Akkordarbeiter

Akkordarbeiter

Heute ist Harmonix ein Hoffnungsträger der Musikindustrie, mit Games wie „Rock Band: The Beatles“ macht die Firma Milliarden Dollar – dabei musste sie noch vor wenigen Jahren um ihr Überleben kämpfen. Wir haben das fast gescheiterte Unternehmen in Cambridge besucht Vor Kurzem hat sich Stephanie Myers beide Handgelenke gebrochen – erst das eine und gleich darauf das andere. Als das geschah, war sie als Busfahrerin verkleidet und stand gegen eine Frau im Ring. Das Publikum tobte. „Als ich in dieser Uniform in die Notaufnahme gekommen bin, sind die ganz bleich geworden“, sagt die 27-Jährige und grinst. Stephanie Myers ist Wrestlerin, sie ist klein und kräftig, sie raucht gerne – und sie ist die Pressedame von Harmonix Music Systems, Inc., der Firma hinter Spielen wie „Guitar Hero“ oder „Rock Band“. Ihre Kollegen nennen sie jetzt „Double Trouble“, und sie sind stolz auf sie, weil sie den Kampf trotz ihrer Verletzungen gewonnen hat. Es sind dieselben Kollegen, die ihr Blumen und Geschenke ins Krankenhaus geschickt haben, als ihr Metallplatten in die Arme implantiert wurden. „Wir halten hier fest zusammen“, sagt Myers. Im Harmonix-Hauptquartier in Cambridge ist sie kein Freak, kein Exot: Die meisten hier sind nicht nur Entwickler, sondern auch Künstler oder Musiker: 80 Prozent der Mitarbeiter spielen in einer Rock-, Pop-, Punk- oder Heavy-Metal-Band. In ihren Verträgen steht, dass sie jederzeit auf Tour gehen können – und ihr Arbeitsplatz noch da ist, wenn sie wiederkommen. Jetzt steht Stephanie Myers im Empfangsraum vor einer Gruppe Ledersessel. Auf einem Tisch liegt ein wilder Haufen Musikmagazine herum: der „Rolling Stone“, der „NME“, aber auch Fachzeitschriften wie „Keyboard“ oder „Guitar Player“. Ihre Seiten sind abgegriffen, einige haben Eselsohren. An der Wand dahinter stehen die Pokale, die Harmonix bekommen hat als Studio des Jahres, für die besten Spiele vieler Jahre und Messen, für außerordentliche Innovationen. Drumherum im Raum stapeln sich Kis-ten, „The Beatles: Rock Band“ steht darauf. Es ist das neue Spiel der Firma und bei Weitem das wichtigste ihrer Geschichte. Viel Geld hat Harmonix mit seinen „Rock Band“-Spielen bereits erwirtschaftet – jetzt sollen die Beatles nicht nur noch mehr Geld umsetzen, sondern vor allem das Genre selbst bekannter machen: Sie sollen jene schlafenden Kunden wecken, die noch nie ein Videospiel ausprobiert haben, und ihnen zeigen, wie viel Spaß es machen kann, Songs mit Plastikinstrumenten nachzuspielen. Wie kaum eine andere Firma hat Harmonix der gebeutelten Musikbranche neue Hoffnung gegeben. Das interaktive Instrumentenkaraoke ist in den vergangenen Jahren neben Apples iTunes zum wichtigsten Werbeträger und zur Verkaufsplattform geworden. Mehr als 50 Millionen Songs hat Harmonix inzwischen über die Netzwerke der Spielkonsolen verkauft. Doch dass das Unternehmen Erfolg haben würde, war lange nicht ausgemacht.„Die ersten zehn Jahre haben wir ums Über-leben gekämpft“, sagt Rigopulos, „und fünf davon haben wir keinen Cent verdient.“ Die wechselhafte Geschichte von Harmonix beginnt Anfang der neunziger Jahre, als sich Alex Rigopulos und Eran Egozy am MIT in Boston treffen, dem Geburtsort der ersten Computerspiele und Heimat vieler Nobelpreisträger. Beide studieren dort, der eine ist Komponist und leidlich begabter Programmierer, der andere Software-Ingenieur und Klarinettist – und die beiden haben eine gemeinsame Vision: Sie wollen eine Technologie entwickeln, die es auch Nichtmusikern ermöglicht, sich musikalisch auszudrücken. 1995 leihen sie sich von Freunden und ihrer Familie 100000 Dollar und gründen Harmonix. Das ist wenig Geld, aber es reicht, denn die beiden wohnen noch bei ihren Eltern. Ihr erstes Produkt heißt „The Axe: Titans Of Classic Rock“ und ist eine Software, mit der sich einige Instrumente per Joystick spielen lassen. „Die Musik ist in deinem Kopf: Lass sie raus“, lautet der Werbespruch. „Davon haben wir 300 Stück verkauft“, sagt Rigopulos und grinst ein verkniffenes Grinsen, „das Programm hat die Leute nach ein paar Minuten gelangweilt.