„Kunst und Mathe“
Mit „Enslaved“ hat die Spieldesignerin Nina Kristensen eines der schönsten Spiele des Jahres vorgelegt. Mit GEE spricht sie über die Gründerjahre ihres Studios Ninja Theory, ihre Liebe zur Bildhauerei und die Rolle der Frau in der Videospielbranche
Sie stammen eigentlich aus dem australischen Melbourne. Seit 14 Jahren leben Sie im kalten, verregneten England. Wie ist denn das passiert?
Nachdem ich mein Industriedesign-Studium in Melbourne beendet hatte, bin ich ein Jahr lang durch Europa gereist. London hat mir besonders gut gefallen, also habe ich spontan beschlossen, mich dort niederzulassen. Das ist jedoch leider eine ziemlich teure Stadt. Nach zwei Monaten hat sich mir der Geldautomat verweigert – und das ausgerechnet an einem Freitagabend. Meine Ersparnisse waren aufgebraucht. Ich musste mich also dringend nach einem Job umsehen.
Und dann haben Sie es mit Videospielen versucht?
Genau so war es. Jemand empfahl mir, mich bei einer Videospielfirma zu bewerben. In Australien gab es damals kaum Spielentwickler. Ich war also bis dahin nie auf die Idee gekommen, dass diese Branche für mich infrage käme. Da ich mich als Industriedesignerin mit 3D-Software auskannte, war ich aber durchaus qualifiziert. Das Studio Millennium Interactive aus Cambridge war das erste, bei dem ich mich vorstellte – und die haben mir tatsächlich sofort eine Stelle angeboten. Letztendlich verdanke ich meine ganze Karriere in der Videospielindustrie also der Tatsache, dass ich damals mein Geld nicht zusammenhalten konnte. Das war sozusagen Glück im Unglück.
Woher kommt denn Ihr Interesse für 3D-Modeling, das Erstellen von dreidimensionalen Modellen am Computer?
Schon als ich klein war, habe ich mich sowohl für Kunst als auch für Mathematik begeistert. Ich weiß, das ist eine eher seltene Kombination. Das Schöne am Industriedesign und dem Umgang mit 3D-Software ist, dass dort beides benötigt wird: Einerseits ist eine sehr präzise, mathematische Vorgehensweise vonnöten, andererseits fordert sie ein hohes Verständnis für Form, Bewegung und Schönheit. Zudem ist Industriedesign sehr praxisnah. Ich habe es damals unheimlich genossen, diese zwei widersprüchlichen Leidenschaften in einem Studium ausleben zu dürfen.
Wissen Sie, woher diese Leidenschaften stammen?
Auch aus meiner Kindheit. Ich habe früh angefangen, mit Ton zu spielen und aus dieser Rohmasse unterschiedlichste Dinge entstehen zu lassen. Als Teenager hatte ich dann eine sehr ernste Phase, in der ich für kurze Zeit der Kunst abgeschworen und mich vollkommen in mathematische Formeln und Physikbücher vertieft habe. Irgendwann merkte ich aber, dass ich damit allein nicht glücklich werden würde. Daher habe ich mich der Bildhauerei zugewandt und damit begonnen, Plastiken und Skulpturen zu entwerfen.
Was waren das für Plastiken?
Ich habe aus Altmetall komplexe, ineinander verschlungene Gebilde zusammengeschweißt, aber auch mit Stein und anderen Materialien gearbeitet. Von einer Mitschülerin habe ich einen Ganzkörperabdruck gemacht und die einzelnen Körperteile neu zusammengesetzt. Es war die Auseinandersetzung mit der menschlichen Gestalt, die mich damals am meisten interessierte. Meine Abschlussarbeit für den Kunstkurs an der High School bestand aus drei Skulpturen. Eine davon sah aus wie ein zerfetzter Frauenkörper. Das war zwar ziemlich gewagt – aber die Lehrer an meiner Schule haben uns immer wieder dazu ermutigt, neue Techniken auszuprobieren. Besonders bemerkenswert fand ich, dass ich Säure mit in den Kunstunterricht nehmen durfte, um damit die Oberfläche von Metallen zu bearbeiten. Auf dem Schulhof vor dem Kunsttrakt meiner alten High School kann man heute immer noch Spuren meiner Experimentierfreude mit diversen hoch ätzenden Substanzen sehen.
Fehlt Ihnen heute dieser direkte, körperliche Umgang mit handfesten Materialien oder die Gefahr, mit Chemikalien und scharfem Werkzeug zu arbeiten?
Hin und wieder schon. Aber bei mir ist es so: Ich muss mich einer Sache vollkommen widmen und in ihr aufgehen. Nebenher ein wenig Kunst zu machen und ein paar Skulpturen anzufertigen, das funktioniert für mich nicht. Ich sehe aber auch den Computer in erster Linie als Werkzeug an. Mit ihm kann ich genauso kreativ sein wie mit Hammer und Meißel oder beispielsweise einem Schweißbrenner. Die Unterschiede sind marginal.
