Tiefgang

"Ich will mich nicht entscheiden!" - dieser Satz bringt meine Gefühle auf den Punkt. Leider erscheint er jedoch nicht im sonst so hilfreichen und flexiblen Dialogmenü am unteren Bildschirmrand. Stattdessen zücke ich als Commander Shepard, dem Helden von "Mass Effect", meine Pistole und ziele damit auf den Kopf von Wrex, einem hünenhaften Alien vom Planeten Tuchanka, der seinerseits sein Gewehr auf mich gerichtet hält. Das Verzwickte: Das Reptilienwesen mit dem breiten Maul und dem hohen Buckel ist nicht nur gefährlich, sondern mir auch in den letzten zwanzig Stunden ans Herz gewachsen. Wir sind zusammen von Galaxie zu Galaxie gereist, haben unwirtliche Planeten erforscht und eine menschliche Kolonie vor den Angriffen eines Roboterheeres verteidigt. Wenn es im Gefecht brenzlig wurde, war auf Wrex immer Verlass. Und auch in ruhigen Momenten, wenn wir an Bord meines Raumschiffs, der "SSV Normandy", von einem Einsatz zum nächsten unterwegs waren, konnte ich immer auf seine einsilbige, aber ehrliche Antwort bauen. Und nun das: Auge in Auge stehen wir uns gegenüber, bereit, unsere Kameradschaft mit einem einzigen Schuss zu beenden. Der Grund für diese scheinbar ausweglose Situation: Wir befinden uns auf dem idyllischen Planeten Virmire vor den Mauern eines Laborkomplexes, in dem eine Armee von willenlosen, aber äußerst kampfkräftigen Kroganern herangezüchtet werden soll. Wrex selbst ist Kroganer und seine Spezies vom Aussterben bedroht. Verständlich also, dass er daran interessiert ist, dass das Experiment gelingt. Um die Sicherheit des Universums zu wahren - und in nichts Geringerem besteht meine Aufgabe –, gibt es jedoch keine andere Möglichkeit, als die gesamte Anlage mit einer Atombombe in die Luft zu sprengen. Doch bin ich im Dienste der Pflichterfüllung bereit, einen treuen Freund zu opfern? Habe ich überhaupt eine andere Wahl?

Schwierige Entscheidung

Vor Fragen wie diese stellt "Mass Effect" den Spieler sehr häufig. Und das ist neu. Schon 2003 hatte das Entwicklerstudio Bioware mit "Star Wars: Knights Of The Old Republic" ein Spiel veröffentlicht, das dem Spieler erlaubte, Entscheidungen zu treffen, die den Spielverlauf maßgeblich beeinflussten. Man konnte als Jedi-Ritter für das Gute im Universum streiten oder die dunkle Seite der Macht mit all ihren verführerischen Möglichkeiten auskosten. Doch mit "Mass Effect", dem ersten Teil einer episch angelegten Rollenspieltrilogie, schlagen die Kanadier andere, ernstere Töne an. "Die klare Einteilung in Gut und Böse aus 'Knights Of The Old Republic' war uns auf Dauer zu einfach", erklärt Casey Hudson, der Project-Director von Bioware. "Diese Art der Schwarzweißzeichnung hätte nicht zu einem erwachsenen Spiel wie 'Mass Effect' gepasst. Commander Shepard trägt ungeheure Verantwortung. Folglich muss auch der Spieler Entscheidungen treffen, die ihm sehr schwer fallen, und ganz gleich, wie er sich entscheidet, weit reichende Konsequenzen nach sich ziehen." Und was das für Konsequenzen sind! Nicht nur die eigene Crew steht oft genug auf dem Spiel. Die Existenz aller Lebewesen des im Jahre 2183 erschlossenen Universums hängt vom Gelingen der Mission ab, die Commander Shepard von einem Sternensystem zum nächsten führt. Als erster Mensch wurde er dazu auserkoren, den Spectre beizutreten, den Hütern von kosmischem Recht und galaktischer Ordnung. Ausgestattet mit deren umfassenden Vollmachten, die ihn über jedes Gesetz stellen, begibt er sich auf die Suche nach den Reapern, einer allmächtigen Maschinenrasse, die der Legende nach alle 50000 Jahre wie aus dem Nichts auftaucht, um das All von jeder Form organischen Lebens zu säubern. Die Zeichen verdichten sich, dass dieser Zeitpunkt näher ist als gehofft.

