"Wahrheit durch Fiktion"
Lorne Lannings "Oddworld"-Spielreihe war eine skurrile und beängstigende Parabel auf die Schrecken der Realität. Bis heute kämpft der Designer um eine bessere Welt. Ein Gespräch über Barack Obama, McDonald's und die neue Weltordnung
Ende der Neunzigerjahre wurde Ihre "Oddworld"-Serie zum Klassiker. Heute arbeiten Sie an "Citizen Siege", das sowohl ein Spiel als auch ein Kinofilm sein wird. Was hat sich in der Spieleindustrie seit damals verändert?
In der Vergangenheit haben wir für 20 Millionen Dollar einen Mammutbaum im Treibhaus herangezüchtet und ihn dann voll ausgewachsen auf den Markt verpflanzt. Dieser Vorgang war riskant: Stimmt das Sonnenlicht? Brechen die Wurzeln nicht ab? Ist die Erde gut genährt? Da konnte einiges schiefgehen. Heute arbeiten wir anders. Wir pflanzen bereits den Setzling in die Natur und lassen die Leute den Baum mit großziehen. Das ist das neue Modell. Bis man 20 Millionen ausgegeben hat, ist das Produkt schon 18 Monate auf dem Markt und hat sich etabliert.
Die Zukunft heißt "User-Generated-Content", die Spieler erschaffen die Inhalte mit.
Auch. "World of Warcraft" und die "Sims" wurden zu den erfolgreichsten Marken der Industrie, weil sie den Spielern die Gestaltung und Entfaltung ihrer Charaktere selbst überlassen haben. Doch die Entwicklung geht noch weiter: Als Gamedesigner sollte man heute ein Genre wählen, das quer durch alle Bereiche zum Franchise werden kann. Eines, das also sowohl Spiele wie Kinotickets wie Fernsehserien verkauft. Und das heißt für mich Science-Fiction.
Das ist ein Genre, das eine mögliche Zukunft aus der Gegenwart ableitet - und die ist in "Oddworld" oft düster. Da zerstört ein Kartell eine heilige Stadt, um aus antiken Knochen eine süchtig machende Substanz für einen Softdrink zu beziehen. Ist Science-Fiction für Sie ein Mittel zur Kritik an der Realität?
Ich will Wahrheit durch Fiktion transportieren. Sie dringt so viel stärker ins Bewusstsein der Menschen ein, als es Dokumentationen oder intellektuelle Analysen könnten. Meine größten Helden sind George Orwell und H. G. Wells. Die schrieben radikale Bücher, weil sie wussten, was wirklich abging. Orwell arbeitete im Zweiten Weltkrieg für den britischen Geheimdienst. Er musste SF-Geschichten erfinden, um ausdrücken zu können, was wirklich passierte.
Welche realen Geschehnisse haben damals die Entstehung von "Oddworld" beeinflusst?
"Abe's Oddysee" wurde stark von den Geschehnissen in Südamerika inspiriert, wo große Teile des ursprünglichen Regenwaldes der Massenviehzucht zum Opfer fallen. Es schockierte mich, dass wir dieses Erbe vernichten, um bei McDonald's unsere Burger zu kriegen. Hätte ich aber eine Geschichte über McDonald's geschrieben, hätte das keinen Eindruck gemacht. Mir geht es darum, die Perspektive der Menschen zu verändern, ihr Glaubenssystem zu berühren, bis sie sich fragen: "Wie überwinden wir die geistige Zurückgebliebenheit, die der Homo sapiens im 21. Jahrhundert an den Tag legt?"
Ist die Sache mit der Verblödung der Menschheit nicht ein jahrtausendealtes Klischee? Nicht in den USA. Der nationale IQ ist im Sinkflug, wir befinden uns wieder auf dem Stand der frühen Sechzigerjahre. George W. Bush ist bestimmt nicht wiedergewählt worden, weil unsere Gesellschaft so klug und aufgeklärt ist.