“ „Axe“ ist kein Videospiel. Auf die Idee, dass darin die Zukunft der Firma liegen könnte, kommen die beiden erst später. Genauer: vier Jahre später. Als sie endlich erkennen, welchen Erfolg Musikspiele wie „Dance Dance Revolution“ oder „Beatmania“ in Japan haben. In dem Regal im Empfangsraum stehen sie versammelt, die ersten Versuche von Harmonix, Vi-deospiele zu entwickeln. „Frequency“ und „Amplitude“ heißen zwei Games mit einem Electro-Soundtrack, bei denen der Spieler die einzelnen Spuren der Tracks am Laufen hält, indem er den richtigen Knopf zur richtigen Zeit drückt. Von heute aus betrachtet ist die Verwandtschaft zu Games wie „Rock Band“ offensichtlich, heute erkennen Videospieler auch sofort das Konzept – damals jedoch werden die Spiele zwar von den Kritikern gelobt, gekauft werden sie jedoch kaum. Zu abstrakt ist die optische Präsentation und zu abgehoben das Spielprinzip. „Wir waren so naiv zu glauben, dass ein gutes Spiel genügt, um Erfolg zu haben“, sagt Alex Rigopulos, „wir mussten erst begreifen, dass das nicht reicht: Man braucht eine visuelle Metapher, die mit dem Leben der Menschen etwas zu tun hat. Etwas, das die Leute sofort verstehen, auch wenn sie das Spiel nie gespielt haben.“ Etwas wie eine Gitarre zum Beispiel, und sei sie aus Plastik. Im „Star Chamber“ von Harmonix lehnen eine Menge davon an den Wänden. Die Sternenkammer ist der Vorführraum der Firma. Stephanie Myers und ihre Kollegen spielen hier oft vor Journalisten oder Geschäftspartnern Gitarre oder Bass, Alex Rigopulos sitzt am liebsten am Schlagzeug. „Das hier war der Anfang von allem“, sagt Myers und streicht über einen Gitarrenhals. Angefangen hat alles, als wieder einmal alles zu Ende schien. Dabei konnte Harmonix damals endlich einen Erfolg feiern – doch ausgerechnet mit einem Spiel, das mit Musik kaum etwas zu tun hatte: mit einem Game für Sonys neue „Eye Toy“-Kamera. Das Hoverboard-Rennspiel „Anti Grav“ verkaufte sich vier Mal öfter als „Frequency“ oder „Amplitude“. Egozy und Rigopulos waren frustriert, und sie begannen an ihrem Weg zu zweifeln. Das Ende vom Lied schien nah. Doch mitten in ihrer Misere erreichte die beiden ein Anruf von Red Octane, einem Hersteller von Zubehör. „,Wenn wir eine Plastikgitarre bauen würden, könntet ihr ein Spiel dazu machen?‘, haben sie gefragt“, erinnert sich Rigopulos – „und wir haben nur gesagt: ‚Darauf könnt ihr wetten!‘“ Die Plastikgitarre ist keine Erfindung von Harmonix – und auch die Idee, ein Musikspiel zu entwickeln, ist nicht in den USA entstanden, sondern in Japan: Konamis „Guitar Freaks“ ist dort seit Jahren ein beliebtes Spiel. Doch die Gitarre ist die Verbindung zum Leben, nach der Harmonix lange gesucht hatte. Etwas zum Anfassen, der Anker in der Realität, der den Spieler zum Gitarrengott macht, zum Guitar Hero. „Dieses Physische, das Instrument: Das ist der Kern von Rockmusik“, sagt Alex Rigopulos, „und als wir mit der Gitarre eine Verbindung zwischen Haptik und Spiel geschaffen hatten, wurde unsere Idee plötzlich relevant für viele Menschen“. Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: Das erste „Guitar Hero“ erscheint 2005, der zweite Teil ein Jahr später, beide werden Millionen Mal verkauft. Kurz darauf wird Red Octane Teil von Activision übernommen, seitdem führen die Macher der „Tony Hawk“-Serie die Reihe weiter. Und auch Harmonix wird gekauft: 2007 geht die Firma für 175 Millionen Dollar an den Musikkonzern MTV. Die Entwicklung von „Rock Band“ beginnt – und als das Spiel fertig ist, stehen neben der Plastikgitarre ein Plastikbass und ein Plastikschlagzeug, darauf liegt ein Mikrofon. Ab jetzt wird in einer virtuellen Band gespielt, gemeinsam mit Freunden im Wohnzimmer oder in immer mehr Clubs auf echten Bühnen: „Rock Band“ und seine Nachfolger erfüllen vielen Spielern einen Traum. Die Spielserie wird zum kulturellen Phänomen – und zum Bestseller: Weltweit macht sie mehr als eine Milliarde Dollar Umsatz. „,Guitar Hero‘ wird immer einen Platz in unseren Herzen haben“, sagt Rigopulos, „aber es war noch viel zu sehr ein Videospiel. Es drehte sich um Konkurrenz und Punkte – in ‚Rock Band‘ dagegen geht es darum, miteinander zu spielen und gemeinsam Musik zu entdecken.