"Können wir reden?"

Trotz der ihm aufgebürdeten Erlöserrolle wird Shepard im Spiel jedoch niemals zum Übermenschen ohne Persönlichkeit verklärt. "Wir wollen dem Spieler das Gefühl geben, dass es seine Geschichte ist, die erzählt wird, und nicht die eines vorgezeichneten Charakters", so Hudson. "Besonders wichtig war uns daher die Vergangenheit des Helden. Zu Beginn des Spiels kann man nicht nur das Aussehen und Geschlecht von Shepard bestimmen, sondern auch festlegen, welchen familiären Hintergrund er hat und wie sein Leben bisher verlaufen ist. Diese Lebensgeschichte hat Einfluss auf das gesamte Spiel und die Art, wie Menschen und Aliens auf ihn reagieren." Ist Commander Shepard eine Frau, muss sie sich dann und wann chauvinistische Sprüche anhören. Legt der Spieler am Anfang fest, dass Shepard der einzige Überlebende eines Alienangriffs ist, bei dem er seine gesamte Familie verlor, nehmen die Gesprächspartner im Laufe des Spiels Bezug darauf und zeigen Anteilnahme. Überhaupt zählen die Unterhaltungen, die Shepard mit den Mitgliedern seiner Mannschaft und anderen Figuren führt, zu den Glanzlichtern von "Mass Effect". Im gesamten Spiel wird mit über 20000 Dialogzeilen mehr gesprochen als in zwanzig Spielfilmen zusammen. Dass das nie langweilig wird, liegt einfach daran, dass die Charaktere wirklich etwas zu erzählen haben. So lauscht man etwa gebannt den hanebüchenen Berichten von Crew-Mitglied Garrus Vakarian über seine Zeit als Polizist auf der Raumstation Citadel, streitet sich mit Sergeant Ashley Williams über Politik, Rassismus und Religion oder lässt sich von ihr einfach einmal ihr Lieblingsgedicht vortragen. Alle Figuren haben Überzeugungen, Zweifel und Emotionen und scheuen sich nicht, darüber zu reden. Und gerade weil man nicht immer mit ihnen übereinstimmt, füllt ihr Mitteilungsbedürfnis die Spielwelt mit Leben.

