Krisengebiet

Nach den Erfolgen von „Far Cry“ und „Crysis“ hatte man beim Frankfurter Entwicklerstudio Crytek genug von Tropenromantik. „Crysis 2“ schickt die Spieler in ein von Außerirdischen verwüstetes New York. Wir haben die Firma besucht und uns mit den Machern über ein Spielunterhalten, das auch in 3D Maßstäbe setzen soll

Augenränder so schwarz wie die durchgearbeitete Nacht, Berge von Papier und zerdrückten Engergydrinkdosen links und rechts neben den Bildschirmen, das Trommeln der Tastaturen, hin und wieder ein Seufzer, ein Durchschnaufen, ein Ächzen oder ein Panikschrei: Die letzten Wochen, bevor ein Videospiel veröffentlicht wird, sind in Entwicklerstudios immer die härtesten. Für jeden Fehler, der entdeckt und beseitigt wird, tauchen zehn neue auf. Die Deadline rückt näher und näher. Die Arbeit wird mehr statt weniger. Freizeit? Schlaf? Familie? Chaos! So sieht es die „Panik-Regel“ der letzten Phase nun mal vor. Eigentlich. Hier in Frankfurt bei Crytek scheint man allerdings nicht von ihr gehört zu haben. Zwei Monate sind es noch hin, bis „Crysis 2“ erscheint, und die Gänge sind erstaunlich still. Erstmals bringt die Firma ein Spiel auch für Spielkonsolen an den Markt. 140 Mitarbeiter waren allein in Frankfurt an der Entwicklung beteiligt. Bei Crytek UK in Nottingham arbeiteten weitere 60 am Multiplayer-modus. Der Nachfolger des 2007 erschienenen Egoshooters „Crysis“ ist eines der weltweit aufwendigsten Projekte des Jahres. Und das Ächzen? Die Angst? Man hört nichts. Es liegt schlicht daran, dass kaum einer mehr hier ist. Lediglich ein kleines Team ist noch mit dem Feinschliff beschäftigt. Der Rest ist in den Urlaub gefahren. Und die Chefs machen auch den Eindruck, als seien sie in Gedanken schon am Strand. „Es läuft alles nach Plan“, sagt Managing Director Avni Yerli und lehnt sich entspannt in seinen Bürostuhl. Eine Woche nach dem Gespräch wird die Raubkopie einer unfertigen Version von „Crysis 2“ im Internet auftauchen. Aber auch das kann hier keinen aus der Bahn werfen. Man kennt die „Panik-Regel“ nicht. Das Gebot bei Crytek lautet: Selbstbewusstsein. Crytek, das ist die Botschaft, ist keine stinknormale Entwicklerfirma. Schließlich hat man aus einer Coburger Hinterhoffirma innerhalb weniger Jahre ein Weltunternehmen mit Sitz in Frankfurt gemacht. Der Vater der Firmengründer Avni, Faruk und Cevat Yerli wollte, dass seine Zöglinge was Anständiges werden – Bauingenieure zum Beispiel. Doch die drei hatten andere Ziele. Sie wollten zeigen, dass auch hierzulande international erfolgreiche Computerspiele abseits des Aufbaustrategie-Genres entstehen können. Bereits mit ihrem Erstling, dem 2004 veröffentlichten Egoshooter „Far Cry“, gelang das. Heute gelten die Brüder als Anschauungsobjekt, wenn es um erfolgreiche Migrantenkinder geht. Multikulti ist bei Crytek gelebte Realität, auch das betonen sie hier gerne. „Wir sind mit zwei Kulturen aufgewachsen“, sagt Avni Yerli. „Der türkischen Kultur verdanken wir unsere Erfolgsorientierung und die Stärke, sich von Rückschlägen nicht einschüchtern zu lassen. Wenn man das mit deutschen Tugenden wie Disziplin und Qualitätsbewusstsein kombiniert, kommt etwas sehr Schönes heraus.