"Ein Fest der Kunst"
Tommy Tallarico hat die Musik für mehr als 300 Videospiele komponiert, viele seiner Soundtracks sind heute Klassiker. Ein Gespräch über sein Bühnenprojekt "Video Games Live" und das Geheimnis seines Erfolgs
Videospiele seien die wichtigste Kunstform unserer Zeit, behauptest du. Aber geht es nicht eigentlich nur um gute Unterhaltung?
Die Spiele als solche sind natürlich Entertainment, aber ihre einzelnen Elemente können Kunst sein. Die Musik ist ein perfektes Beispiel dafür. Wenn ein Soundtrack so gut ist, dass er auch in der Stereoanlage lebt und atmet, dann ist er ein Kunstwerk. Wenn Blizzard zu "Warcraft" ein Buch herausbringen mit den Zeichnungen, Skizzen und der ganzen Schönheit ihrer Entwürfe, ist das für mich Kunst. Und wenn ich mir anschaue, was Entertainment in den vergangenen 100 Jahren ausgemacht hat, findet man erst das Radio, ab den Zwanzigern den Kinofilm, Fernsehen ab den Fünfzigern und heute das Videospiel. Eine neue Form der Unterhaltung wird also nur einmal innerhalb eines Menschenlebens erfunden - und es ist toll, an der neuesten beteiligt zu sein. Und noch dazu an einer, die nicht passiv ist und die sich derzeit zu einem Kommunikationsmedium für die ganze Familie entwickelt. Bisher traf man sich, um gemeinsam Filme anzusehen, und die einzige Aktivität bestand darin, nachher über den Film zu quatschen. Heute spielt meine Generation mit ihren eigenen Kindern aktiv die ganzen Spiele.
Musik in Videospielen galt noch bis vor Kurzem als schöne Nebensache - im Gegensatz zu den großen Soundtracks der Kinofilme.
Das hat sich massiv geändert. Während ein Soundtrack eines Spielfilms immer als Hintergrund verstanden werden wird, treibt Musik in Spielen die Handlung aktiv an und wird sozusagen Vordergrund. Das gibt mir als Komponisten viel mehr Freiheiten, da ich nicht linear arbeite wie beim Film, sondern ganz generell eine Emotion oder Stimmung vertonen muss. Wenn sich zum Beispiel in "Halo" die Musik verändert, weißt du, dass Feinde im Anmarsch sind - und weil das für dich als Spieler aktiv etwas bedeutet, wird die Musik zum antreibenden Faktor. Deswegen wird sie heute immer aufwendiger produziert und erscheint oft sogar auf CD. Die Soundtracks zu "Final Fantasy" werden von einigen mehr gemocht als die Spiele selbst.
Das heißt, die Videospielkompostion ist viel anspruchsvoller? Schürt das nicht Neid bei deinen Kollegen in Hollywood? Nein. Den Soundtrack zu "Advent Rising" zum Beispiel haben wir bei Paramount Pictures in Hollywood aufgenommen mithilfe all der Könner, die sonst mit preisgekrönten Komponisten zusammenarbeiten. Auch Armin Steiner war dabei, ein Oscargewinner, der an den "Matrix"-Filmen oder "Findet Nemo" beteiligt war. In einer Pause kam die Chef-Violinistin zu mir, es war ihre erste Aufnahme für ein Spiel, und sie war erstaunt, wie gut all diese kleinen musikalischen Einheiten in sich geschlossen funktionieren, während sie sonst während eines Filmdialoges 30 Sekunden dieselbe Note halten muss.
Magst du verraten, was ein gutes musikalisches Thema ausmacht? Manche Melodien gehen unter, während andere die Welt erobern. Bei Videospielen liegt der Fehler häufig darin, sich zu sehr an der Level-Umgebung zu orientieren. Man hockt da mit den Produzenten, und er will "Eismusik", weil wir gerade im Eislevel sind. Oder Dschungel-Drums, weil wir uns im Urwald befinden. Den spezifischen Klang der Umgebung zu finden, sollte aber nur ein i-Tüpfelchen sein. Ich konzentriere mich stattdessen auf die Emotionalität der Szene und die Situation: Hat die Figur gerade 200 Verfolger an den Hacken, spielt es keine Rolle, ob sie durch Wüste, Eis oder Urwald gehetzt wird. Auf ihre Panik kommt es an. Und darauf, welche Musik zuvor zu hören war. War sie getragen und ruhig? Und wie beeinflusst das die aktuelle Szene? Zudem schreibe ich für die Figuren des Spiels wiederkehrende Leitmotive. Das kennt man von "Star Wars": Wann immer Darth Vader den Raum betrat, hörte man sein musikalisches Thema. Wenn sich bei "Advent Rising" die bösen "Seekers" zum Angriff formieren, kündigt die Musik das bereits an, wenn sie noch gar nicht im Bild sind - und lässt den Puls des Spielers ansteigen.