Für jemanden, der selbst in einer millionenschweren Industrie arbeitet, klingen Sie recht kapitalismuskritisch. In den "Oddworld"-Spielen sind die Konzerne immer die Bestien: Sie rotten Tierarten aus, zerstören die Umwelt und sind abgrundtief böse. Wie ist Ihre Einstellung zur realen Wirtschaft?
In den vergangenen Jahrzehnten stand Kapitalismus für das Prinzip "Der Gewinner weidet alles aus". Das war die Vorstellung von Wettbewerb, die mein Großvater hatte. Er kannte noch keinen Klimawandel und keine sterbenden Ozeane. Heute wissen wir, dass wir klüger vorgehen müssen oder andernfalls in Schwierigkeiten geraten. Was können wir also tun? Das System aus dem Fenster werfen? Nein. Wir müssen es verwandeln, und das werden wir auch. Ich habe mich selbst verwandelt. Als Schüler träumte ich von Reichtum und einem Porsche. Heute erscheint mir das bedeutungslos, und ich widme mich der eigentlichen Herausforderung für uns alle: die Evolution des Kapitalismus in eine Richtung zu treiben, in der nicht die gierigsten und gewissenlosesten Kräfte siegen und die Regeln für alle anderen bestimmen. Denn das passiert in den USA derzeit immer noch. Der ehemalige deutsche Forschungsminister Andreas von Bülow oder der japanische Parlamentsabgeordnete Yukihisa Fujita verlangen nicht umsonst nach einer echten Aufklärung der Vorfälle des 11. September 2001. Tausende von Wissenschaftlern, Politikern, Architekten, Ingenieuren und Sprengstoffexperten arbeiten daran, die wahren Verantwortlichen herauszufinden. Ihre Kommunikation läuft über das Netz, und als Kollektiv sind sie bei ihren Recherchen viel stärker, als es jeder Einzelne wäre. Das zeigt nun wiederum, dass man die vorhandenen Mittel nur für sich nutzen muss.
Gehen wir mal von der Theorie aus, es gäbe diese Verschwörung, die seit 2001 unter Vortäuschung falscher Tatsachen die Welt neu zu ordnen versucht. Hat das nicht bald ein Ende, sollte Barack Obama die Wahl gewinnen?
Nein. Diese Entwicklung wird dann lediglich nicht ganz so übel ablaufen. Er ist nur ein Mann, und Politik wird nicht von einem Mann gemacht. Ich finde es großartig, wie Oprah Winfrey ihn unterstützt. Sie nutzt ihre Medienmacht zum Guten, während Rupert Murdoch seine Milliarden einsetzt, um uns mit Propaganda das Hirn zu verkleben. Diese zwei stehen symbolisch für den Kampf der aufklärerischen gegen die propagandistischen Kräfte. Es gilt, Letzteren beständig den Boden abzugraben.
Aber wie? Diese Kräfte lassen sich nicht wie die Konzerne in "Oddworld" durch Hüpfen, Rennen und Rätselraten besiegen.
Nein, aber zum Beispiel durch Bildung. Deswegen engagiere mich als Sprecher für die Federation of American Scientists (FAS). Die setzt sich dafür ein, Videospiele als Medium in Unterricht und Schulbildung zu integrieren. Das ist von immenser Bedeutung. Richtig eingesetzt, könnte es unseren nationalen IQ wieder anheben.
Beobachtet diese Federation nicht eher den weltweiten Umgang mit Massenvernichtungswaffen und Hochtechnologie?
Das ist ihr Kerngeschäft. In ihr sitzen Nobelpreisträger und arbeiten unbeeinflusst von Lobbys zum Beispiel daran, Lösungen für eine halbwegs sichere Endlagerung von Atommüll zu finden. Sie klagen nicht darüber, dass es diese Technologien gibt - sie prüfen, ob verantwortungsbewusst mit ihnen umgegangen wird. Einer von ihnen hat mit Hilfe von Google Earth eine illegale Atommülldeponie in China auffliegen lassen! Das war ein Einzelner, dazu hätte es früher eines Geheimdienstes bedurft!