“ Avnis jüngerer Bruder Faruk, ebenfalls Managing Director, sitzt neben ihm genauso entspannt im Sessel und nickt. „Crytek war von Anfang an als multikulturelles Unternehmen konzipiert“, fügt er hinzu. „Du könntest die Firma, so wie sie ist, einfach nehmen und von Frankfurt an irgendeinen Ort auf der Welt verpflanzen. Wir sind nicht wegen Frankfurt hier und nicht wegen Deutschland, sondern wegen Crytek.“ Das Selbstbewusstsein hat seinen Grund. Auch der Nachfolger von „Far Cry“ wurde ein Hit. Die ursprüngliche Mitarbeiterzahl von 70 verdoppelte sich. Man zog um in die Finanzmetropole und lieferte mit dem für 15 Millionen Euro produzierten „Crysis“ das bis dahin teuerste in Deutschland gemachte Videospiel ab. Mittlerweile arbeiten bei Crytek in Frankfurt mehr als 300 Menschen aus 41 Nationen. Man spricht Englisch, und an die Wände hat man Flaggen aus der halben Welt zwischen die branchenüblichen Actionfilm-Poster gepinnt. Ein einziges Multikulti-Idyll? „Nein, es kommt schon hin und wieder zu Missverständnissen“, sagt Faruk Yerli. Er lacht. „Daran, dass es zum Beispiel fast nichts bedeutet, wenn ein Amerikaner ‚that’s great‘ sagt, mussten wir uns erst gewöhnen.“ Die Yerlis haben trotzdem einige Amerikaner verpflichtet. Sie haben sich ihr Gebilde wohldurchdacht konstruiert. „Amerikaner erinnern uns immer daran, was gute Unterhaltung bedeutet“, sagt Avni Yerli. „Wir Europäer sind da viel zu verkopft.“ Darum haben sie sich auch Leute wie Nathan Camarillo geholt. Man muss auch bei ihm nicht lange bohren, bis er beginnt, die Firmenphilosophie zu loben. „Die Menschen hören einander aufmerksa-mer zu, wenn ihre Kommunikation nicht selbstverständlich ist, weil es Mentalitäts- und Kulturunterschiede gibt“, sagt er. „Sie geben sich automatisch mehr Mühe.“ Das bessere „Crysis“? Als Executive Producer ist der Amerikaner für die Gesamtkoordination des Projekts „Crysis 2“ verantwortlich. Und das Firmenprinzip gilt gewissermaßen auch für das neue Spiel: So wie sich die Crytek-Strategen die Vielfalt der Stimmen in ihrem Unternehmen zunutze machen, haben sie offenbar auch die zahlreichen Meinungen in der Game-Community akribisch analysiert, um ihr neues Projekt zu perfektionieren. Der wichtigste Kritikpunkt: Der Vorgänger, in dem man als Soldat die außerirdischen Seph abwehren musste, überforderte viele Rechner. Selbst heute, beinahe vier Jahre nach seinem Erscheinen, kann sich „Crysis“ auf kaum einem PC in seiner ganzen Wucht entfalten. Seit seinem Erscheinen steht die Firma im Ruf, tech-nisch perfekte, aber seelenlose Spiele zu produzieren: beindruckende Licht- und Physikeffekte bei dünner Story. Das hat Crytek ein unangenehmes Protzer-Image eingebracht, und dass Creative Director Cevat, der jüngste der Yerlis, bei jeder Gelegenheit erzählen muss, dass man bei Crytek schlicht die besten Spiele der Welt mache, hat die Firma auch nicht für alle sympathischer gemacht. „Es war schon ärgerlich, dass einige ‚Crysis‘ eher als Demonstration des technisch Machbaren und we-niger als Spiel wahrgenommen haben“, sagt Avni Yerli heute. „Dabei war auch das Gameplay sehr gut. Wir haben jedoch feststellen müssen, dass viele Spieler die Möglichkeiten des Nanosuits nicht ausschöpften.