Die Russen kommen

Die Russen kommen

Wer in Moskau aus der U-Bahn steigt, landet mit etwas Glück umgehend in einer Spielhalle. Überhaupt kann Russland mit einigen Überraschungen aufwarten, wenn es um das Thema Videospiele geht. Und mit Klischees natürlich auch. Ein Reisebericht

Woran man einen Russen erkennt, das weiß jeder Gamer genau. Er trägt einen langen Wintermantel und eine Pelzmütze mit einem roten Stern drauf. Und: Er zielt mit seiner Kalaschnikow auf dich. So zumindest haben es uns PC- und Konsolengames nachdrücklich eingeimpft. In den vorherrschenden westlichen Game-Szenarien taucht der Russe als solcher ja meist nur als entmenschter Rotarmist a.k.a. Kanonenfutter auf. Kanonenfutter, das durch seine düstere Herkunft bereits die Legitimation für eine Umnietung in sich trägt. Da wird mitunter die Doom’sche Monstren-Revue differenzierter dargestellt. Doch jetzt ist Schluss damit. Denn Russland befindet sich momentan in einer Umbruchphase in Sachen Games. Publisher wie Akella, 1C und Nival lizensieren nicht nur westliche Spiele, sondern entwickeln mittlerweile auch eigene Games mit russischem Background abseits jedes Einflusses durch westliche Kriegsspiele. Zudem gibt es mittlerweile auch eine aktive E-Sport-Szene, Eventspielhallen, kommerziell orientierte Weltübernahmegeheimpläne und noch Diverses mehr. Für solche Geschichten friert man dann auch gern mal vor Ort. Selbst wenn es kalendarisch hier in Moskau doch langsam schon Sommer sein sollte. Was soll’s. Richtige Games-Reporter wie wir haben ohnehin kaum Abwehrkräfte, sind blass vom Kunstlicht und müssen bezüglich Krankheiten eben einfach aufs Beste hoffen. Und möglichst immer irgendwo drinnen sein. In Moskau angekommen lassen wir uns zunächst einen Nachmittag lang treiben. Ohne Kyrillisch-Kenntnisse ohnehin ein leichtes Unterfangen. Wie magisch angezogen landen wir dennoch bald in einer dieser viehisch bunten und brüllenden Spielhallen, die sich häufig an einem der vielen U-Bahneinstiege finden. „Diese Arcade-Halls haben sich ziemlich gemacht in den letzten Jahren. Früher gab es immer nur vereinzelte Läden mit Geldspielen oder mal ein paar PS2s in Kellern“, wird uns Oleg später erzählen. Oleg ist hier geboren, studiert mittlerweile seit zwei Jahren Informatik in Frankfurt („keine Herausforderung“), besucht Moskau aber regelmäßig. „Diese Arcade-Hallen sind heute ganz professionell aufgezogen. Mit diversen Levels, wo du manchmal mehr findest als in so einem Ding in Tokio.“ Level: Bowling, Level: Billard, Level: Karaoke, Level: Simulationen, Shooter, Autorennen. Dennoch kommt bei unserem Besuch nur wenig bubblegummiges Spielhallen-Flair à la amerikanische High-School-Filme auf. Eher eine spürbare Mischung aus Tristesse und Aggro Moskau. Kein Wunder, denn Oleg klärt uns auf: „In Moskau ist in den allermeisten dieser Läden der Ausschank von Alkohol erlaubt, und das gehört für viele auch dazu, wenn sie hierher gehen. Abends sollte man tatsächlich ein bisschen aufpassen, man bekommt weit mehr aufs Maul, als das zum Beispiel in Frankfurt passieren würde. Aber das ist schon okay mit den russischen Kids, so läuft das, man bringt sich ja nicht um. Das verstehen meine Freunde in Deutschland aber auch nie.“ Also, dann mal wieder raus aus diesem Wirtshausklischee einer Ballermann-Arcade. Draußen, an der U-Bahn-Station „VDNH“ kann es ohnehin gleich weitergehen. Dort liegt unmittelbar einer dieser Märkte, auf denen man industriell gefertigte Raubkopien kaufen kann. Für Rubel oder Dollar. Die selbst gemachte Original-Software findet sich in Dutzenden echter und feststehender Ladengeschäfte mit erstaunlichem Sortiment. Auf engen Straßen schleust man sich durch diese Containerbauten, von rechts und links brettert osteuropäischer Autoscooter-Techno und hin und wieder Modern Talking. Alles blinkt und leuchtet. „Ich