Bei ihrem ersten Job in der Spielebranche haben Sie Figuren für das Action-Adventure „Medi Evil“ modelliert. Selbstverwirklichung sieht anders aus.
Das stimmt. Ich habe als Junior Artist angefangen und musste die Entwürfe eines anderen Künstlers umsetzen. Aber zum Glück hat mir sein Stil sehr
gefallen. Der Held des Spiels war ein einäugiges Skelett, die Schauplätze und die Figuren waren wirklich extrem durchgeknallt. Das hat mir gefallen. Die seltsame Welt von „Medi Evil“ entstehen zu lassen, das hat sich für mich selbst wie ein Spiel angefühlt und nicht wie Arbeit.
Was geschah, nachdem das Spiel draußen war?
Etwa zwei Jahre, nachdem ich bei Millennium Interactive angefangen hatte, wurde die Firma von Sony aufgekauft. Irgendjemandem dort muss meine Arbeitsweise gefallen haben. Denn kurz darauf wurde ich zur Art Managerin befördert.
Die Begriffe „Kunst“ und „Manager“ stehen für viele Leute im Gegensatz. Welche Qualifikationen muss man denn als Art Managerin mitbringen?
Auch wenn das nicht dem Klischee eines Künstlers entspricht: Ich liebe es, meinen Arbeitsalltag penibel durchzuorganisieren. Ich lege ständig Listen von allen möglichen Dingen an. Als wir beispielsweise mit „Medi Evil“ fertig waren, hatte ich eine Zeit lang nichts zu tun. Also habe ich das Spiel mehrmals durchgespielt und mir alles aufgeschrieben, was mich gestört hat: Texturen, die falsch dargestellt wurden, kleine Fehler in den 3D-Modellen und Animationen – lauter Details, die wahrscheinlich sonst niemandem aufgefallen wären. Außerdem muss ich gestehen, dass es in meiner Natur liegt, anderen Menschen sagen zu wollen, was sie zu tun haben. Ich möchte meine Vorstellung von Qualität – und damit von einem gelungenen Videospiel – unbedingt durchsetzen. Diese Charakterzüge in Verbindung mit einer ausgeprägten Leidenschaft für Kunst zeichnen wohl einen guten Art Manager aus.
Gibt es ein Wort, das das alles zusammenfasst?
Perfektion. Darum geht es mir. Natürlich kann man ein Spiel veröffentlichen, wenn es einen soliden Eindruck macht und keine groben Fehler mehr zu finden sind. Mir sind jedoch all die Kleinigkeiten wichtig, die ein gutes Spiel zu einem besseren Spiel machen. Ich möchte immer erreichen, dass ein Spiel so gut wird, wie es möglich ist. Für mich gibt es nichts Schöneres, als anderen Menschen dabei zu helfen, über sich hinauszuwachsen. Das alles zusammengenommen erfüllt mich mit ungeheurer Befriedigung.
Auch deswegen haben Sie Ihr eigenes Entwicklerstudio gegründet, aus dem später Ninja Theory wurde?
Was meine Kollegen Mike Ball, Tameem Antoniades und mich vor zehn Jahren mehr als alles andere dazu bewogen hat, unsere Firma Just Add Monsters ins Leben zu rufen, war der einfache Wunsch, genau die Spiele machen zu können, die wir machen wollten. Wir hatten alle ein wenig Geld zusammengespart, um die erste Zeit zu überbrücken – aber nicht genug, um eigene Büroräume anmieten zu können. Daher saßen wir anfangs alle zusammengepfercht in Mikes Schlafzimmer. Aber wir waren jung, ungebunden und hungrig auf Abenteuer. Es war genau der richtige Zeitpunkt, ein solches Risiko einzugehen.
Haben Sie einen Ratschlag für angehende Game-Designer, die ihr eigenes Studio gründen wollen?
Wir waren damals bereit, all unsere Ersparnisse zu investieren, um unseren Traum zu verwirklichen. Wir waren uns aber auch einig, dass wir uns dafür nicht verschulden würden. Das war unsere Grenze. Und dazu würde ich auch jedem anderen raten.
Wenn man eine eigene Firma ins Leben ruft, startet man meist mit großen Visionen. Was wollten Sie anders machen – abgesehen von Spielen, die Ihnen gefallen?