Sie feiern die Möglichkeiten, die Vernetzung den realen "Abes" dieser Welt im Kampf gegen die Mächtigen bietet. Aber birgt sie nicht auch Gefahren? Sie selbst legen viel Wert darauf, dass man im Internet keinerlei private Informationen über Sie findet. Zum Beispiel keine Vita, die übers Berufliche hinausgeht.
Identitätsdiebstahl ist das Verbrechen der Zukunft. Informationen über meine Familie, mein Alter oder meinen Geburtsort führen schnurstracks zu meinen Finanzdaten. Deswegen halte ich sie zurück. Es gibt gerade einen radikalen Paradigmenwechsel im alltäglichen Denken: Die Menschen werden sich bewusst, dass gar nichts mehr geheim bleibt. Ich kann das gut bei meinen Nichten beobachten. Da mittlerweile jeder ein Handy mit Kamera hat, wachsen die in dem Gefühl auf, keinen Scheiß mehr bauen zu können, ohne dass es irgendwann rauskommt. Umgekehrt aber fühlen sie sich dadurch selbst mächtiger. Sollten sie etwa beobachten, wie die Polizei einen Mann brutal zusammenschlägt, halten sie einfach die Kamera drauf.
Sie haben früher davor gewarnt, dass eines Tages unsere MySpace-Profile, ein Echtzeit-Google-Earth sowie eine Software wie "Second Life" derart fusionieren könnten, dass eine zweite Welt in der ersten entsteht. Dass wir wie bei "Minority Report" mit Brillen herumlaufen, in denen wir die Attribute des anderen sehen können oder in die Werbung eingespeist wird, die sich nur an uns richtet.
Das ist alles viel näher, als wir denken! Schon heute arbeiten Firmen an invasiver Werbung. In Japan gibt es die "Coke Machine": Die erzeugt mit Hochfrequenztechnik das zischende Geräusch einer Colaflasche, die gerade geöffnet wird. Man hört es nicht bewusst, sondern unterschwellig. Es landet direkt im Kopf. Wenn die wirtschaftlichen und politischen Kräfte, die an der "New World Order" arbeiten, sich weiter durchsetzen, haben wir in 20 Jahren einen Chip in Ausweis und Kreditkarte, auf dem alles über uns zu lesen ist. Der Vorwand dafür ist der Krieg gegen den Terror, der eigentlich ein Krieg gegen die Freiheit ist. Ich kann nur hoffen, dass wir noch den Absprung schaffen. Ich sage ganz klar: Wenn John McCain und die Kräfte hinter ihm die nächste Wahl in den USA gewinnen, wird das die letzte freie Wahl gewesen sein, die dieses Land in seiner Geschichte gesehen hat.
Inwieweit wird Ihr kommendes Spiel-Film-Doppel "Citizen Siege" von diesen Entwicklungen beeinflusst? Immerhin lässt sich darüber lesen, es ginge darin um den Verlust von Bürgerrechten in einer düsteren Zukunft, die von Kartellen regiert wird.
Konkret möchte ich über "Citizen Siege" nichts sagen. Aber es ist wichtig, dass wir uns konkrete Fragen über unsere Zukunft stellen, und zwar jetzt. Die Philosophen, die man dazu lesen sollte, sind Paul Virilio und Jean Baudrillard.
Vielleicht sind all diese Schreckensvisionen auch übertrieben. Schon rein technisch betrachtet. Bei allem Fortschritt und aller wachsenden Rechnerkapazität - es stehen doch noch längst kein künstliches Bewusstsein und kein Cyborg vor der Tür.
