„Sehr Emotional“

"Sehr emotional"

Der Däne Jesper Juul ist Videospielforscher der ersten Stunde. Seit kurzem lehrt er an der renomnierten MIT-Universität in Cambridge. Uns verriet er, welchen Reiz Computerspiele auf die Wissenschaft ausüben und warum wir gerne beim Spielen scheitern

Gib's zu, Jesper: Als Videospielforscher sitzt du bestimmt den ganzen Tag vor der Konsole. Schön wär's! Doch vieles an meiner Arbeit unterscheidet sich kaum von der anderer Akademiker: Ich komme morgens in mein Büro und beantworte erst einmal meine E-Mails. Dann wälze ich Bücher, diskutiere mit Kollegen und Studenten und versuche zwischendurch noch, etwas Sinnvolles zu Papier zu bringen. Aber natürlich ist es für einen Videospielforscher auch notwendig, so viele verschiedene Spiele wie möglich auszuprobieren, um einen umfassenden Überblick zu bekommen. Oft reicht jedoch die Zeit nicht aus, um sie bis zum Abspann durchzuspielen. Wann hast du gemerkt, dass du dich wissenschaftlich mit Computerspielen auseinandersetzen möchtest? Das ist in meinem Fall eher zufällig passiert. Ich habe an der Universität von Kopenhagen viele Jahre lang Literaturwissenschaft studiert. Während des Studiums überkamen mich jedoch Zweifel, ob das überhaupt das richtige Fach für mich ist. Ob ich meine Abschluss jemals schaffen würde, stand für mich ehrlich gesagt in den Sternen. Parallel zu meinem Studium hatte ich jedoch begonnen, als Gamedesigner zu arbeiten und bereits einige Browsergames und Spiele für Kinder entwickelt. Irgendwann haben die beiden Bereiche angefangen, sich zu überlappen. Ich begann damals, mir Gedanken darüber zu machen, welche Bedeutung eine Geschichte für ein Computerspiel hat und was so faszinierend an Games ist. Daraus ergab sich schließlich das Thema meiner Abschlussarbeit: das Verhältnis zwischen Spielen und Erzählen im Computerspiel. Dass ich in den folgenden Jahren auch noch eine Doktorarbeit zum Thema Videospiele verfasst und jetzt eine Anstellung am MIT bekommen habe, konnte nur passieren, weil ich nie ernsthaft vorhatte, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Hätte ich das gewollt, wäre ich auf Nummer sicher gegangen und hätte ein etablierteres Forschungsfeld gewählt. Das Geheimnis der Computerspielforschung ist aber: Es macht einfach doppelt Spaß, etwas wissenschaftlich zu untersuchen, das selbst schon Spaß macht. Oder machen sollte. Spaß alleine ist aber sicherlich nicht die einzige Motivation für einen Akademiker. Nein. Es gab und gibt in Bezug auf Videospiele einfach eine Unmenge von offenen Fragen, die nach Antworten verlangen. Zum Beispiel: Wie haben sich Games über die Jahre entwickelt und warum? Wie funktioniert ein Computerspiel? Warum macht es mir und dir so viel Spaß? Und: Was ist überhaupt ein Computerspiel? Gute Frage! Was ist ein Computerspiel? Zuerst einmal ist ein Computerspiel ein Spiel, das einen Bildschirm benötigt und einen Rechenprozessor. Der legt die Regeln fest, nach denen gespielt werden soll. Der Unterschied zu Brettspielen ist vor allem der, dass die Regeln eines Computerspiels viel komplexer sein können, da sich der Computer viel mehr merken und viel schneller reagieren kann als ein Mensch. Ein Spiel wie "Die Sims" wäre als Brettspiel undenkbar, weil der Rechner ständig unzählige Parameter und Regeln kontrollieren muss, damit es funktioniert. Außerdem ist der Mensch als Spieler wichtig für jedes Computerspiel, denn er tritt gegen den Computer an und entwickelt ein emotionales Verhältnis zum Spielverlauf und zum Spielausgang. Aus alldem ergeben sich natürlich komplexe Fragen. Schauen deine Kollegen aus "ernsteren" Forschungsdisziplinen eigentlich auf dich herab, weil du dich den ganzen Tag mit etwas beschäftigst, das viele als Spielzeug abtun? Das kommt vor, allerdings nur sehr selten. Den wenigen Kritikern, denen ich begegne, fällt nie ein Grund ein, warum man sich nicht wissenschaftlich mit Computerspielen beschäftigen sollte. Etwa weil sie Spaß machen? Dann dürfte man sich an der Uni auch nicht mit Literatur, Musik oder Theater auseinandersetzen. Die Argumente sind zum Glück immer auf meiner Seite. Welche Ergebnisse deiner Forschungen haben dich bislang am meisten überrascht? Da gibt es einige. Ich habe mich beispielsweise eine Zeit lang mit der Frage beschäftigt, welche Bedeutung der Schwierigkeitsgrad für ein Computerspiel hat. Das erstaunlichste Ergebnis dieser Untersuchungen war für mich: Je