“ Diese futuristische Kampfmontur war das eigentliche Kernstück von „Crysis“. Sie konnte schneller, stärker oder unsichtbar machen. Bei der Entwicklung von „Crysis 2“ lag eine der größ-ten Herausforderungen darin, den Spielern den Anzug so anzupassen, dass sie ihn auch benutzen wollen. Es war eine Aufgabe, bei der es um mehr ging als nur ums Image: Die Crytek-Entwickler mussten beweisen, dass sie ihren Muskelprotz nicht nur auf Hightech-Rechnern, sondern auch auf PS3 und Xbox 360 zum Laufen bringen. Bisher war es die Philosophie der Yerlis, die anspruchsvolle Crytek-Ware nur für PCs anzubieten. Doch diesen Luxus können sie sich nicht mehr leisten. So selbstbewusst sich die Yerli-Brüder zeigen mögen: Auch Crytek-Chefs müssen sich damit abfinden, dass sich der Markt für teure PC-Spiele auflöst. So stand das Multikulti-Team vor einer neuen Anpassungsaufgabe. „Die Umsetzung des Spielprinzips vom PC auf die Konsole hat mir schlaflose Nächte bereitet“, sagt Sten Hübler, einer der Shooting Stars bei Crytek. Für „Far Cry“ modellierte er noch Sträucher und Palmen, danach ist er schnell zum Leveldesigner aufgestiegen. Jetzt ist er Lead-Designer. Vor allem das Übertragen der Tastaturbefehle aufs Konsolen-Pad war ein Riesenproblem für ihn. „Erst als wir Mitte 2010 die Steuerung nochmals vereinfacht und die beiden in ‚Crysis‘ am häufigsten verwendeten Modi ‚Cloak‘ und ‚Armor‘ auf die Schultertasten des Controllers gelegt haben, war es gelöst“, sagt Hübler, packt einen Controller und bringt einen Seph mit der neuen Microwave-Cannon zum Platzen. Es sieht sehr beiläufig aus, wie der Designer das macht. „Crysis 2“ sollte zugänglicher werden als der Vorgänger. Die vorangegangenen Spiele wurden für ihre Handlungsfreiheit und den hohen Schwierigkeitsgrad geliebt, aber auch verflucht. Bei „Crysis 2“ haben die Macher dafür gesorgt, dass der Spieler mehr an die Hand genommen wird. Sie haben die Kampfzonen klar abgesteckt, er kommt seltener vom Weg ab. Grund dafür dürfte auch der Ortswechsel vom idyllischen Eiland in ein von Aliens zerstörtes New York gewesen sein: In den Häuserschluchten stößt man schnell an Grenzen. „Wir konnten einfach keine Palmen mehr sehen“, erklärt Sten Hübler den Umzug. „Außerdem ist New York eine Stadt mit großer Bedeutung. Wir denken, dass dieser Schauplatz die Menschen stärker berühren wird als eine beliebige Insel oder ein namenloses Hüttendorf.“ Aber es ist auch klar: Wie bei jeder Erfolgsgeschichte standen die Entwickler beim Nachfolger unter dem Druck, etwas Neues zu bieten. Auch eine neue Welt. Aber New York? Das Setting im dichten Dschungel machte „Far Cry“ einzigartig. Eine Großstadt-Skyline hatte man hingegen schon sehr häufig vor Augen – sei es im Film, im Spiel oder im Zuhause von Crytek in Frakfurt. Der Blick nach oben Was einem „Crysis 2“ an Weitläufigkeit und exotischer Vegetation vorenthält, schenkt es einem jedoch an Vielschichtigkeit. Der Nanosuit verhilft Supersoldat Alcatraz zu ungeheurer Sprungkraft. Höhere Stockwerke eines halb zerstörten Wolkenkratzers erreicht er selten über die Treppe, sondern durch gezielte Sätze entlang der geschundenen Architektur. „‚Crysis 2‘ erlaubt es dem Spieler, die Welt nicht nur auf einer Ebene zu ergründen, sondern auch in der Vertikalen“, sagt der Lead-Designer. Crytek hat sich einen schönen Namen dafür ausgedacht: „Vertical Gaming“. Um eine Konfrontation mit einer Übermacht zu umgehen, kann Alcatraz beispielsweise auch über die Dächer der Metropole an Abgründen entlangklettern. Der Weitblick von oben