Wenn die Arbeit mit wiederkehrenden Leitmotiven so wichtig ist, müsste Richard Wagner heute Videospiele lieben.
Ja, genau das sage ich den Leuten immer! Wenn Beethoven, Mozart oder Wagner heute leben würden, wären sie Komponisten für Videospiele und Kinofilme. Der heutige Beethoven ist für mich John Williams, der die Musik zu "Star Wars", von "Indiana Jones" und von "E.T." gemacht hat. Davon abgesehen wusste ein Beethoven auch, wo das dicke Geld zu holen ist.
Du scheinst das auch zu wissen. Und was für heutige Musiker eher ungewöhnlich ist: Du zeigst das auch. In einem kleinen Filmporträt im Netz hast du mal stolz dein riesiges Haus gezeigt und deinen Erfolg gefeiert.
Das ist wohl bei uns Amerikanern üblicher als bei euch. (lacht)
In der Tat. Und du verkörperst den "American Dream" nahezu prototypisch.
Das ist auch der Sinn der Sache. Es geht nicht darum, anzugeben und mein Ego raushängen zu lassen. Ich will zeigen: Wenn ihr wirklich hart arbeitet und mit eurer Berufung leidenschaftlich verschmelzt, werden Geld und Erfolg von selbst eintreten. Ich habe über die Jahre Hunderte von E-Mails von Menschen bekommen, die durch mein Beispiel wirklich inspiriert und motiviert wurden.
Du scheinst auch nie zur Ruhe zu kommen. Du komponierst, bist das Mastermind hinter der Konzertreihe "Video Games Live" und bist Mitglied in zig Organisationen. Wie organisierst du deinen Tag?
Mein Geheimnis ist, dass ich nur drei bis vier Stunden am Tag schlafe. Ich schwöre bei Gott, dass das stimmt. Nicht, weil ich ein Mutant wäre, sondern weil ich das, was ich tue, so liebe. Ich werte es nicht als Arbeit. Der Durchschnittsmensch schläft acht Stunden am Tag - ein Drittel des Tages! Über eine Spanne von 30 Jahren gerechnet hat der dann satte zehn Jahre davon im Schlaf verbracht. Jetzt nimm mein Beispiel: Ich schlafe nur vier Stunden aufgrund meiner Leidenschaft und natürlich auch meines Lebenswandels. Ich ernähre mich gescheit, trinke keinen Alkohol, rauche nicht. Vier Stunden statt acht. Heißt: Ich habe ganze fünf Jahre gewonnen. Stell dir vor, du müsstest gar nicht schlafen und dürftest die nächsten fünf Jahre am Stück durcharbeiten, um deine Projekte zu verwirklichen. Was könntest du alles auf die Beine stellen?! Das ist das Geheimnis. Kein Schlaf. Beethoven, da Vinci oder Michelangelo haben es ähnlich gemacht. Nicht, dass ich mich mit denen vergleichen möchte. (lacht)
Hast du niemals desillusionierende Erfahrungen in deinem Geschäft gemacht?
Die Spieleindustrie ist noch sehr jung, vergleichbar mit dem Stadium des Films in den Fünfzigern. Zu jener Zeit haben wenige Leute viel Gewinn aus dem Geschäft gezogen, es gab keine Gewerkschaften, die "Zuarbeiter" waren rechtlos. Daher versuche ich, Kreativen jene Regeln des Geschäfts beizubringen, die sie draufhaben müssen. Deswegen habe ich G.A.N.G. gegründet, die Game Audio Network Guild. Mit ihr haben wir eine Stimme, die gegenüber den Studios und Publishern selbstbewusst auftreten und sagen kann: "Ihr bezahlt uns ein Mal eine Festgage für die Musik und das war's, auch wenn das Spiel ein Bestseller wird? So läuft das nicht!" Die Filmindustrie hat 40 Jahre gebraucht, um Musiker ernst zu nehmen, heute verdienen Filmkomponisten Millionen von Dollar. Das haben wir mit G.A.N.G. in ein paar Jahren geschafft. Mein "Video Games Live"-Partner Jack Wall etwa komponierte die Musik für "Myst 3". Eine Filmfirma kaufte sie für "Peter Pan" an und bezahlte für 20 Sekunden Zehntausende von Dollar.
Interessierst du dich eigentlich auch für das fertige Game? Das heißt: Spielst du selbst - und wenn ja, welche Spiele schätzt du?