Mir war vor allem die Art der Zusammenarbeit wichtig – die Unternehmenskultur, wenn man so will. Die Videospielbranche ist dafür berüchtigt, dass ihre Mitarbeiter monatelang bis tief in die Nacht hinein arbeiten und die meiste Zeit im Studio verbringen. Ich habe das selbst miterlebt und habe während dieser Zeit feststellen können, dass wir unter diesen extremen Bedingungen nicht mehr zustande gebracht haben als zu normalen Arbeitszeiten. Mein Motto für unsere eigene Firma war daher: Arbeite hart, aber gehe danach hinaus in die Welt – und lebe!
Sie gehören zu den wenigen weiblichen Führungspersönlichkeiten in der Spielebranche. Warum ist das so?
Ein großes Problem ist nach wie vor, dass die Videospielindustrie in der Öffentlichkeit nur von wenigen als legitimes Berufsfeld erkannt und anerkannt wird. Wir sind aber eine Branche wie jede andere: Es gibt Renten, Sozialleistungen und geregelte Arbeitszeiten. Nur weiß davon kaum jemand etwas. Bei mir war das ja früher ganz ähnlich. Immerhin haben wir bei Ninja Theory einen Frauenanteil von rund fünfzehn Prozent. Gegenüber dem Branchendurchschnitt von vier Prozent stehen wir also ganz gut da.
Vier Prozent: Das dürfte auch der maximale Anteil an weiblichen Hauptfiguren in Videospielen sein. Nachdem man in „Heavenly Sword“ mit Nariko eine Heldin spielen durfte, ist es in Ihrem neuen Titel „Enslaved“ wieder ein männlicher Muskelberg namens Monkey. Einzig seine Begleitung, die Hackerin Trip, ist eine Frau. Verkaufen sich Spiele mit männlichem Protagonisten einfach besser?
Das war sicherlich nicht unser Hintergedanke. „Enslaved“ basiert auf dem klassischen chinesischen Roman „Die Reise nach Westen“, und dessen Hauptfigur ist nun mal der Affenkönig Sun Wukong. Im Allgemeinen würde ich jedoch sagen, dass es durchaus einen Bedarf nach vielschichtigen weiblichen Figuren in Videospielen gibt. Und die Zeiten, in denen deren Beliebtheit von ihrem Brustumfang abhängig war, sind endgültig vorüber. Ich denke, mit unserer Heldin Nariko aus „Heavenly Sword“ haben wir genau das gezeigt.
Dennoch erhielten Spieler, die „Enslaved“ vorbestellt hatten, zur Belohnung ein eng anliegendes, viel Haut zeigendes, virtuelles „Sexy Robot Trip“-Kostüm, das sie Monkeys Begleiterin anziehen durften. Feminismus 2010?
(überlegt eine Weile) Ach, wissen Sie: Hin und wieder ist es in Ordnung, mit so etwas zu kokettieren.
Nina Kristensen, 38, lebt und arbeitet in Cambridge, England. Sie bezeichnet sich selbst als Sci-Fi-Junkie und steht dabei besonders auf sogenannte Hard-Science-Fiction – Zukunftsentwürfe, die auf wissenschaftliche Genauigkeit und Plausibilität Wert legen. Zudem verschlingt sie jede Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „New Scientist“ von der ersten bis zur letzten Seite. Ihre offizielle Funktion in dem von ihr mitgegründeten Entwicklerstudio Ninja Theory lautet „Chief Development Ninja“. Während sich andere Mitarbeiter um Einzelaspekte eines Spiels kümmern, ist es ihre Aufgabe, das große Ganze im Blick zu behalten. Eine Stärke ihres Studios liegt in der Einbeziehung von Schauspielern, deren Bewegungen und Mimik mittels Motion-Capturing-Verfahren in die Spiele übernommen werden, um den Figuren im Spiel Leben einzuhauchen. Derzeit arbeitet sie mit ihrem Team am neuen „Devil May Cry“-Titel „DmC“.
Die Spiele von Ninja Theory
Kung Fu Chaos (2003)
Als Ninja Theory noch Just Add Monsters hieß, hat das Studio diesen Kampfkunstklopfer für die Xbox veröffentlicht. Unter der Vorgabe, den perfekten Martial-Arts-Film zu drehen, ließ der Spieler drollige Ninjas und andere Nahkampfspezialisten von der Leine.
Heavenly Sword (2007)
In einem der ersten PS3-Spiele zog die Kriegerin Nariko gegen eine Übermacht von Gegnern zu Felde und ließ erahnen, wozu Sonys neue Konsole imstande war. Gespielt und gesprochen wurde Nariko von Anna Torv, dem späteren Star der Fernsehserie „Fringe“.
Enslaved (2010)
Wenige hatten dieses Spiel um das ungleiche Paar Monkey und Trip auf dem Zettel, das sich durch eine erschreckend schöne Endzeit kämpft. Und auch wenn die Kletterpassagen ein Witz sind: Mit „Enslaved“ ist Nina Kristensen ein Videospielkunstwerk gelungen.
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