mehr ein Spieler das Gefühl hat, für sein Scheitern an bestimmten Herausforderungen aus der Spielwelt selbst verantwortlich zu sein, desto mehr gefällt ihm das Spiel. Daraus lässt sich der nur scheinbar paradoxe Schluss ziehen, dass wir beim Videospielen einerseits gewinnen wollen, andererseits aber auch an Aufgaben scheitern müssen, um die Erfahrung genießen zu können. Wenn das Scheitern zum Spaß gehört, sind also alle Spieler Masochisten? Das glaube ich kaum. Das Entscheidende ist nicht der Aspekt des Scheiterns, sondern vielmehr das Gefühl der Eigenverantwortung, das einem durch das Spiel vermittelt wird. Darin sind Computerspiele extrem gut. Eine weitere Beobachtung, die mich dazu gebracht hat, meine Vorstellungen von Spielern zu korrigieren, war die, dass sich Hardcore- und Casual-Gamer nicht so leicht auseinanderhalten lassen, wie ich immer dachte. Viele Menschen spielen so genannte Gelegenheitsspiele, die nicht selten über einen sehr hohen Schwierigkeitsgrad verfügen, bis zum Exzess. Ich traf beispielsweise eine Frau, die vier Jahre lang das kostenlose Browserspiel "Jewel Quest" gespielt hat und dabei gar nicht mitbekam, dass "Jewel Quest 2" längt erschienen war. Für sie war der erste Teil einfach das Größte. Man neigt leicht dazu, diese kleinen, mit wenig Aufwand produzierten Spiele nicht ernst zu nehmen. Aber für viele Menschen sind sie ein wichtiger Teil ihres Lebens. /i>Was macht Computerspiele überhaupt für die Forschung so interessant? Spiele sind voller Widersprüche. Das macht sie zu Rätseln, die ich lösen möchte. Eines der wichtigsten Kriterien beim Spielen ist zum Beispiel, dass wir uns frei vorkommen und das Gefühl haben, machen zu können, was wir wollen. Wir entfliehen mit ihnen unserem durch Regeln, Pflichten und Konventionen geordneten Alltag. Andererseits ist das Meistern eines Videospiels ebenso harte Arbeit. Doch das scheint niemandem wirklich etwas auszumachen. Spiele beschränken dich sehr stark durch ihre Regeln und Aufgaben und geben dir gleichzeitig das Gefühl von nie gekannter Freiheit. Das ist faszinierend. Ist es für deine Arbeit als Spielforscher hilfreich, dass du gleichzeitig Spiele entwickelst? Das hat Vorteile. Ich verfahre zum Beispiel mit meinen Theorien ähnlich wie mit meinen Spielen. Nachdem ich sie ausformuliert habe, kommen sie in die "Beta-Phase" und werden von mir und meinen Kollegen ausgiebig auf Bugs getestet. Obwohl du als Literaturwissenschaftler angefangen hast, kritisierst du in deinen frühen Arbeiten die Annahme, Spiele seien im Wesentlichen Erzählungen, die mit Methoden der Literatur- oder Sprachwissenschaft untersucht werden sollten. Mittlerweile scheinst du anderer Meinung zu sein. Kannst du uns die Gründe für dein Umdenken erklären? Tatsache ist: Ein Spiel benötigt keine erzählte Geschichte, um ein gutes Spiel zu sein - nimm zum Beispiel "Tetris". Ich war lange Zeit der Auffassung, dass Storys schlicht keine Rolle spielen, wenn es darum geht, gute von schlechten Spielen zu unterscheiden. Und es gibt wirklich viele Games, die versuchen, eine große Geschichte zu erzählen und auf Seiten des Gameplays kläglich versagen. Die Regeln, auf denen ein Spiel basiert, erschienen mir lange Zeit viel wichtiger als die Story. Tatsache ist aber auch: Für viele Menschen ist die Geschichte, die sie zusammen mit den Spielfiguren erleben, sehr wichtig. Warum ist die wichtig? Sie erzeugt Mitgefühl mit den Helden und Nebenfiguren. Sie bindet den Spieler ans Spiel. Die erzählerische Ebene senkt die Hemmschwelle, sich an einem unbekannten Genre zu versuchen, weil man etwas über die Geschichte erfahren will. Ich habe mich davon überzeugen lassen, dass ich es mir mit meinem anfänglichen Urteil etwas zu leicht gemacht hatte. Es gehört zum Dasein eines Wissenschaftlers, dass er eine Theorie aufstellt, sie logisch bis zum Ende durchdenkt, zu anscheinend unzweifelhaften Schlussfolgerungen kommt und dennoch feststellen muss: Ich habe etwas übersehen, die Wahrheit sieht anders aus. In meiner Doktorarbeit habe ich daher versucht, die unterschiedlichen Auffassungen vom Spiel als Regelwerk und vom Spiel als Erzählung zu verbinden, um zu zeigen, dass sich beide Theorien keineswegs ausschließen müssen. Deine Doktorarbeit trägt den Titel "Half-Real". Welche Überlegung verbirgt sich dahinter, was ist "halb wirklich" an Computerspielen? Wenn du einen Drachen in einem Computerspiel tötest, geschieht das einerseits