Meine Lieblinge sind "Shadow Of The Colossus", das zweite Spiel der "Ico"-Entwickler. "Fahrenheit" ist ein erstaunliches Meisterwerk aus einem kleinen Studio. Außerdem: "Guitar Hero", "God Of War" - das sind Spiele, die Awards verdienen, weil sie etwas grundlegend Neues probieren. Davon möchte ich mehr sehen anstatt noch einen Racer, noch ein Football-Spiel oder ein Skateboard-Nachfolger. Eines der größten Probleme der Industrie ist die "Sequelitis". Brauchen wir wirklich jedes Jahr ein "Splinter Cell"? Jedes Jahr ein "Need For Speed"? Jedes Jahr ein "Tony Hawk"? Wir brauchen neue Konzepte.
Härtere Spiele müssen heute viel einstecken und werden in den Medien immer wieder als mentales Training für Gewalt und Militarismus kritisiert. Wie stehst du dazu?
Ob es nun die blutrünstige griechische Tragödie war oder die Geburt des Rock'n'Roll: Immer denken Leute, die Jugend werde versaut und die Gesellschaft zersetzt. Als Shakespeare das erste Mal seine Stücke auf die Bühnen brachte, war das Geschrei groß - und heute ist es für uns große Kunst. Als Beethovens Musik zu seiner Zeit das erste Mal gespielt wurde, waren die Leute schockiert. Das klang nicht wie Bach, das war radikal neu, sprach ganz andere Emotionen an. Konservative Menschen verstehen neue Kunstformen nicht, sie interessieren sich nicht mal dafür. Fast alle, die Spiele niedermachen, spielen selbst nicht. Jemand, der mit ihnen aufgewachsen ist, kommt zu anderen Ergebnissen.
Zu seiner Zeit war das Shakespeare-Theater wie ein Rock-Event. Die Leute durften toben, essen, trinken, mitfeiern. Ist die von dir erdachte Konzertreihe "Video Games Live" eine Rückkehr zu dieser Art Theater?
Wir leisten zumindest etwas, das niemandem vorher gelungen ist. Wir tragen sinfonische -Musik in die Neuzeit und bringen sie einer neuen Generation nahe. Lasershow, Rock'n'Roll-Licht, die interaktiven Elemente und die ganze Action machen es zeitgemäß und attraktiv. Ich selbst bin zwar ein großer Klassik-Fan, aber die Realität ist doch, dass junge Menschen nicht in die Konzerthäuser gehen. Diese Kultur stirbt aus, dabei hat diese Musik so viel Kraft und Energie. Es nörgeln immer noch Leute herum, wie man das ernst nehmen könne, es sei doch bloß Videospielmusik. Aber diese Menschen haben die Musik nie gehört: Sie denken, Videospielmusik bestünde immer noch nur aus Bleeps und Klongs. Im Hollywood Bowl hatten wir 11000 Zuschauer, die Hälfte davon Spieler, die andere Hälfte Neugierige. Die stärkste Reaktion kam von den Nichtspielern, sie waren weggeblasen. Großeltern schrieben uns, sie hätten nie geahnt, wie beeindruckend Optik und Musik der Spielkultur heute sind und dass sie die Faszination ihrer Enkel jetzt verstehen. Die Schlagzeilen über Gewalt liegen wie eine dunkle Wolke über uns. Aber "Video Games Live" ist das genaue Gegenteil davon, es ist ein Fest der Kunst.
Tommy Tallarico, 40, hat entscheidend dazu beigetragen, Videospielmusik zu einer ernsthaften Kunstform zu erheben. Der Cousin von Aerosmith-Sänger Steven Tyler komponierte für mehr als 300 Spiele und erhielt über 30 Preise und Auszeichnungen. Seine 1994 gegründeten Tallarico-Studios sind die größten ihrer Art, seine Musik zu Spielen wie "Earthworm Jim", "MDK", "Metroid Prime" oder "Advent Rising" wurden als Alben veröffentlicht. Tallarico war Chef der Abteilung "Interactive Video & Music" beim Musik-Multi Virgin, ist Gründer der "Game Audio Network Guild," Berater der Game Developers Conference und aktiv in der "Academy Of Interactive Arts & Sciences" und der "National Academy Of Recording Arts & Sciences", welche die Grammys verleiht. 2002 startete er mit "Video Games Live" die weltweit größte sinfonische Orchesterumsetzung von Spielemusik (siehe folgende Seite). Für sein soziales Engagement sowie seinen Einsatz als Wissensvermittler für den Nachwuchs bekam er 2007 den Hollywood Arts Dream Award.
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