Gut spielen

Gut spielen

Videospiele verleihen uns Macht. Wie verantwortungsvoll wir mit ihr umgehen, liegt ganz an uns. Immer mehr Games werden zur Messlatte unserer moralischen Integrität und stellen uns vor verdammt schwere Entscheidungen Spiele sind seit jeher eine moralische Angelegenheit. Schließlich geht es in ihnen um Gut und Böse, Leben und Tod, um Sterben und Sterbenlassen. Wer Abertausende von Zombies, Soldaten oder Aliens ins Jenseits befördert, benötigt dafür eine solide moralische Grundlage: die feste Überzeugung, das Richtige zu tun. Ansonsten würde er sich nicht wie ein Held fühlen, sondern wie ein Kriegsverbrecher. Und das oberste Gebot aller Spiele, nicht nur der digitalen, ist das „Fair Play“ – eine moralische Grundhaltung, ohne die kein Multiplayer-Match spielbar wäre, auch wenn sich nicht jeder immer daran halten mag. Aber das soll noch nicht alles sein: „Videospiele“, so sagt Miguel Sicart, „sind auf dem besten Weg, zu einem Medium zu werden, das sich mit moralischen Fragen auf eine Art und Weise auseinandersetzt, wie es bisher noch in keinem anderen Medium möglich war.“ Sicart ist Assis-tenzprofessor am Zentrum für Videospielforschung der Technischen Universität Kopenhagen und hat gerade ein Buch mit dem Titel „Die Ethik der Computerspiele“ veröffent-licht. „Allein die Tatsache, dass der Spieler in einem Game Entscheidungen treffen und mit den Konsequenzen leben muss, ist eine gute Voraussetzung, um sehr eindrückliche ethische Erfahrungen zu schaffen“, sagt er, und Mike Laidlaw, Lead-designer des Bioware-Titles „Dragon Age: Origins“, stimmt ihm zu: „Games sind dann am stärksten, wenn sie Gelegenheit zu Interaktionen bieten, die über eine moralische Dimension verfügen“ – und zwar eine Dimension, die über die bloße Rechtfertigung zum virtuellen Töten hinausgeht.

In der Zwickmühle

Die Königsdisziplin moralischen Gamedesigns ist das Dilemma. Ein solches ergibt sich zum Beispiel, wenn wir gezwungen werden, uns in „Dragon Age: Origins“ zwischen einer Mutter und ihrem Sohn oder in „Grand Theft Auto IV“ zwischen zweien unserer besten Freunde zu entscheiden, von denen wir einen im Auftrag des anderen ermorden sollen. Oder wenn wir in „Mass Effect“ einen treuen Weggefährten opfern müssen, damit ein anderer gerettet werden kann. Oder wenn wir von „Fallout 3“ vor die Wahl gestellt werden, ob wir eine Gruppe von Menschen oder grausam entstellte – aber nicht weniger menschliche – Mutanten auslöschen. In solchen Momenten sitzen viele Spieler minutenlang vor dem Bildschirm, weil sie sich weder entscheiden können noch wollen. Das Vertrackte ist nur: Um weitermachen zu dürfen, müssen sie eine Entscheidung fällen – genau wie im wirklichen Leben. Und ob sie richtig entschieden haben, stellt sich im Spielverlauf oft erst viel später heraus. „In ‚Dragon Age: Origins‘ sagen wir dem Spieler niemals direkt, ob sein Entschluss die beste Wahl war oder nicht“, sagt Mike Laidlaw. „Wir konfrontieren ihn stattdessen im Laufe des Spiels mit Reaktionen anderer Spielfiguren, die ihn wissen lassen, was sie von seinen Handlungen halten.“ Manchmal sind die Gefolgsleute des Protagonisten derart empört über sein Vorgehen, dass sie ihn im Stich lassen oder gar angreifen. Und manchmal lassen sie sich durch Argumente davon überzeugen, dass seine Wahl die unter den gegebenen Umständen einzig vernünftige war. „Nur wenn wir dem Spieler diese Freiheiten geben, wird die Geschichte des Spiels zur Geschichte des Spielers“, sagt Laidlaw. Einige Games gehen noch einen Schritt weiter und lassen uns ganz alleine das moralische Urteil über unser Handeln fällen. In dem 2003 erschienenen melancholischen Game-Kunstwerk „Shadow Of The Colossus“ des Japaners Fumito Ueda zum Beispiel muss der junge Wanda nacheinander 16 majestätische Kreaturen bezwingen und töten, damit die Götter ein Mädchen namens Mono wieder vom Tod ins Leben zurück-holen. Und jeder Schritt, jeder Schwertstich, den wir in diesem Spiel ausführen, ist schwer beladen mit moralischem Zweifel: Woher nehmen wir uns das Recht, 16 Leben zu nehmen, um eines zu geben – zumal die Kolosse allesamt friedlich ihrer Wege ziehen und ihre Existenz in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem Tod des Mädchens steht? Die Antwort muss in „Shadow Of The Colossus“ jeder für sich selbst finden. Auch in „Manhunt“ (2003), einem Spiel, das in Deutschland und anderen europäischen Ländern aufgrund drastischer Gewaltdarstellung beschlagnahmt wurde, findet sich der Spieler in einer moralischen Zwickmühle wieder: Gefangen im Labyrinth eines Sadisten muss der Todeskandidat James Earl Cash gegen andere Verbrecher um sein Leben und für seine Freiheit kämpfen und seine Kontrahenten auf möglichst grausame Weise umbringen. Eine Möglichkeit, sauber aus der Sache herauszukommen, bietet das Spiel ihm nicht. Der Wissenschaftler Mi-guel Sicart hält „Manhunt“ gerade deshalb für eines der ethischsten Videospiele, die je entwickelt wurden. „Es zwingt den Spieler dazu, sich mit einer verabscheuungswürdigen Person zu identifizieren, die er unmöglich mögen kann“, sagt er. „Während des Spielens ertappt er sich immer wieder dabei, wie er von sich selbst entsetzt ist. Andererseits befindet sich die Hauptfigur in einer schrecklichen Situation, in der der Spieler zwangsweise Mitleid mit ihr empfinden muss. Er will dem Kerl da raushelfen und würde sich unter ähnlichen Umständen womöglich genauso verhalten wie er.“ Sowohl „Shadow Of The Colossus“ als auch „Manhunt“ stellt den Spielern also die Frage, wie weit sie zu gehen bereit sind, um ein Leben zu retten – entweder das eigene oder das eines anderen Menschen.

