Bayonetta

Bayonetta

Endgegner im Minutentakt, eine verführerische Hexe mit vier Colts und tödlichen Haaren, eine spannende Geschichte – und so viele Ideen, dass daraus mehrere Games hätten entstehen können: „Devil May Cry“-Erfinder Hideki Kamiya hat ein Meisterwerk erschaffen, das uns alle um den Verstand bringen wird
Getestet Xbox 360 | ps3 | Entwickler Platinum Games | Publisher Sega | Termin 8. Januar | Preis 70 Euro | USK 18 | Spieler 1
Non-Stop-Klimax-Action“ hat der Schöpfer von „Bayonetta“ versprochen – und das will bei Hideki Kamiya schon etwas heißen. Vor acht Jahren hat der Japaner mit „Devil May Cry“ neu definiert, was ein Actionspiel ist. Seine Markenzeichen: überdimensionierte Waffen, eine überbordende Präsentation und Kämpfe ohne Unterlass. Spiele wie „God Of War“ haben diesen Ansatz erfolgreich fortgeführt, haben mit noch größeren Gegnern und noch mehr Action geprotzt – nun will Kamiya mit seinem Spiel um die Hexe mit den schwarzen Haaren die Genregrenzen weiter verschieben. Ein schweres Unterfangen ist das. Denn gigantische Endgegner und abgedrehte Angriffs-Combos sind heute nichts Besonderes mehr. Doch was andere Spiele nur zum krönenden Abschluss eines Levels offerieren, bietet uns „Bayonetta“ im Minutentakt: Drachenhunde speien Blitz und Feuer, Kolosse schlagen mit tonnenschweren Waffen um sich, hünenhafte Gestalten tragen Schwerter mit Kettensägen als Klingen. Die Endgegner von „Bayonetta“ sind häufig so groß, dass wir sie erklettern müssen, um ihnen Schaden zuzufügen. Und dann wird in dem Spiel auch noch auch unsere Umgebung zum Feind, wenn wir auf herumfliegenden Trümmern kämpfen oder Widersacher uns buchstäblich den Boden unter den Füßen wegreißen. Als Kanonenfutter dienen hier allenfalls die vielen Engel, die anmutig vom Himmel schweben, jedoch außer einem Heiligenschein und Flügeln gar nichts Engelhaftes an sich haben. Reihenweise schlagen wir sie in Stücke.