kaufe meine ganzen Games und die für meine Freunde hier“, erzählt Oleg, „nur bei den PS2-Spielen musst du noch den Ländercode ändern, sonst laufen die nicht. Aber ist kein Problem. Das ist auch der Grund, warum die Games-Kultur in Russland so schnell nachziehen konnte die letzten Jahre. In Deutschland muss sich ein Kid, das nicht irgendwie illegal an Spiele kommt, schon überlegen, für welches Game es sein Taschengeld anlegt. Hier zahlst du auf den Märkten maximal deine 150 Rubel, etwa 4,50 Euro. Da kannst du in viel mehr Sachen reinschnuppern. Ich habe mir gerade ‚Warcraft 4‘ für drei Dollar besorgt.“ Ein Paradies für Gamer, die Hölle für Spielhersteller: Allein in Moskau gibt es Dutzende solcher Märkte voll raubkopiertem geistigen Eigentum – CDs, industriell gefertigte MP3-CDs (zum Beispiel alle Beatles-Alben auf zwei CD-Roms – 4 Euro), DVD-Kopien oder – noch begehrter – DVDs mit Filmen, die eben erst im Kino anlaufen. Und natürlich Games, allerdings fast ausschließlich PC- oder PS2-Versionen. Mit dem Urheberrecht alleine scheint man der Situation vor Ort nur bedingt Herr werden zu können. Das gibt es zwar, alleine seine Einhaltung stellt eine Sisyphusarbeit dar. Und dennoch: Mit Spielen kann man in Russland trotz professionell agierender Produktpiraten auch legal Geld verdienen. Das belegt zum Beispiel der Erfolg des Publishers und Developers Akella. Das Kerngeschäft der Firma besteht aus Lizensierungen und Übersetzungen westlicher Spiele. Mittlerweile ist der Publisher-Katalog auf 300 Titel angewachsen, darunter extrem prominente wie „Painkiller“, „Prince Of Persia: Warrior Within“, „Postal 2“ (über das noch zu reden sein wird), „Codename: Panzers“, „Everquest 2“ oder „Cold Fear“. Erst im März wurde ein wichtiger Distributionsvertrag mit Atari unterzeichnet. Mittlerweile ist die Moskauer Zentrale an der Metro-Haltestelle Sawjolowskaja im Norden des Stadtkerns ein Großraumbüro-Bienenstock mit mehr als 200 Angestellten. Hinzu kommen noch vier ausgelagerte Entwicklerstudios. „Wir haben 2002 mit eigenen Spielen für PC und Xbox begonnen“, erzählt uns Semenova bei einem dieser seltsam dünnen russischen Kaffees. „2003 kamen dann auch PS2-Versionen dazu.“ Wir erzählen ihr von den vielen illegalen Spielen, die wir auf dem Weg zu ihr gesehen haben, und erwarten Hasstiraden oder zumindest Zähneklappern. Aber nö: „Anfang der Neunziger war das mit der Produktpiraterie gar nicht so schlimm – wir konnten unsere Verpackungen noch aufwendig gestalten und Spiele zu unterschiedlichen Preisen verkaufen. Aber 1998 waren mehr als 90 Prozent all der in Russland verkauften Spiele Raubkopien. Fortan gab es von uns nur noch normale CD- oder maximal DVD-Hüllen als Verpackung. So konnten wir fast den gleichen geringen Verkaufspreis wie die raubkopierten Spiele erzielen – und überlebensfähig bleiben. Denn wir verfügen hier zwar über Anti-Piracy-Kommissionen, aber es gibt einfach zu viele Produktpiraten.“ Ein 1-Disc-PC-Game von Akella kostet in der abgespeckten Version neu umgerechnet zwei bis drei Dollar. Mehr-CD-Games vier bis sechs, Top-Titel auch mal bis zu zehn Dollar. Ein auf den ersten Blick lächerlicher Preis, der aber natürlich auch der geringeren Kaufkraft im Land geschuldet ist. Denn der Prozentsatz der viel zitierten russischen Öl-Milliardäre, die durch zahllose RTL2-Reportagen in unser Bewusstsein gerückt wurden (und wie wir vor Ort erfahren, auch mal Eminem oder Robbie Williams zum Geburtstag des Sohnes einfliegen lassen), ist eben verschwindend gering. Und doch: Durch die knallharte Preispolitik lässt sich trotzdem ein satter Gewinn erwirtschaften. Noch dazu einer mit einem anderen positiven Nebeneffekt. „Es gibt Studien“, lässt Semenova stolz wissen, „die besagen, dass die Anzahl der raubkopierten Spiele mittlerweile auf 48 Prozent gesunken ist. So hatten wir jüngst mit unseren eigenen Titeln wie ‚Age Of Pirates‘ teilweise legale Abverkäufe von 200000 Stück in der ersten Woche. Ich bin mir sicher, dass in absehbarer Zeit russische Games auch auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sein werden und etablierten Schmieden den Rang ablaufen können.