Grimm

Grimm

Fortsetzungen kennt die Spielelandschaft viele. Aber wie wäre es mit einer Serie, von der jede Woche eine neue Folge erscheint? American McGee wagt mit einer Neuinterpretation von Grimms Märchen ein Experiment, auf das die ganze Games-Industrie schaut

Der Märchenerzähler ist grimmig. Die Volkssage "Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen" findet er geradezu lächerlich: In ihr zieht ein Bub in die weite Welt hinaus, fürchtet sich aber vor nichts und niemandem. Er übernachtet, ohne mit der Wimper zu zucken, in einem verwunschenen Schloss, befreit es von einer Plage und kriegt als Belohnung die Königstochter zur Frau. Erst als ihm seine Angetraute lebendige Karpfen ins Bett schüttet, zuckt er zum ersten Mal zusammen. So kann es nicht weitergehen, denkt sich der Erzähler und tritt in "Grimm" selbst in Aktion: Der Spieler besucht als Märchenonkel die Schauplätze der Volkssage, und überall, wo er hingeht, verdüstern sich Umgebung wie Handlung: Weiden werden zu Tümpeln, Blumenkästen verwandeln sich in Särge, und Menschen gehen grundlos aufeinander los. Dem Jungen, der auszog, das Fürchten zu lernen, wird derart eingeheizt, dass er schreiend das Weite sucht, als er sieht, wie sich seine Auserkorene in ein halbes Schwein verwandelt. Und der Erzähler schließt zufrieden sein Märchenbuch: "Mögen alle unsere Geschichten so gut enden. Bis zum nächsten Mal!" Jetzt heißt es warten. Eine Woche lang, bis zum nächsten Märchen. Denn "Grimm" ist "Episodic Content": ein Spiel, das nicht am Stück erscheint, sondern in einzelne Folgen aufgeteilt ist. Diese Idee häppchenweise konsumierbarer Inhalte wird schon seit Jahren auf Entwicklerkonferenzen und in Fachmedien diskutiert - zu sehr sind die Kosten für Blockbuster-Games explodiert. Doch die Revolution ist trotz vollmundiger Ankündigungen nicht eingetreten. Das Adventure "Fahrenheit" sollte bereits vor sechs Jahren in Form von zwölf monatlichen Episoden erscheinen, aber den Entwicklern Quantic Dream schien es dann doch keine gute Idee, jede Minifolge in einer bunten Box in die Läden zu stellen. Deshalb erschien das Game klassisch am Stück. Rituals Egoshooter "Sin Episodes" startete vor zwei Jahren tatsächlich als Episodic Content. Es sollte in neun Teilen veröffentlicht werden, wurde jedoch bereits nach dem Pilotspiel mangels Interesse eingestellt. Und das berühmteste episodisch geplante Game, "Half-Life 2" lässt sich viel zu viel Zeit zwischen seinen Folgen. Noch vor Jahren gab sich Gabe Newell, Kreativ-Chef des Herstellers Valve, im GEE-Interview euphorisch: ",Half-Life 2' wird sich in Serienform viel schneller weiterentwickeln, als es mit groß angelegten Veröffentlichungen möglich wäre." Pustekuchen! Nach der ersten, vier Stunden langen Folge dauerte es 15 Monate, bis die nächste erschien. Mittlerweile ist erneut ein Jahr vergangen, und von der dritten Episode existiert nicht einmal ein Screenshot. Wenn das Episodic Content sein soll, dann macht die ganze Industrie mit all ihren jährlich Aufgüssen von "Call Of Duty", "Rainbow Six", "Guitar Hero" oder "Fifa" schon immer Episodic Content. Auch "Grimm"-Schöpfer American McGee trägt nun dick auf: "Wir bringen das erste wirklich episodische Spiel heraus", behauptet der Entwickler von "Alice" und "Bad Day L.A.", "weil 'Grimm' sowohl in seiner Dauer, seinem Erscheinungsrhythmus als auch in seiner Distribution traditionell-episodischen Medien wie dem Fernsehen ähnelt wie kein anderes Game zuvor." Die Neuerzählung von Grimms Märchen umfasst 24 Folgen in drei Staffeln mit je acht Episoden, die im Wochenrhythmus veröffentlicht werden sollen. Die erste Staffel ist Ende Juli angelaufen, die zweite soll im Herbst beginnen, die dritte im Winter. So konsequent wäre noch kein episodisches Spiel erschienen. Selbst "Sam & Max Season 1 & 2" (PC) nicht, die Fortsetzung des Lucas-Arts-Adventures von 1993, mit seinem Rhythmus von zwei Monaten. "Kontinuierliche Veröffentlichun-gen sind wichtig", sagt "Sam & Max"-Macher Dave Grossman: "Wir haben bei der epi-sodischen Comicumsetzung 'Bone' gemerkt, dass die Spieler ein Game vergessen, wenn die Pause zwischen den Folgen zu lang ist." Joel DeYoung, Entwicklungschef der Rollenspielserie "Penny Arcade Adventures" (PC, Mac, Xbox Live Arcade, Playstation Network), stimmt zu: "Vier Monate sind ideal. Sonst könnten wir kein Spieler-Feedback in neue Folgen einbeziehen. Und wir wollen mit jeder Episode besser werden." Dass "Grimm" so nah dran sein kann am Senderhythmus einer Fernsehserie, liegt auch an neuen digitalen Distributionskanälen. Playstation Network (PSN), die Xbox Live Arcade, Wii Ware, Steam oder iTunes bieten Entwicklern die Möglichkeit, auch kleinste Spielehappen anzubieten. "Grimm" erscheint zunächst über Gametap, eine auch von Deutschland aus nutzbare amerikanische Plattform. In Gametap lässt sich gratis reinschnuppern, aber erst für eine Abo-Gebühr von 10 Dollar pro Monat öffnet sich der gesamte Spielekatalog. Da man zum Spielen immer mit dem Gametap-Server verbunden sein muss, gehören einem die Spiele nicht auf Dauer, sondern werden nach Ende des Abos unspielbar. Der schwarze Humor von "Grimm" lässt sich sogar kostenlos genießen: Die erste Episode wird als Werbung verschenkt, jede weitere kann am Tag ihres Erscheinens ebenfalls gratis gespielt werden - danach können nur Abonnenten darauf zugreifen. Demnächst werden bereits "gesendete" Episoden einzeln verkauft wie bei einer Fernsehserie, die zur Erstausstrahlung gratis im Fernsehen zu sehen ist und später auf DVD oder bei iTunes Geld kostet. "Ein Grund, warum wir auf episodische Inhalte setzen, ist der demografische Wandel unter den Spielern", sagt Ric Sanchez von Gametap: "Der PC-Spieler in den USA ist durchschnittlich 33 Jahre alt. Die meisten haben Job und Familie und nicht mehr die Zeit, 40 Stunden in ein Game zu investieren. Trotzdem wollen sie nicht nur Puzzlespiele zocken." Bei "Grimm" dauert jede Episode eine halbe bis dreiviertel Stunde - ideal für eine Session am Feierabend. Ebenso wichtig ist McGee, dass der Spieler einschätzen kann, wie lange ein Game dauert: "Untersuchungen zeigen, dass kaum Spiele durchgespielt werden", sagt er, "das liegt auch daran, dass keiner weiß, wie viel von einem Spiel noch übrig ist. Bei jedem Buch oder einer DVD kann ich sehen, was noch vor mir liegt." Das Potenzial von Seriengames erkennen derzeit immer mehr Entwickler. So startete gerade die episodische Fortsetzung von Sonys Survival Horror-Serie "Siren: Blood Curse" (PSN). Und die Versoftung der "Watchmen"-Comics, die iPhone-exklusive Umsetzung der Fernsehserie "Dexter" sowie "Wallace & Gromit's Grand Adventures" und "Strong Bad's Cool Game For Attractive People" von den "Sam & Max"-Machern Telltale sind angekündigt. "Grimm" wirkt dabei mit seinem Jump'n'Run-Gameplay am simpelsten. Und so treffend der Vergleich mit dem Fernsehen auch ist: Viele Aspekte einer TV--Serie wie Cliffhanger, das sukzessive Liebgewinnen der Hauptpersonen oder Querverweise unter den Folgen gibt es bei "Grimm" nicht. ",Grimm' ist nicht 'Lost'", sagt McGee, "es ist eher 'South Park': Jede Episode steht für sich, der Zuschauer kann immer einsteigen." Vielleicht mussten nach dem Scheitern von ambitionierten Projekten wie "Sin" oder "Half-Life 2" episodische Spiele auf die Simplizität von 'Grimm' heruntergekocht werden, um ein Fundament zu schaffen, auf das die Entwickler in Zukunft bauen -können. Aber auch in dieser Form präsentiert 'Grimm' ein Spielerlebnis, wie es zuvor keines gab. Mögen alle diese Geschichten so gut enden. Bis zum nächsten Mal.