Nicht von dieser Welt

Moment mal. Engel in Stücke schlagen? Was ist hier los? Das weiß auch Hexe Bayonetta nicht so genau. Fest steht nur: Vor 20 Jahren wurde sie in einem Sarg vom Grund eines Sees geborgen, und seitdem muss sie jeden Tag gegen Gotteskrieger kämpfen, um die Menschheit vor Übergriffen aus dem Himmelreich zu schützen. Warum das so ist, gilt es herauszufinden, und so macht sich Bayonetta auf die Suche nach ihrer Vergangenheit. Für diese Geschichte verdreht Kamiya nicht nur Gut und Böse, sondern mixt auch ansonsten alles Erdenkliche durcheinander: Römische Göttinnen wie Justitia tauchen – arg mutiert – genauso auf wie eine Manneken-Pis-Statue mit Heiligenschein. Hideki Kamiya schickt uns durch Vigrid, eine Stadt, die an die Renaissance erinnert, lässt uns aber ebenso auf der Laderampe eines Militärflugzeugs kämpfen – während des Fluges. Andere Dinge, die wir im Spiel zu Gesicht bekommen, sind gar nicht mehr von dieser Welt: Wir laufen auf golden schimmernden Schmuckbändern in andere Sphären und begegnen Gottheiten, die sich aus Dimensionstoren hervorwölben. Behende bewegen wir uns mit Hexe Bayonetta durch unterschiedlichste Pa-rallelwelten. Das ist gespenstisch, wenn wir durch Vigrid rennen, die Bewohner der Stadt nur schemenhaft als transparente Silhouetten wahrnehmen und durch sie hindurchlaufen können. Das ist zauberhaft und verstörend, wenn wir gerade noch im lavadurchfluteten „Inferno“ gestanden haben und uns eine zerstörte Brücke den Weg hoffnungslos abgeschnitten hatte, wir kurz darauf aber ein Tor durchschreiten und uns plötzlich im „Paradiso“ wiederfinden: Blaues Wasser gluckert dort statt rotglühender Lava, bunte Blumen gibt es hier statt schroffer Felsen und hellklingende Glöckchen statt dumpfem Grollen. Dieselben Schauplätze zeigen so in verschiedenen Welten ganz unterschiedliche Seiten. Und gänzlich krude wird die Spielwelt von „Bayonetta“, wenn wir im Paradies schließlich eine magische Sanduhr finden, mit der wir im Inferno die Zeit zurückdrehen und so die vorher zerstörte Brücke wieder errichten können. Entwickler Kamiya treibt ein Verwirrspiel mit Bayonetta – und mit unseren spielerischen und visuellen Erfahrungen und Erwartungen. Oft wähnen wir uns mitten im Gemälde eines Surrealisten. Ähnlich aufsehenerregend wie die Szenerie hat Kamiya seine Hauptfigur gestaltet und die Hexe bewusst provokativ und sexy in Szene gesetzt. Ihr hautenger Anzug mit dem tief ausgeschnittenen Rücken verflüchtigt sich bei einigen ihrer Angriffe sogar, woraufhin Bayonetta beinah nackt zu sehen ist. Die Hexe ist eine Spielfigur, über die noch viel geschrieben werden wird – und am meisten wohl in Büchern über Geschlechterrollen und Sexismus in Videospielen. Denn nie lässt sie eine Gelegenheit aus, sich in aufreizende Posen zu schmeißen, obszön die Beine zu spreizen und immer wieder ihren Hintern ins Bild zu schieben. Das ist dick aufgetragen und beileibe nicht jedermanns Sache. Festzuhalten bleibt: So viel überzeichnete weibliche Körperlichkeit gab es bei einer Hauptfigur noch nie. Auch ansonsten nimmt sich Bayonetta einiges heraus. Sie trägt nicht nur zwei großkalibrige Waffen in ihren Händen, sondern auch eine an jedem Fuß. Und sie ist nie darum verlegen, diese auch einzusetzen – wie selbstverständlich sogar im Handstand, wenn sie wie ein Breakdancer am Boden herumwirbelt oder wenn sie in der Luft Saltos schlägt. Spinnengleich kann sie an einigen Stellen an Wänden und Decken entlanglaufen oder sich in einen Panther verwandeln, um schneller zu rennen und weiter zu springen. Weicht sie Angriffen erst im allerletzten Moment aus, aktiviert sie die „Hexenzeit“, die alles außer ihr selbst in Zeitlupe ablaufen lässt. Das ist essenziell im Kampf, weil so verheerende Angriffe ohne Gegenwehr gestartet werden können. Außer mit Schüssen und Schlägen rückt Bayonetta ihren Gegnern mit „Folterangriffen“ zu Leibe. Dann schwört sie Gerätschaften wie eine eiserne Jungfrau herbei, eine Streckbank, die Guillotine oder ein stacheliges Wagenrad, das sie auf dem Rücken ihrer Feinde durchdrehen lässt. Doch damit nicht genug: Sie schlägt und tritt mit Fäusten und Füßen um sich, die nicht ihre eigenen sind, sondern aus ihrem Haar bestehen und mitten in der Luft erscheinen. Bei Bosskämpfen werden die Haare noch länger und wachsen in „Klimax“-Angriffen sogar zu schwarzen Kreaturen heran, denen kein Gegner gewachsen ist. Ein zähnefletschendes Monster aus schwarzem Haar beißt dann etwa einem Monster aus Fleisch und Blut einfach den Kopf ab, oder eine riesengroße Haar-Krähe greift sich einen schlangenförmigen Drachen wie einen Regenwurm, pickt ihn in Stücke und würgt die Reste herunter. Je größer der Gegner, desto schöner die Haare. Manchmal droht der Bildschirm förmlich zu platzen. Völlig absurd: der seichte Japanpop-Song, der viele dieser Kämpfe untermalt, und dessen Refrain mit „I love you“ endet.