“ Davon zeugte jüngst auch Akellas Auftritt auf der E3-Messe, wo unter anderem „Captain Blood“, das Sequel zu „Age Of Pirates: Carribean Tales“, vorgestellt wurde, das Herbst 2006 international sogar für Xbox 360 veröffentlicht wird. Aber Xbox 360 in Russland? Da winkt Irina Semenova lachend ab. Was für den internationalen Markt nach anfänglichen Rückschlägen nun doch stetig zum Standard der Neo-Konsolengeneration heranwächst - in Russland wird es sich auf absehbare Zeit nicht durchsetzen können. Russische Standards bleiben bis auf weiteres Playstation 2 und vor allem der PC – einhellige Meinung, wen man auch fragt. Dafür gehen die Multimedia-Ambitionen und mit ihnen natürlich der wahnwitzige Einführungspreis der kommenden Konsolen zu sehr am russischen Markt vorbei. Dabei unterscheidet sich der russische Gamer in seinen Interessen an sich gar nicht so sehr von seinen westeuropäischen oder amerikanischen Kollegen. Das findet auch Irina Semenova: „Der russische Gamer steht vor allem auf Shooter, RPGs und Racer. Eigentlich wie bei euch, soweit ich das beurteilen kann. Was leicht anders ist als bei euch: Auch Adventures laufen hier überdurchschnittlich gut und verkaufen sich wie blöd. Darauf stehen die Russen wohl besonders. Und seit einiger Zeit auch auf jegliche Formen des Multiplayer-Games. Überhaupt hat sich gerade in letzter Zeit eine Menge getan: Vor zwei Jahren hätte ich ganz klar gesagt, dass nur russische, männliche Kids spielen. Die und ein paar ältere Hardcore-Gamer. Jetzt sind das ganz viele unterschiedliche Typen – den einen Gamer gibt es gar nicht mehr. Das geht von Kindern rauf bis zu 35-Jährigen. Zunehmend auch Mädchen und Frauen. Die Szene rund um Gaming wächst beständig. Das zeigt eine ausreichend vorhandene Presselandschaft (fünf große Games-Magazine gibt es – es waren allerdings letztes Jahr noch acht) und, nicht zu vernachlässigen, der Erfolg von E-Sport. „E-Sport wird in Russland immer wichtiger, und die russischen Spieler werden international bedeutender“, so Semenova, die mit ihrer Kollegin selbst Teil eines Clans ist. „Und, das sage ich voller Stolz: 2005 wurde unser Mann Anton ‚Cooller‘ Singov in ,Quake 3‘ Sieger des Electronic Sports World Cups 2005“. Dann lacht sie: „Er spielt jetzt übrigens für einen deutschen Clan namens Mousesports.“ Ein Spiel gibt es, das geradezu wahnsinnig erfolgreich ist in Russland: Das Amoklauf-Game „Postal 2“ vom amerikanischen Entwickler Running With Scissors, das in Sachen „Kreatives Töten“ 2003 neue Maßstäbe setzte und auf so ziemlich jedem Games-Magazin-Cover in Russland landete. „Das ist wie geschaffen für den russischen Markt. Ich kann es nicht erklären, aber die Leute hier lieben es uneingeschränkt. Das heißt, sie würden, wäre da nicht neulich dieser Zwischenfall passiert.“ „Dieser Zwischenfall“ meint den Amoklauf eines 20-jährigen Russen in einer Moskauer Synagoge am 11. Januar dieses Jahres, bei dem er laut Augenzeugen „Heil Hitler!“ brüllte und dann mehrere Menschen tötete. In seinem Zimmer fand man hinterher sowohl antisemitische Schriften als auch „Postal 2“, das der Amokläufer abgöttisch geliebt haben soll. Ein Indiz, das in der Folge, ähnlich wie beim Amoklauf von Robert Steinhäuser 2002 am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, die Sittenwächter auf den Plan rief und eine russische Diskussion zum Thema „Killerspiele“, oder so ähnlich, lostrat. Jenseits solcher akut geführten Debatten herrschte in Russland bisher jedoch vonseiten der Politik weitestgehend Desinteresse an Spiele-Inhalten. „Es gibt