Pikmin

Pikmin

Auf den ersten Blick wirken die Horden von kleinen Wesen in diesem Nintendo-Klassiker unschuldig und knuffig. Tatsächlich haben sie es aber faustdick hinter dem Blütenblatt Spielkonsolen sind Emotionsmaschinen. Games berauschen uns, sie machen glücklich und stolz. Oder sie setzen uns unter Druck, sie beängstigen und verwirren. Doch eines erreichen Videospiele nur selten: dass wir uns mit den Charakteren auf dem Bildschirm wirklich verbunden fühlen. Ob Mitglieder unseres Anti-Terrorkommandos im Egoshooter das Zeitliche segnen oder unsere Band in einem Musikspiel ausgebuht wird, hat zwar spielerische Konsequenzen, geht uns emotional aber meist am Allerwertesten vorbei. Subtilere Gefühle wie Empathie zu erzeugen versuchen nur wenige Titel, und noch wenigeren gelingt es. Games, die eine solche Verbundenheit aufbauen, sind deshalb zu Recht künstlerische („Shadow Of The Colossus“) oder kommerzielle Klassiker („The Sims“) geworden. Ein Spiel wird in diesem Zusammenhang leicht übersehen. Kein Wunder, sind seine Protagonisten doch gerade einmal zwei Zentimeter groß. Das im Jahr 2001 von Nintendo für den Gamecube veröffentlichte „Pikmin“ ist im Kern eine Art Echtzeit-Strategiespiel, das in der Flora und Fauna eines fremden Planeten spielt. Ob sich Produzent Shigeru Miyamoto und seine Lead-Designer Masamichi Abe und Shigefumi Hino tatsächlich Titel wie „Command & Conquer“ oder „Age Of Empires“ zum Vorbild genommen haben, muss Spekulation bleiben. Denn Nintendo erklärt die eigenen Spiele in der Regel nicht. Auch neun Jahre nach Erscheinen von „Pikmin“ finden sich kaum substanzielle Informationen über dessen Entstehung, die über die Anekdote hinausgehen, dass Miyamoto seinen privaten Garten mit Pflanzen und Ameisen einmal in einem Spiel umsetzen wollte. Der Spieler steuert in „Pikmin“ einen humanoiden Forscher namens Captain Olimar. Im japanischen Original heißt er Orima – ein Anagramm von Nintendos größtem Helden und Maskottchen Mario. Olimars wie ein Fabergé-Ei aussehendes Raumschiff „S.S. Dolphin“ kollidiert im Weltraum mit einem Asteroiden und muss auf einem Planeten notlanden. Doch damit fängt der Ärger erst an. Problem Nummer eins: Beim Aufprall verstreuen sich 30 Teile des Schiffs über den ganzen Himmelskörper. Problem Nummer zwei: Die Atmosphäre des Planeten ist giftig. Olimar besitzt nur Sauerstoff für 30 Tage. Schafft der Spieler es nicht, zumindest die für den Start ins All essenziellen Teile innerhalb dieser Zeit zu finden, ist das gesamte Spiel verloren – für ein Nintendo-Game eine überraschend unbarmherzige Prämisse, die viele Spieler so sehr unter Druck gesetzt hat, dass das Zeitlimit beim drei Jahre später erschienenen Nachfolger „Pikmin 2“ gnädigerweise entfernt wurde. Olimar stößt bei der Erkundung des Planeten auf eine rote Vorrichtung auf drei Stelzen, die an die Tripods aus der Fernsehserie „Die dreibeinigen Herrscher“ erinnert. Aufgrund ihrer runden Kuppel mit einem Rotor aus Blütenblättern tauft Olimar sie „Zwiebel“. Aus ihr fliegt ein Setzling in die Erde, den der Kapitän mit einem herrlich spielhallenmäßigen „Pflock“-Sound herauszieht. Olimar sieht sich einem winzigen roten Wesen gegen-über. Obwohl er selbst nur mehrere Zentimeter misst und ihn sogar die umgebenden Grashalme überragen, ist das Wesen noch kleiner als er selbst. Es hat einen schmalen, seltsam hochgezogenen Körper – wie eine Reflektion in einem lustigen Spiegel, der die Proportionen verzerrt. Aus dem Kopf ragt ein grünes Blatt. Mit seinen dünnen Armen und Beinen, noch dünneren Fingern und Zehen und einem tumben Blick