Klassen besser

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Bald erscheint "GTA: San Andreas". Und während die Konkurrenz noch versucht, "Vice City" zu kopieren, haben die Entwickler von Rockstar den Standard ins Weltall geschossen

Ein unscheinbares Büro im Londoner Stadtteil Fulham. Im einem abgedunkelten Vorführaum kämpft eine Klimaanlage erfolgreich gegen die schwüle Spätsommerluft, die einem draußen, vor der Tür, noch den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte. Der Beamer summt, die Boxen rauschen leise. Gleich wird hier das Most-Wanted-Spiel des Jahres über die Wand flimmern, auf das Fans auf der ganzen Welt warten. Und Sony auch, weil es den Verkauf der Playstation 2 ankurbeln wird wie kein anderes Spiel im diesjährigen Weihnachtsgeschäft. Hamish Brown, PR-Manager von Rockstar London, bricht das erwartungsvolle Schweigen. „Erst mal gibt es einen kurzen Film, damit man ein Gefühl für das Spiel bekommt“, sagt er. Dann bläst HipHop aus den Boxen des Surround-Systems, und der Beamer wirft Bilder aus Klassikern des Ghettofilms wie „Menace II Society“, „Boyz N The Hood“ und „Colors“ an die Wand. Da ist es, das Ghetto. Das Elend. Die Gewalt. Der Glamour von armdicken Goldketten und chrombewehrten Lowridern. Das ist er, der neue Spielplatz in „GTA: San Andreas“. Man kennt diese Bilder. In der Light-Version, ohne das Gefühl tatsächlicher Gewalt oder des Elends hinter der Kulisse, flimmern sie täglich über den Fernsehbildschirm, in den HipHop-Videos auf MTV und Viva. Nur in Videospielen kennt man sie noch nicht. Natürlich gab es schon Versuche, das Phänomen HipHop und Ghetto in Videospiele zu integrieren. Überzeugend waren sie nie. Überzeugend, das waren die Spiele der„GTA“-Serie immer. Doch erst als vor drei Jahren mit „GTA3“ das erste 3D-Spiel der Serie erschien, eröffnete sich eine erlebbare Welt im zwielichtigen Mileu aus Gewalt und Verbrechen. Und wie so oft bei Revolutionen dauerte es auch im Fall von „GTA3“ eine Weile, bis die Menschen begriffen, was sich in ihrer PS2 drehte. Fachmagazine rund um den Globus legten ihre Raster an, befanden, dass das Spiel keine neuen Grafik-Maßstäbe setzte, und gingen zum Tagesgeschäft über. Dass sich hier eine virtuelle Welt auftat, die einem Freiheiten versprach wie kein anderes Spiel zuvor, in der man sich verlieren konnte, das erkannten die Wenigsten. Denn diese Welt war nicht mit Orks und Elfen bevölkert, sondern sie bestand aus Dingen, wie wir sie aus unserem alltäglichen Leben kannten. Seitdem hat sich viel verändert. „GTA3“ wurde trotz der eher zurückhaltenden Rezensionen ein überwältigender Erfolg, dessen Ausmaß wohl niemand erahnen konnte. Entwickler Rockstar und Publisher Take 2 waren plötzlich Big Player im Videospiel-Business. Der von „GTA3“ etablierte Begriff des „nonlinearen Gameplay“ ist inzwischen fester Bestandteil des Fachjargons. Und Spiele quer durch alle Genres bedienten sich bei „GTA“ oder kopierten gleich das ganze Konzept, wie im Falle von Activisions „True Crime: Streets Of L.A.“. Dem Erwartungsdruck nach dem dritten Teil begegnete man bei Rockstar nach nur einem Jahr Entwicklungszeit mit „GTA Vice City“, das in jeder Hinsicht reichhaltiger war als sein Vorgänger und wie kein anderes Videospiel einen Style durchdeklinierte. War „GTA3“ noch in einem lose von New York inspirierten „Liberty City“ angesiedelt, wurden im an Miami angelehnten „Vice City“ alle unsere Sinne von den Achtzigern geblendet. Die, mit ihren sieben CDs voller lizensierter 80s-Songs von Judas Priest bis Kool & The Gang, alle Stilrichtungen abdeckende Soundtrack-Box zum Spiel wird wohl einmalig in der Geschichte der Videospiele bleiben. Sie unterstreicht, mit welcher Versessenheit bei Rockstar daran gearbeitet wird, eine in sich stimmige virtuelle Welt zu schaffen. Angesichts dieser Hingabe konnte die Konkurrenz nur fassungslos zurückbleiben. Denn während sich Fortsetzungen von Spielen in der Regel darauf beschränken, bewährte Elemente aus dem Vorgänger im Detail zu verbessern, präsentiert sich jeder neue „GTA“-Teil in einer Komplexität, die den Vorgänger um gefühlte 1000 Prozent übertrifft. Und dessen Universum in sich so geschlossen ist, so wenig mit dem Vorgänger zu tun hat, dass man von einer Fortsetzung kaum sprechen kann. Natürlich arbeitet auch jeder neue „GTA“-Teil mit Elementen des Vorgängers. Doch was dort noch das gesamte Spiel ausmachte, ist im neuen Teil stets nur noch ein Bruchteil der Möglichkeiten, die dem Spieler zur Verfügung stehen. Konnte man sich zum Beispiel in „GTA3“ nur zu Fuß, mit dem Auto oder einem Schnellboot fortbewegen, standen in „Vice City“ zusätzlich