Altershinweise auf den Spielen – eine Zensur wie bei euch, dass beispielsweise Blut nicht rot dargestellt werden darf, haben wir aber nicht“, so Semenova. Artem Troitsky, 51, analysiert diesen lockeren Umgang mit den Inhalten von Computerspielen. Der Radio-DJ hat zwar mit Spielen speziell nichts zu tun – mit Popkultur generell aber eine ganze Menge. Troitsky gilt als eine Art russischer John Peel, verfasste schon lange vor dem Ende des Kommunismus Bücher über Undergroundrock in Russland und eckte schon etliche Male mit seiner kritischen Haltung bei den Herrschenden an. „Mit Putin haben wir jetzt ein totalitäres Regime ohne ideologische Werte“, sagt er. „Es gibt keine Ideologie, deswegen gibt es auch keine Imperative im kulturellen Bereich. Alles ist möglich: Gewalt, Pornografie, allerlei abgedrehte Erfahrungen, es darf nur nicht die Politik des Landes betreffen, nicht die Autorität anzweifeln. Die Produzenten von Kultur hier in unserem Land – sei es nun Musik, Theater oder Games – haben einen immateriellen Vertrag unterschrieben. Sie genießen deswegen künstlerische Freiheit. Wer allerdings diesen einzigen Tabubereich – Politik – verletzt, wird ausgegrenzt und verliert alle Vorteile und jegliche Form von Unterstützung.“ Trotzdem sind Games-Hersteller aus Russland nicht per se die geilen Gallier, die mit Witz und kraftvoller Unverbildetheit die herrschenden Klischees aus den Angeln zu heben in der Lage sind. Was die uninspirierten Shooter der in Moskau produzierenden Firma Nival Interactive beweisen. Sowohl das Spiel „Blitzkrieg“ als auch „Silent Storm“ bringen unterm Strich nichts als frustrierende Einheitskost eines denkfaulen, reaktionären Themen-Kanons. Da kann man auch gleich bei den typischen Szenarien bleiben, in denen der Russe stets als Metapher des Bösen fungiert. Doch da die Games-Entwicklung dezidiert nach Alternativen sucht zur Weltsicht des Soldaten John Rambo, darf man bei den im Osten aus dem Boden sprießenden Spielefirmen auf Produktionen hoffen, die neue Wege gehen. So findet sich beispielsweise im Nival-Repertoire ein Titel namens „Hammer und Sichel“, in dem es immerhin die Möglichkeit gibt, einen KGB-Agenten als Ein-Mann-Armee hinter den feindlichen Linien zu steuern. Background der Story: Beginn des Kalten Krieges und Höhepunkt der Stalin-Ära. So kann man kühne Abenteuer erleben, ohne dabei dem Millionen Mal verteidigten amerikanischen Traum zu einem weiteren Sieg zu verhelfen. Schön, wenn aus dem im Alltag so grell kapitalistisch getunten Moskau doch noch ein bisschen Retro-Gesellschafts-Utopie abzuholen ist. Wem allerdings die bloße Umkehrung der Zuschreibung Gut/Böse noch zu wenig ist, dem sei zum Beispiel das nur in Russland erhältliche Rollenspiel „Petschka“ empfohlen, das von der historischen Figur Iwan Wassiljewitsch handelt. Oleg erklärt, dass die Story dabei auf Rote- beziehungsweise Weiße-Armee-Witzen fußt. Vor dem Hintergrund dieser Gags wurde ein Rollenspiel entwickelt, dass russlandintern zwar Geheimtipp und Brüller ist, für kulturell Außenstehende allerdings so komisch wie ein Sauerländer-Witz für Brasilianer. Hm, Brasilien. Draußen ist es immer noch kalt. Irgendwo bellen Hunde in einem Hinterhof, und von weitem bellt das Techno-Armageddon von einem dieser Märkte. Zu Hause werden wir feststellen müssen, dass die höchst preiswert erworbenen PS2-Spiele („Destroy All Humans“ und „Getting Up: Contents Under Pressure“ von Marc Ecko – wenige Tage vor unserer Abreise erst erschienen) nicht funktionieren. Na danke, Moskau. Trotzdem werden wir in Zukunft sicher verstärkt voneinander hören. Und bange ist uns dabei nicht. Text: Felix Scharlau und Linus Volkmann, Illustration: ITF Grafik Design
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von Volker Hansch / Juli 10th, 2006 /

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