macht das Wesen nicht gerade den Eindruck, als stünde es auf diesem Planeten an der Spitze der Nahrungskette. Aber gerade deshalb möchte der Spieler es von der ersten Sekunde am liebsten in den Arm nehmen. Olimar erinnert es an seine interstellare Liebingskarottenmarke „Pik Pik“, deshalb tauft er die Spezies Pikmin. Der Forscher in ihm erwacht, er will die Pikmin studieren und mit ihnen vom Planeten entkommen. Während dem Spieler schon ein einzelner Pikmin mit seinem treudoofen Hundeblick halb das Herz bricht, ist es bei ganzen Rudeln von ihnen endgültig geschehen. Denn sammeln die Wesen Blumen oder Kadaver, tragen sie diese mit infantilen „Ohs!“ und „Yiehs!“ und vereinten „Pikmin, Pikmin“-Chören zur Zwiebel. Die wirft daraufhin Samen in die Erde, aus denen neue Exemplare wachsen. Je länger sie im Boden bleiben, bevor Olimar sie herauszieht, desto kräftiger fällt der Nachwuchs aus. Diese seltsame Mischung aus tierischem Wesen und unbefleckter, pflanzlicher Reproduktion bleibt nicht das einzige Mysterium: Irgendwann tauchen zwei neue Zwiebeln auf, und der Spieler muss herausfinden, welche Fähigkeiten die anderen Pikmin-Arten auszeichnen. Da das Spiel seit neun Jahren erhältlich ist, sei es erlaubt zu verraten: Während die roten Pikmin gute Krieger abgegeben und resistent gegen Feuer sind, atmen die blauen Pikmin unter Wasser. Die gelben Exemplare tragen auf Befehl Bomben mit sich und sind so leicht, dass Olimar sie auf entlegene Absätze werfen kann. Dabei steuert der Spieler die Pikmin nur indirekt: Er kann sie mit Olimars Trillerpfeife und seinem wie Discolicht schillernden Auswahlstrahl zur Ordnung rufen und einzeln oder in Gruppen in Aktion treten lassen. Rot, blau, gelb – nur drei verschiedene Einheiten: Das hört sich wenig an für ein Echtzeitstrategiespiel, aber die Strategiekomponente besteht hauptsächlich im Managen der Ressourcen – also darin, herauszufinden, welche Pikmin gegen welche Hindernisse oder Feinde in welchem Mischverhältnis am effektivsten agieren. Denn Olimar und seine Gang sind beileibe nicht die einzigen Wesen auf dem Planeten: Es gibt verschlafene Giftkäfer mit Glubschaugen, Riesenspinnen oder fliegende Maulwürfe, die Feuer speien. Dabei spielt „Pikmin“ geschickt mit Größenverhältnissen: Olimar ist so winzig, dass noch der kleinste Käfer massiv wie ein Endgegner wirkt. Selbst Pappkartons oder leere Dosen auf dem Planeten können nur unter Anstrengung passiert werden. Solch menschlicher Müll soll dem Spiel neben aller Nintendo-Süße eine realweltliche Komponente verleihen: „‚Pikmin‘ wollten wir sehr realistisch wirken lassen“, sagt Miyamoto in einer seiner raren Ausführungen zum Spiel: „Der Spieler sollte den Eindruck bekommen, dass wirklich Pikmin zwischen seinen Füßen umherirren und Dinge tun, von denen er nichts weiß.“ Dieser Anspruch spiegelt sich auch im künstlerischen Stil der Grafik: Der Boden des Planeten wirkt für ein Nintendo-Spiel ungewohnt fotorealistisch. In der Tat sieht er so aus, als wären dafür tatsächlich Wald- und Wiesenfotos eingescannt und sozusagen als Teppich verwendet worden. Da kaum ein Aspekt an Videospielen eine so geringe Halbwertszeit besitzt wie vermeintlich realistische Grafik, wirkt das Resultat unter heutigen Gesichtspunkten relativ klobig. Dass einen das Spiel visuell auch heute noch packt, liegt an den Pikmin selbst. Ach, die Pikmin! Man möchte die Kleinen hegen, pflegen und beschützen, mit ihnen wandern in guten wie in schlechten Tagen, bis dass der Tod einen scheidet. Und geschieden wird: Denn das Band der Sympathie, das zwischen Spieler und Pikmin