“ „Rock Band“ lebt von seiner Authentizität: Statt Coverversionen bekannter Songs nachzuspielen wie in den Anfängen der „Guitar Hero“-Serie, begleiten die Spieler nun lizenzierte Originalstücke. „Plötzlich waren wir wichtig für die Musikindustrie“, sagt der Harmonix-Chef. „Davor haben deren Manager uns nicht einmal zurückgerufen, jetzt standen sie Schlange.“ Auch in der Personalabteilung von Harmonix stapeln sich jetzt die Anfragen. Die Firma wächst schnell, rasant schnell, „verrückt schnell“, wie Rigopulos sagt – und das hat so manches Unternehmen in große Schwierigkeiten gebracht. Nicht so Harmonix. „Wir achten sehr penibel darauf, wen wir einstellen“, sagt Stephanie Myers, „der Bewerber sollte nicht nur gut sein, er muss auch in unser Team passen.“ Harmonix sieht sich als Orchester, in dem jeder für das große Ganze spielt. Mehr als 300 Angestellte arbeiten heute in der Massachusetts Avenue in Cambridge im zweiten Stock eines unscheinbaren Gebäudes neben einem Starbucks und einem Walgreens-Drogeriemarkt. In derselben Straße liegt auch das MIT, in dem sich die Gründer als Studienkollegen kennen gelernt hatten. Gerade hat die Tageszeitung „Boston Globe“ die Firma zu einem der besten Arbeitgeber der Stadt gekürt – obwohl ein Job bei Harmonix genau so harte Arbeit ist wie überall in der Brache. „Wenn ich an einem normalen Werktag um 22 Uhr ins Büro kom-me, bin ich bestimmt nicht die Einzige, die arbeitet“, erzählt Stephanie Myers, „aber wegen der Leute freue ich mich dann, dort zu sein.“ Dass sich die Mitarbeiter bei Harmonix wohl und anerkannt fühlen, ist der Firma wichtig – denn auch eine zerstrittene oder erschöpfte Rockband schreibt selten gute Lieder. So gibt es im Keller sogar einen firmeneigenen Proberaum. Die „HMXler“ treffen sich mehrmals im Jahr zu Partys und Betriebsausflügen, jeden Dienstag tönt es „Früchte, Früchte, yo!“ über die Lautsprecher, und alle kommen zusammen, um bei frischem Obst miteinander zu quatschen – und freitags laden die Chefs alle Angestellten zum gemeinsamen Lunch. Dann wird über das Tagesgeschäft geredet und über die Zukunft der Firma. Jeder soll so gut wie möglich informiert sein. Es war einer dieser Freitage, an dem die Chefs verkünden konnten, dass das Spiel, an dem unter dem Codenamen „Project 9“ seit Langem im Geheimen gearbeitet wurde, wirklich entstehen würde – dass die Verträge über „The Beatles: Rock Band“ endlich unterschrieben waren. „Das war für uns alle ein historischer und sehr emotionaler Moment“, erinnert sich Alex Rigopulos, „alle sind aufgestanden und haben applaudiert.“ Die folgende Pressekonferenz wurde per Lautsprecher live in die gesamte Firma übertragen. Heute, nachdem das Beatles-Spiel auf dem Markt ist, konzentriert sich Harmonix auf sein neues „Rock Band Network“, über das kleine Labels oder große Firmen ihre Musik direkt an das Publikum verkaufen können sollen, natürlich mit einer Provi-sion an Harmonix. Diese Idee ist nicht neu – auch in „Guitar Hero“ gibt es Songs zum Download –, neu ist jedoch die Offenheit des Netzwerks. „Die meiste Musik, die es dort zu hören und spielen gibt, hat noch kaum jemand gehört“, sagt Stephanie Myers, „und wir wollen den Leuten helfen, diese Musik zu entdecken.“ „Für uns sind Videospiele nur Mittel zum Zweck“, ergänzt Rigopulos, „wir waren immer zuerst ein Musikunternehmen und dann erst eine Spielefirma.“ Und wie es mit der weitergeht, wird spannend. Denn welche Band soll nach den Beatles noch kommen? Und wer soll die nächsten Spiele kaufen, wenn er sich doch immer neue Songs herunterladen kann? „Dazu darf ich nichts verraten“, sagt der Blick von Alex Rigopulos. Dann stockt der 39-Jährige kurz, als fiele ihm etwas ein, schließlich blitzt ein Lächeln über sein Gesicht. „Wer weiß, was die Zukunft bringt“, sagt er, „aber wenn ich zurückblicke auf das, was wir damals nach dem Studium wollten, dann ist das exakt das, was wir heute machen. Und ich glaube, das freut mich von allem am allermeisten.“
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von Chris Rotllan / Dezember 12th, 2009 /

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