Meister seines Fachs

Bei aller überbordenden Gewalt: Das ganze Spiel ist mit künstlerischem Anspruch und mit viel Humor inszeniert. Gleich am Anfang lässt Hideki Kamiya seinen eigenen Grabstein bepinkeln, das Spiel verweist auf Filme wie „Apocalypse Now“, und ein Minispiel im Stil eines Arcade-Lightgun-Shooters „wird bereitgestellt von deinen bösen Freunden bei Platinum Games“, dem Entwicklungsstudio von „Bayonetta“. Neben Cutszenes, die von Zeitlupen-Schießereien über Slapstick bis zu coolen Sprüchen alles zu bieten haben, existieren auch Sequenzen, in denen Haare und Kleidung der Figuren im Wind flattern, ihr Körper aber regungslos verharrt wie eine Schaufensterpuppe. Nichtspielmomente wie diese halten das Spiel zusammen. Und wie bei einem Film von Quentin Tarantino ist in jedem Moment spürbar, dass es hinter dem Produkt einen Menschen gibt, der nicht nur ein Meister seines Fachs ist, sondern sein Medium liebt. „Bayonetta“ ist bis zum Rand vollgepackt mit Stil- und Spielideen, mit „Love for Games“. Es gibt unzählige Dinge zu entdecken, wie zum Beispiel versteckte Arenen, in denen es Gegner mit vorgegebenen Moves zu besiegen gilt. Mit Zutaten, die aus zerschlagenen Blumentöpfen purzeln, können wir uns Lollies brauen, die unsere Lebensenergie auffüllen oder uns für begrenzte Zeit in einen Schutzschild hüllen. Aufgelesene Schallplatten können im „Tor zur Hölle“ – einer schummrigen Jazzbar – gegen besonders hübsche Waffen getauscht werden. Oder wir kaufen uns mit den Heiligenscheinen erlegter Gegner – die Bayonetta einsammelt wie Igel Sonic seine Ringe – neue Angriffstechniken, neue Kostüme oder magische Gegenstände, die das Spiel einfacher machen. Mit ihnen wird dann zum Beispiel die Hexenzeit automatisch aktiviert, oder unsere Lebensenergie füllt sich schneller wieder auf. Das kann sehr hilfreich sein. Denn jeder Kampf ist eine Herausforderung für sich und wird direkt nach der Beendigung mit Medaillen bewertet, abhängig davon, wie schnell wir waren, ob wir Hilfsgegenstände benutzt und wie viele Treffer wir abbekommen haben. Das Prinzip kennen wir bereits aus Kamiyas „Devil May Cry“, aber es ist immer noch sehr motivierend. Am liebsten würden wir jene Abschnitte, bei denen wir nicht so gut waren, sofort noch einmal starten – aber das ist nicht vorgesehen, denn das würde den Spielfluss zerstören. Am Ende jedes Kapitels gibt es zusätzlich eine Statue. Die kann aus Stein sein, aus Gold oder aus reinem Platin – je nachdem, welche Medaillen wir für die einzelnen Abschnitte bekommen und wie viele Continues wir verbraucht haben. Das Spiel schreit also geradezu danach, immer und immer wieder gespielt zu werden. Wer jedoch überall Edelmetall glänzen sehen will, der wird „Bayonetta“ ziemlich schwierig finden. Zu hart ist das Game aber nicht, denn weiter kommen wir immer – auch wenn wir dann vielleicht nur eine Steinstatue vorzeigen können. Manchmal ist das Spiel geradezu entgegenkommend: Haben wir die Energieleisten von Bossen, die manchmal bis zu fünf Mal geleert werden müssen, bereits ein gutes Stück niedergekämpft, lässt uns Kamiya nach einer Niederlage des Öfteren nicht wieder ganz von vorne starten, sondern an einem Checkpoint mitten im Kampf. Manchmal ist er aber auch nicht so gnädig. Ein fröhlicher Spaziergang ist „Bayonetta“ also nicht. Für alle, die an den Gegnern verzweifeln, gibt es jedoch einen Modus, bei dem das Spiel einen Großteil der Steuerung übernimmt und der Spieler bloß noch die richtigen Knöpfe zu drücken braucht. Wer allerdings vorhat, „Bayonetta“ auf die Schnelle per Autopilot durchzuspielen, der sei gewarnt: Es wird ihm einiges entgehen. Zum Beispiel die Befriedigung, einen Gegner geschlagen zu haben. Oder einen Bossgegner. Oder gleich mehrere Bossgegner. Denn trotz der eingangs beschriebenen Gigantomanie sind die ersten beiden Drittel des Spiels nur ein Witz gegen das, was uns Kamiya dann entgegenschleudert. Dass uns gegen Ende eines Spiels noch einmal alle Bossgegner aus dem bisherigen Verlauf hintereinander auf den Hals gehetzt werden, ist inzwischen ein Klassiker des Gen-res – doch damit begnügt sich Kamiya nicht: Selbst nachdem wir un-serem vermeintlichen letzten Gegner in Zeitlupe eine Kugel be-zie-hungs-weise einen Lippenstift in die Stirn gelenkt haben, ist es damit noch nicht getan. Staunend erleben wir, wie die Geschichte immer weitergeht und sehen uns abermals einem Gegner gegenüber, der alle vorherigen in den Schatten stellt. Dass das Spiel auch nach dessen Niederlage nicht zu Ende ist, hätten wir uns zwar schon denken können – wenn es aber dann wirklich geschieht, sind wir dennoch überrascht: Der Kampf der schönen Hexe scheint nie vorbei zu sein.