Das Spiel

"Ich war immer schon fasziniert von dunklen Storys, Charakteren und Orten. Und gerade Märchen sind voller wilder Visionen und uralter Volksweisheiten", sagt American McGee. Aus dieser Faszination entstand bereits "Alice", seine düstere Neuinterpretation von Carolls "Alice im Wunderland". Nachdem seine folgenden Projekte "Scrapland" und "Bad Day L.A." künstlerisch wie kommerziell nicht an "Alice" heranreichten, gründete McGee in Schanghai sein Entwicklerstudio Spicy Horse. Und erschuf mit Kollegen aus dem ehemaligen "Alice"-Team das Spiel "Grimm". Das erinnert ein wenig an "De Blob": Man läuft als Märchenerzähler in verwunschenen Szenarien herum und muss sie kolorieren, um in neue Gebiete vorzustoßen. In "Grimm" jedoch spendet man nicht Glückseligkeit durch Farbe, sondern entzieht der Spielwelt jegliches Leben. Die Gegner aus dem Märchenwald können Grimm dabei nicht außer Gefecht setzen, sondern nur Teile der Dunkelheit wieder erhellen. Das Gameplay bietet außer einigen Hüpfpassagen keine Herausforderungen - die diabolische Freude, die dabei aufkommt, ist hauptsächlich der tollen Artdirektion zu verdanken. Und die ersten drei vorliegenden Folgen "Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen", "Rotkäppchen" und "Der Fischer und seine Frau" sind dann auch eine Mordsgaudi. Ob das Minimal-Gameplay zehn oder zwanzig Folgen später noch Spaß macht, muss McGee in den kommenden Monaten beweisen. Zudem sollte er sich auch die Frage gefallen lassen, ob das erzählerische Grundkonzept, Grimms Märchen in eine böse -Version zu verwandeln, inhaltlich wirklich funk-tioniert. Denn es handelt sich hierbei um keine Schwarzmalerei naiver Glücksbärchen- oder Teletubbies-Folgen - Grimms Märchen sind bereits in ihren Urfassungen recht abgründig. Und die Neuerzählungen, die der Spieler erzeugt, sind zwar lustig, machen die Geschichte aber lediglich ästhetisch blutiger und fäkaler, anstatt das Originalmärchen selbst das Fürchten zu lehren.
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von Volker Hansch / September 10th, 2008 /

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