entsteht, liegt nicht allein am süßen Design. Auch Super Mario ist knuffig, trotzdem nimmt einen der Verlust eines Klempnerlebens nicht mit. Die Pikmin jedoch sind so hilflos, dass sie sterben, wenn man sich nicht um sie kümmert. Vergisst man etwa einige Pikmin am Ende eines Spieltages einzusammeln und in die Sicherheit der Zwiebeln zu führen, reißen nachaktive Tiere die Blumenwesen in Stücke. Auch kleinere Käfer auf dem Planeten genießen es, gleich mehrere Pikmin genüsslich im Mund zu zerkauen. Dabei fließt kein Blut. Trotzdem wirkt der Exitus heftig: Die Pikmin geben einen erschöpften Todesseufzer von sich, und ihre Seele steigt den Spieler anklagend gen Himmel. Miyamoto sagte kürzlich bei einem GEE-Interview in Paris: „,Pikmin‘ bringt einem etwas für das Leben bei. Und zwar, dass wir für unser gesamtes Handeln und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, verantwortlich sind. Wenn einige Pikmin es nicht überleben, werde ich ganz traurig, weil ich es hätte verhindern können. Ich möchte nicht, dass auch nur ein Pikmin stirbt.“ Und das ist unvermeidlich: Captain Olimar muss Pikmin opfern, damit er selbst überleben kann. Dadurch bauen sich Schuldgefühle auf, die das Spiel emotional brutaler machen als Titel, in denen literweise Blut vergossen wird – besonders wenn man aus Unachtsamkeit die falsche Taktik gewählt hat oder zu gierig ist und kurz vor Verstreichen eines Tages noch eine verlustreiche Kamikaze-Aktion durchführt. Selbst misslungene Aspekte des Spiels knüpfen das Band zwischen Spieler und Pikmin nur noch enger: Die Wesen bleiben allzu oft beim Laufen an Ecken irgendwelcher Steine hängen oder fallen aus Versehen ins Wasser. Das ist ein bekanntes Problem in Echtzeit-Strategiespielen. Aber während man sich in Games wie „Command & Conquer“ zu Recht darüber ärgert, dass ausgebildete Militärs verdammt nochmal nicht in der Lage sind, einen Panzer um einen Felsen zu manövrieren, ertappt man sich hier dabei, mit einem zurückgefallenen Pikmin wie mit einem lebendigen Tier zu reden: „Ooch komm, das schaffst du!“ Aller Verbundenheit zum Trotz war „Pikmin“ nur ein moderater Erfolg beschieden. Insgesamt 1,5 Millionen Exemplare wurden weltweit verkauft. Für die Hardcore-Gamer war das Spiel strategisch zu flach, für Gelegenheitsspieler zu friemelig. Interessant ist dabei, wie sich die Rezeption des Titels im vergangenen Jahrzehnt gewandelt hat: Was 2001 als kleines, liebenswürdiges, aber krudes Game wahrgenommen wurde, wurde im Laufe der Zeit zur letzten neuen großen Nintendo-Serie für Gamer. Und musste auf einmal sogar als Hoffnungsträger herhalten: So sehr „Wii Fit“, „Nintendogs“ und Co auf ihre Art neue Standards gesetzt haben, fühlten sich klassische Nintendo-Fans vor zwei Jahren derart verlassen von ihrer Lieblingsfirma, dass Shigeru Miyamoto sie erst durch eine eigentlich nicht geplante Ankündigung von „Pikmin 3“ beruhigen konnte. Hoffung, Mitgefühl, Schuld und Trauer – das sind intensive Gefühle für ein auf den ersten Blick nur knuffiges Videospiel. Die emotionale Größe eines Games hat eben nichts mit der Größe seiner Protagonisten zu tun. „Pikmin“ ist günstig gebraucht erhältlich. Die Gamecube-Disc kann auch auf der Wii abgespielt werden. Für die Steuerung wird jedoch ein entsprechender Controller benötigt. 2009 erschien die inhaltsgleiche Wii-Umsetzung „New Play Control! Pikmin“, die neben Verbesserungen in der Steuerung ein für HD optimiertes Breitbild bietet.
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von Heiko Gogolin / April 23rd, 2010 /

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