ist nicht nur optisch beeindruckend, durch ihn lässt sich die Umgebung auch besser sondieren. Hierbei erweist sich auch der ‚Visor‘-Modus des Nanosuits als hilfreich, der die Position der Gegner, Munitionsvorräte und taktisch interessante Punkte anzeigt. Mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der man Alcatraz in schwindelerregende Höhen schickt, geht es auch wieder hinunter. „Crysis 2“ ist nicht nur bei Sprüngen auffallend gnädig, verlangt vom Spieler wenig Präzision und hält ihn dadurch im Spielfluss. Alcatraz übersteht auch das Herabfallen aus großer Höhe ohne Verletzungen und kann wie auf einer Rodelbahn in Rückenlage Abhänge hinabsausen und dabei auf Gegner schießen. Action-Regisseur John Woo hätte seine Freude. Die dritte Dimension Ganz kann Crytek das Protzen ohnehin nicht lassen. Wenn sie schon auf die Konsolen gehen müssen, dann als Leader: „Crysis 2“ ist der erste Titel, der sowohl am PC als auch in der Version für PS3 und Xbox 360 die Darstellung in stereoskopischem 3D unterstützt. Im ‚Aquarium‘, dem Spielezimmer bei Crytek, wurden darum mittlerweile alle Fernseher auf 3D-Modus eingestellt. Mitarbeiter, die sich in der Pause hier treffen, um bei „Crysis 2“ gegen-ein-ander anzutreten, tragen jetzt 3D-Brillen. Produzent Peter Holzapfel hat mit seinem Team zwei-einhalb Jahre am 3D-Effekt gearbeitet. „‚Crytek 2‘ mag keine Kunst mit einer tiefen Botschaft sein. Aber es ist ganz großes Hollywoodkino“, sagt er. „Wir wollten erreichen, dass das Spielen mit 3D-Effekt genauso angenehm ist wie ohne.“ Es wirkt tatsächlich schärfer und plastischer als bisherige Versuche auf diesem Gebiet. Das mag an der höheren Auflösung liegen, aber ebenso daran, dass man tatsächlich auf Effekthascherei verzichtet. „Wir haben herausgefunden, dass es für den Spieler auf Dauer zu anstrengend ist, wenn es aussieht, als würden ständig Projektile aus dem Bildschirm heraus auf ihn zufliegen“, erklärt Holzapfel. Man schaut in ein New York der Zukunft, aber hat dabei nicht ständig das Gefühl, als habe man etwas im Auge. Die Vortäuschung von Raumtiefe hat zudem taktische Vorteile: Ziele lassen sich genauer anvisieren. Auch kann man durch die zusätzliche Tiefeninformation Soldaten im Tarnanzug besser erkennen. Und die leuchtenden Spuren der Aliengeschosse, die das Schlachtfeld wie die Lasershow in der Disko oder auf einem Konzert von „Fever Ray“ durchziehen, sind nicht nur hübsch anzusehen, sondern geben auch Aufschluss über die Position der Angreifer. All das könnte Spieler anstacheln, sich eine Grafikkarte mit 3D-Unterstützung, einen 3D-Monitor oder einen teuren 3D-TV anzuschaffen. Crytek wäre wieder Vorreiter. Und „Crysis 2“ würde von vielen wieder eher als Technikreferenz denn als mitreißendes Science-Fiction-Abenteuer wahrgenommen – zumal die Story kaum über ein Remake von „Space Invaders“ hinausgeht. Aber auch damit wird man in der Chefetage wohl gut klarkommen. Schließlich schmückt das Logo der Cryengine 3 – jener Software, die „Crysis 2“ zum Leben erweckt – ein Nazar, ein blau umrandetes Auge mit türkisfarbener Iris. Das türkische Symbol soll vor Schaden bewahren. Die Leute bei Crytek bleiben entspannt.
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von Volker Hansch / März 10th, 2011 /

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