Gut und böse

In vielen anderen Spielen, in denen Moral zum Spielelement erhoben wird, sind Gut und Böse viel deutlicher voneinander getrennt. Im Bioware-Rollenspiel „Star Wars: Knights Of The Old Republic“ aus dem Jahre 2003 hat der Spieler beispielsweise jederzeit die Wahl, ob er auf Seiten der rechtschaffenen Jedi-Ritter kämpfen will oder sich doch lieber von den Versuchun-gen der dunklen Seite der Macht verführen lässt. Beides hat seine Reize und bietet Vor- und Nachteile für den Spielverlauf. Wie weit der Spieler sich auf eine der Seiten eingelassen hat, wird ihm vom Spiel auf einer Moralskala angezeigt. Und obwohl dieses System auch von späteren Games wie „Fable“, „Mass Effect“ und „Fallout 3“ in verfeinerter Form übernommen wurde, sieht Biowares Mike Laidlaw diese Art von Ingame-Moral skeptisch: „Das moralische Spektrum, in dem sich die Haupt-figur von ‚Knights Of The Old Republic’ bewegen konnte, war schon sehr starr“, sagt er. Forscher Miguel Sicart nennt das Spiel sogar sein „ganz persönliches Feindbild“: „Das Spiel schreibt dem Spieler vor, was moralisch und was unmoralisch ist“, sagt er, „es motiviert ihn in keiner Weise, selbst darüber nachzudenken und diese Wertvorstellungen zu hinterfragen. Das ist so dog-matisch wie in der Kirche.“ Wenn man schon eine solch fest-geschriebene Moral ins Spiel bringe, dann solle man konsequent sein und diese zum Beispiel einer fiktiven Religion zuschreiben, der sich die Hauptfigur anschließen könne, wenn der Spieler das möchte. „Das könnte ihn dazu veranlassen, kritisch über die Bedeutung von Religion für unser Zusammenleben zu reflektieren“, sagt Sicart. Zudem sei es ohnehin so, dass die meis-ten Spieler nach einem kurzen Besuch auf der dunk-len, „verbotenen“ Seite ins Licht zurückkehren. „Ich glaube, wir spielen alle lieber den strahlenden Helden als einen Schurken, weil wir es mögen, wenn uns ein Spiel auf die Schulter klopft“, sagt Sicart. „In ‚Fable 2’ und ‚Fallout 3‘ gibt es all diese Menschen, die uns sagen, wie toll wir sind. Das kann sehr erfrischend sein, wenn wir erschöpft nach der Arbeit nach Hause kommen – selbst wenn die lobenden Worte nur von einem Avatar gesprochen werden.“