Kompromisslos brachial

Mit „Bayonetta“ liefert das junge Studio Platinum Games das erste Spiel ab, das nicht nur seinen eigenen Ansprüchen gerecht wird, kompromisslose Videogames ohne Rücksicht auf den Mainstream zu entwickeln, sondern auch spielerisch vollkommen überzeugt. Ihr Debüt, das ultrabrutale „Madworld“ bestach eher durch Radikalität als durch Qualität. „Bayonetta“ soll das nun besser machen – und mit seiner verrückten Überdrehtheit nebenbei auch noch die Tradition seines Publishers Sega wiederaufleben lassen, der zuletzt eher konventionelle Games herausgebracht hat, früher aber dafür bekannt und berühmt war, dem Schrägen und Verqueren eine Chance zu geben. Es bleibt also nur, „Bayonetta“ allen Erfolg zu wünschen. Denn dieses Riesenspiel lässt uns Dinge erleben, die jeglichen Bezugs zur Realität entbehren und die wir selbst in einem Videospiel noch niemals erlebt haben. „Bayonetta“ ist stundenlang geballter Wahnsinn. Ein Videospiel, das so unfassbar ist wie ein nicht enden wollender Orgasmus.

Fazit

Ein komplett überdrehtes Action-Adventure, wie es noch kein Spieler gesehen hat. Vollgepackt mit Gameplay-Ideen, einer abgedrehten Story und gigantischen Gegnern. Kurz: ein Meisterwerk. Für Freunde von „Devil May Cry“, „God Of War“, „Altered Beast“
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von Moses Grohé / Dezember 14th, 2009 /

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