Auf in den Kampf

Wer jetzt jedoch glaubt, "Mass Effect" sei vor allem eine interaktive Weltraum-Seifenoper, liegt falsch. Der klügste Schachzug der Entwickler besteht darin, diesmal ernst zu machen mit dem in "Knights Of The Old Republic" nur halbherzig eingelösten Versprechen, Action- und Rollenspiel zu vermählen. Wer mag, kann "Mass Effect" wie einen Third-Person-Shooter spielen, der je nach Wunsch mehr oder weniger taktische Elemente enthält. Da Shepard immer von zwei Mitgliedern seiner bunt zusammengewürfelten Crew begleitet wird, wenn er die "SSV Normandy" verlässt, kann er ihnen im Kampf Befehle erteilen, die sie ohne Murren ausführen. So ist er in der Lage, sie bei einer Begegnung mit feindlichen Aliens oder korrupten Regierungsoldaten vorauszuschicken, um sie die grobe Vorarbeit erledigen zu lassen, oder ihnen die Anweisung zu geben, sich zurückzuhalten, während er die Situation im Alleingang regelt. Jede überstandene Konfrontation bringt Erfahrungspunkte und Upgrades für Waffen und Rüstungen, die Shepard gerecht an sich und seine Crew verteilt. Seine ganze Faszination entfaltet "Mass Effect" jedoch erst, wenn man die vielen rollenspieltypischen Optionen zu nutzen lernt, die das Spiel einem anbietet. Je nach Herkunft und Ausbildung verfügen Shepard und seine Soldaten nämlich über unterschiedliche Fähigkeiten, die sich im Laufe des Spiels perfektionieren lassen. Zu den beeindruckendsten zählen die so genannten Biotik-Talente. Wer sie beherrscht, kann Gegenstände und Gegner per Telekinese in die Luft heben, Kraftfelder errichten oder einen Angreifer für kurze Zeit erstarren lassen. Und noch ein weiterer, für Rollenspiele typischer Aspekt wird in "Mass Effect" kultiviert: die Sidequest. Nicht genug damit, dass die Haupmission Shepard von der verschneiten Eiswelt Noveria zum Wüstenplaneten Edolus, von einer hoch modernen Raumstation in die abgelegensten Winkel des Alls führt. Immer wieder empfängt die "SSV Normandy" Notsignale von anderen Planeten. Überall wimmelt es von Menschen und anderen Lebensformen, die Shepards Hilfe bedürfen. Und da ist es wieder, das Problem mit den schwierigen Entscheidungen: Soll ich zielsicher dem roten Faden der Haupthandlung folgen oder mich von einer der vielen Nebenmissionen ablenken lassen? Kann ich nein sagen zu den verzweifelten Siedlern auf Feros, die mich darum bitten, ihnen bei der Nahrungssuche zu helfen? Soll ich eine Reporterin mit geheimen Informationen versorgen? Darf ich meine wichtige Mission gefährden, indem ich mich um ein paar Verwundete kümmere? "Mass Effect" zwingt mich, meine Antworten auf diese Fragen genau zu überdenken, denn es liegt einzig und allein an mir, wie sich die Geschichte entwickelt. Damit gelingt "Mass Effect", was bisher noch kein Videospiel geschafft hat: Alles, was ich tue, jedes Wort, das ich sage, hat Gewicht und hinterlässt Spuren im Spiel.

Das Spiel

"Mass Effect" sieht umwerfend aus. Und "Mass Effect" hat Fehler. Es spricht jedoch für die Stärke des Spiels, dass man über seine wenigen Schwächen gern hinwegsieht, um die bewegende Story um Shepard und seine Mission weiter zu erleben und sich an den schönen Sternenlandschaften, der utopischen Architektur, den schnittigen Raumschiffen und den ausdrucksstarken Gesichtern der Charaktere satt zu sehen. Wen kümmert es da schon, wenn das Spiel hin und wieder zu ruckeln beginnt und die detaillierten Texturen mit kurzer Verzögerung nachladen? Sicherlich niemanden, der sich länger als zwei Stunden auf das Spiel eingelassen hat. Diese im Vergleich zur wahrlich epischen Gesamtlänge sehr kurze Eingewöhnungszeit braucht es allerdings schon, um mit "Mass Effect" warm zu werden. Zu komplex fällt auf den ersten Blick die Bedienung der zahlreichen Menüs aus, zu vielfältig ist das Angebot an Möglichkeiten, das einem aus der Spielwelt entgegenschlägt, als dass man so spontan und unbedarft drauflosspielen könnte wie in einem Egoshooter. Unbedarftheit ist das genaue Gegenteil von dem, was "Mass Effect" von einem verlangt. Stattdessen stellt es die seltene Forderung, als Computerspiel ernst genommen zu werden. Ist man hierzu bereit, ist "Mass Effect" der in Erfüllung gegangene Traum eines jeden Science-Fiction-Fans. Und der erneute Beweis dafür, dass Bioware auch nach den Erfolgen von "Knights Of The Old Republic" und "Jade Empire" immer noch zu Höhenflügen imstande ist.

Fazit

"Mass Effect" kann es locker mit "Star Wars", "Star Trek", "Battlestar Galactica" und anderen Science-Fiction-Welten aufnehmen. Der Unterschied: Hier spielt das eigene Gewissen die Hauptrolle. Für Freunde von "Deus Ex: Invisible War", "Star Trek: Elite Force 2", "Unreal 2: The Awakening" Text: Oliver Klatt
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von Volker Hansch / Januar 10th, 2008 /

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