Wie es euch gefällt

Wie ein Game aussehen kann, das seinen Spieler gerade durch Unklarheiten dazu bringt, über sein Tun nachzudenken, hat zum Beispiel das Cyberpunk-Rollenspiel „Deus Ex“ (2000) von Ion Storm gezeigt. Darin wird der Spieler zum Spielball politischer Gruppierungen, die jede für sich beansprucht, zu wissen, worin das Heil der Menschheit zu finden sei – und jede hat überzeugende Argumente dafür. In der Mitte von „Deus Ex“ gibt es eine entscheidende Begegnung zwischen der Hauptfigur JC Denton und seinem Bruder, bei der sich herausstellt, dass JC die ganze Zeit für eine finstere Organisation gearbeitet hat und diejenigen, die von ihm bis dahin als Terroristen bekämpft wurden, möglicherweise gar keine Terroristen sind. „In diesem Moment habe ich begriffen, dass das Wertesystem, das ich vom Spiel vorgesetzt bekommen hatte, auf einem Irrtum beruhen könnte“, erinnert sich Miguel Sicart, „da wurde mir klar, dass Videospiele in der Lage sind, ethische Diskurse zum Ausdruck zu bringen, die uns dabei helfen können, unsere Natur als moralische Wesen zu begreifen.“ Statt klischeehaft nur mit Schwarz und Weiß zu malen, verwendet „Deus Ex“ eine breite Palette von Grautönen und will dem Spieler nicht vorschreiben, was moralisch richtig oder verwerflich ist. Das für sich persönlich zu beurteilen, ist ganz allein ihm überlassen. Zu dieser neu gewonnenen Freiheit des Denkens kommt bei „Deus Ex“ die Freiheit des Handelns: Der Spieler kann selbst die Mittel wählen, mit denen er ans Ziel gelangen will. Obwohl das Spiel als Egoshooter ausgelegt ist, kann er es – bis auf wenige Situationen – durchspielen, ohne jemanden zu töten. Das hat Schule gemacht: Von „Hitman 2: Silent Assassin“ über „Splinter Cell: Double Agent“ bis hin zu „Assassin’s Creed 2“ lassen uns seither immer mehr Games zumindest hin und wieder die Wahl, ob wir unsere Gegner mit Gewalt aus dem Weg räumen wollen oder eine Konfrontation durch geschicktes Taktieren oder Ablenkungsma-növer umgehen. Da es in der Regel anstrengender ist, Leben zu erhalten und sich nach Alternativen umzusehen, werden diese Spiele zur Prüfung für unsere eigene Moral: Wir müssen uns fragen, ob uns das virtuelle Leben eines unterbezahlten Wachpostens mehr oder weniger wert ist als die real vor dem Computer oder der Konsole verbrachte Zeit, die wir benötigen, um es zu verschonen. Und wir könnten uns fragen, warum wir bereit sind, dieses Opfer zu bringen, oder nicht. Bleibt die Frage: Haben unsere Entscheidungen und Handlungen in einem Videospiel wirklich etwas mit unserem persönlichen Wertesystem zu tun – oder ist das alles doch nur ein Spiel? „Genau von dieser Vorstellung müssen wir uns befreien, wenn wir wollen, dass Games genauso ernst genommen und genauso ausdrucksstark werden wie andere Medien auch“, sagt Wissenschaftler Miguel Sicart. „Wir gehen auch nicht ins Theater oder lesen ein Buch und denken dabei die ganze Zeit: ‚Das ist nur ein Schauspiel‘ oder: ‚Das ist nur bedrucktes Papier‘. Stattdessen lassen wir uns inspirieren und setzen die Geschichte zu unserem eigenen Leben und unseren eigenen Ansichten in Bezug.“ Warum sollte das bei Videospielen anders sein? Der aktive Eingriff in das Geschehen, den Spiele allen anderen Medien voraushaben, bietet zahllose Möglichkeiten. Nur in Games können wir herausfinden, was wir denken und wie wir uns fühlen, wenn wir Handlungen ausführen, anstatt anderen nur dabei zuzusehen oder darüber zu lesen. In Zukunft werden unsere Entscheidungsfreude und unsere eigene Auffassung von Moral in Games daher immer stärker gefragt sein – denn eines ist sicher: Die erzählerische Kraft von Spielen wird sich in den kommenden Jahren genauso exponentiell weiterentwickeln wie die Qualität ihrer grafischen Darstellung. Und, wer weiß: Vielleicht wird es dann ganz selbstverständlich sein, dass wir mittels intelligenter, gut erzählter und feinfühlig komponierter Videospiele auch einen moralisch höheren Level erreichen können.
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von Oliver Klatt / November 8th, 2009 /

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