auf der fiktiven Ebene des Spiels. Es gibt in Wirklichkeit keine Drachen, und du selbst bist auch kein Held, der in der realen Welt loszieht, um gefährlichen Kreaturen zu jagen. Andererseits bist aber du es, der vor dem Bildschirm ganz real die richtigen Knöpfe zum richtigen Zeitpunkt drückt, reaktionsschnell Bewegungen ausführt und Entscheidungen trifft, die Folgen in der Spielwelt haben. Wenn du ein Spiel gewinnst oder verlierst, geschieht das wirklich. Realität und Fiktion vermischen sich beim Computerspielen. Die Spielsituation ist weder wirklich noch erfunden, sondern beides. Sie ist "halb wirklich", "half real". Gibt es neben dem Zusammenspiel von Regeln und Erzählungen, Realität und Fiktion noch andere Aspekte an Computerspielen, die du aus deiner wissenschaftlichen Sicht bemerkenswert findest? In letzter Zeit beschäftige ich mich viel mit der Bandbreite an Gefühlen, die Videogames beim Spieler auslösen. Es gibt zum Beispiel die weit verbreitete Auffassung, dass Computerspiele uns im Gegensatz zu Filmen und Büchern nicht oder nur sehr schwer zum Weinen bringen können. Ich teile diese Auffassung nicht. Zu jedem Zeitpunkt gibt es auf der Welt garantiert gerade eine Menge Spieler, die weinen. Zum Beispiel, weil sie vor ein paar Minuten ein Multiplayer-Match verloren haben, auf das sie sich durch hartes Training sehr lange vorbereitet haben. Games - besonders Mehrspielergames – sind ein sehr soziales Medium, und soziale Beziehungen sind immer sehr stark von Emotionen geprägt. Aber wenn mich ein Film oder ein Musikstück zum Weinen bringt, fühlt sich das doch ganz anders an als die Enttäuschung über ein verlorenes Spiel oder eine gescheiterte Mission. Das schon. Wenn du am Ende eines Liebesfilms weinen musst, weil dich das Schicksal der Hauptpersonen so sehr berührt, fühlt sich das nicht nur traurig, sondern auch irgendwie gut an. Wenn du in einem Spiel verlierst, bist du hingegen einfach nur traurig. Das ist der Unterschied. Aber das ändert nichts daran, dass die Reaktionen, die ein Spiel beim Spieler auslöst, oft sehr emotional sind. Videospiele berühren uns sehr stark, nur auf andere Weise, als das bei Filmen der Fall ist. Denn hier spielt wieder die Beziehung von Wirklichkeit und Fiktion hinein. Wenn du dich darüber freust, dass du eine besonders schwere Mission in einem Rollenspiel geschafft hast, freust du dich über dein reales Können, deine wirkliche Leistung und nicht über die Taten einer fiktiven Charakters. Wenn dich wiederum die fiktiven Feinde in einem Computerspiel angreifen, fühlst du dich ganz real bedroht, denn du könntest das Spiel verlieren. Das betrifft dich ganz persönlich. Folglich werden auch Gefühle, die ein Videospiel in dir hervorruft, viel intensiver erlebt. Ich behaupte daher: Computerspiele sind das emotionalste Medium, das es gibt. Jesper Juul wurde 1970 in Arhus geboren, der zweitgrößten Stadt Dänemarks. Nach seinem Studium promovierte er an der Technischen Universität Kopenhagen mit einer Doktorarbeit über Computerspiele. Das unter dem Titel "Half-Real" veröffentlichte Buch gilt mittlerweile als Standardwerk der Computerspielforschung. Zurzeit forscht und lehrt er am Gamelab des MIT in Cambridge. In seinem Blog "The Ludologist" berichtet er außerdem regelmäßig aus der Welt der Computerspielforschung. www.jesperjuul.net

Das MIT, die entspannte Elite-Uni

Das 1861 gegründete Massachusetts Institute Of Technology in Cambridge, USA, gehört zu den führenden Universitäten der Welt. Nicht weniger als 72 Nobelpreisträger hat die Hochschule seit ihrem Bestehen hervorgebracht. Trotz der extrem hohen Anforderungen an die eingeschriebenen Studenten ist das Universitätsleben von einer offenen, antiautoritären Haltung geprägt. So geht zum Beispiel die Hacker-Bewegung auf die Experimentierfreude einiger Informatikstudenten des MIT zurück. Auch "Spacewar", eines der ersten Computerspiele, wurde dort im Jahre 1962 programmiert. Um auf dem Gebiet der Computerspielforschung Akzente zu setzen, wurde das GAMBIT Gamelab ins Leben gerufen, ein Institut, an dem Koryphäen wie Henry Jenkins Videospiele unter die Lupe nehmen. Zudem veröffentlicht der universitätseigene Verlag MIT-Press jährlich mehrere Bücher zum Thema. http://gambit.mit.edu Interview: Oliver Klatt, Alfred Jansen
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von Volker Hansch / Mai 10th, 2008 /

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