Wer sich mit Militärgeschichte auseinandersetzt, wird im Rückblick feststellen, dass wir de facto immer um Jahrzehnte weiter waren, als der Öffentlichkeit verraten wurde. Als diese noch darüber spekulierte, ob wir sterben, wenn wir die Schallgrenze durchbrechen, flog die SR-71 bereits ihre ersten Runden mit Mach 2 und 3. Heute diskutieren wir über die Militarisierung des Weltalls, dabei haben wir mit dem Galileo-Crash im Jupiter bereits eine Atomexplosion im All verursacht. Sie fragten nach dem Stand der künstlichen Intelligenz: In den Gebäuden von AT&T in San Francisco wird jede Mail und jedes Telefonat jedes Amerikaners gespeichert und analysiert. Diese unbegreifliche Menge an Daten lässt sich nur mittels Programmen durchkämmen, die bereits ein hohes Niveau an künstlicher Intelligenz besitzen. Stimmerkennungs- und Lügendetektorsoftware sind weit entwickelt. In den Labors basteln sie Programme, die zugunsten der Krankenkassen und Arbeitgeber die höchste Wahrscheinlichkeit gewisser Krankheiten errechnen werden. Und Konzerne patentieren die Gene jahrmillionenalter Tierarten. Das wird alles gemacht.
Die wirkliche Welt ist die "Oddworld".
Ja, und eins noch: Die Wahrscheinlichkeit, dass bis heute noch kein Mensch geklont wurde, liegt meiner Meinung nach bei null Prozent.
Lorne Lanning, der Alter und Geburtsort bewusst verschweigt, studierte bis 1988 Fotorealismus und kommerzielle Illustration an der School of Visual Arts in New York. Nach 1989 arbeitete er sich in den Rhythm & Hues Studios zum Visual Effects Supervisor hoch, 1994 gründete er das Entwicklungsstudio Oddworld Inhabitants, dessen Spiele sich mehr als fünf Millionen Mal verkauften. Nachdem das letzte "Oddworld"-Spiel "Stranger's Wrath" floppte, schloss Lanning 2005 das Studio, um sich dem Film zu widmen. Seither arbeitet er an einem Comeback von "Oddworld" und dem Endzeit-Science-Fiction-Projekt "Citizen Siege", das eine Kombination aus computeranimiertem Spielfilm und Online-Rollenspiel werden soll. Er sitzt im Aufsichtsrat der Academy of Interactive Arts & Sciences und berät unter anderem den Präsidenten der Academy of Art University in San Francisco, die ihm einen Ehrendoktor verlieh. Besonders wichtig ist ihm seine Funktion als Mentor der Federation of American Scientists.
"Oddworld": Spielereihe mit Anspruch
Die seltsame Welt, die Lorne Lanning in den Spielen "Abe's Oddysee" (1997), "Abe's Exoddus" (1998, auch als Film umgesetzt), "Munch's Oddysee" (2001) und "Stranger's Wrath" (2005) entwarf, ist sowohl ästhetisch wie inhaltlich in der Geschichte der Videospiele einzigartig. Die Befreiungsmissionen, in denen wir den Vertretern bedrohter, menschennaher Spezies helfen, gegen perverse Konzerne zu bestehen, die sie im wahrsten Sinne des Wortes "ausnehmen", sind Gleichnisse auf die brutalen ökonomischen und politischen Auswüchse der realen Welt. Visuell mit nichts vergleichbar und spielerisch einwandfrei gelingt es ihnen, uns zu einem Lachen zu bringen, das uns zugleich im Halse stecken bleibt. Die Reihe war als Fünfteiler geplant, nach dem vierten Spiel jedoch hatte Lanning seine Firma "Oddworld Inhabitants" geschlossen und angekündigt, dass es keinen Nachfolger geben würde. Kürzlich wurde jedoch bestätigt, dass ein fünfter Teil erscheinen soll. Weitere Informationen stehen noch aus.
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