Motorräder und vor allem ein Hubschrauber zur Verfügung. Plötzlich konnte man sich in die Lüfte erheben und die Straßen, die Menschen und Autos unter sich immer kleiner werden sehen. Was für ein anderer Blick auf das „GTA“-Universum! Diese Regel der exponentiellen Erweiterung galt auch für das neue Spiel. „Wir wollten ,Vice City‘ in jeder Hinsicht übertreffen“, sagt Terry Donovan, Geschäftsführer von Rockstar New York. Anfang dieses Jahres wurde im Internet gemunkelt, Rockstar hätte sich den Namen „Sin City“ gesichert und das nächste „GTA“ würde in Las Vegas spielen. Dann, als bekanntgegeben wurde, dass der neue Teil „GTA: San Andreas“ heißen würde, sollte plötzlich Los Angeles das Vorbild sein. Doch niemand ahnte, welchen Dimensionen die Rockstars für ihr nächstes Projekt im Kopf hatten. Denn tatsächlich ist San Andreas ein ganzer Staat. Mit drei Städten. Los Santos, an Los Angeles angelehnt, San Fiero, ein Abbild San Franciscos, und Los Venturras, ein von Las Vegas inspiriertes Setting. Jede dieser Städte ist so groß wie Vice City. Und jede in sich wiederum ein eigenes kleines Universum, das mit seinen Charakterzügen den Spielinhalt bestimmt. In Los Venturras muss man zum Casinoboss aufsteigen, während in Los Santos die Missionen vom Gang-Warfare, dem Krieg zwischen den rivalisierenden Banden, geprägt werden. Und San Fiero mit seinen Hügeln ist die Stadt, in der sich alles um Autos dreht, einfach, weil es dort am meisten Spaß macht, Auto zu fahren. Doch die Entwickler von Rockstar wären nicht die Entwickler von Rockstar, wenn sie es beim bloßen Aufblasen der Dimensionen belassen hätten. Diese Menschen sind auf einer Mission. Sie wollen die Welt in „GTA“ lebendig werden lassen. Und deswegen gibt es um die drei Städte im Spiel herum keine unsichtbaren Grenzen mehr, gegen die man irgendwann fährt und wieder abprallt, und auch keine Brücken, die die einzelnen Städte verbinden. Stattdessen gibt es dünn besiedelte Landstriche, die sich weit erstrecken. Sie beherbergen einen ganz anderen Schlag Menschen als die drei Städte, wie man auf den zahlreichen Missionen, die es auch hier zu absolvieren gilt, feststellen kann. „Hier ist die Provinz“, sagen dem Spieler die sprunghaft angestiegene Zahl blauer Latzhosen und die vielen Pick-up-Trucks auf den Straßen. Zeitlich ist „GTA: San Andreas“ im Kalifornien – und einem kleinen Teil von Nevada – der neunziger Jahre angesiedelt. Der Spieler ist Carl Johnson, der, nach fünf Jahren Aufenthalt in Liberty City, nun nach Los Santos zurückkehrt, weil seine Mutter verstorben ist. Was er dort vorfindet, ist wenig verheißungsvoll: Der Stern seiner „Orange Grove“-Familie ist während seiner Abwesenheit tief gesunken, seine ehemalige Gang nur noch ein kleines Licht im Ghetto. Carl, kurz CJ genannt, macht sich daran, den Ruf der Familie wieder herzustellen und seiner Gang zur Vormachtstellung im Viertel zu verhelfen. Während in bisherigen Teilen eine ähnliche Rahmenkonstellation vor allem dazu diente, die verschiedenen Missionen im Spiel in einen groben Kontext zu stellen, geht es in „GTA: San Andreas“ tatsächlich darum, ein Gangster-Imperium aufzubauen. Beginnen tut man damit, Häuser auszurauben – auch ein Novum –, später investiert man in Immobilien. Zwar konnte man schon in „Vice City“ Häuser kaufen, doch nur, um mit den Mieten sein Bankkonto aufzufüllen. In „San Andreas“ fügen sich diese Dinge nahtlos ins Gesamtspiel ein. Nur wer sich einen Namen macht, aufsteigt, erntet Respekt in „San Andreas“. Das Netz aus Missionen und den anderen Elementen des Spiels wurde in „GTA: San Andreas“ von den Entwicklern insgesamt viel enger geknüpft. „Bisher gab es in ,GTA‘ nur zwei Zustände“, erklärt Hamish Brown in die Kühle des Vorführraumes hinein, „entweder du hattest eine Mission zu erledigen, oder du bist durch die Stadt gestreift. In ,San Andreas‘ kannst du beides machen: Du bist auf einer Mission, gehst aber trotzdem zwischendurch etwas essen oder zum Friseur.“ Dienten die Klamottenläden in „Vice City“ vor allem dazu, sich für bestimmte Missionen richtig einzukleiden, bietet „San Andreas“ dem Spieler die Möglichkeit, seinen Charakter umfassend zu verändern. So kann man beim Barbier und in diversen Bekleidungstgeschäften einen ganz eigenen Look für CJ kreieren. Ob hippiesk mit Afro-Bombe und Blümchenshirt oder typisch Gangsta-Style mit Flat Top und Feinripp-Unterhemd: alles möglich. Außerdem will CJ gefüttert werden. Nach einer Weile wird der Held hungrig. Bekommt er dann nichts zu essen, geht es mit seiner Fitness rapide bergab. Führt man ihn dagegen zu oft zum Burger-Brater, setzt CJ Fett an – und auch das bleibt nicht ohne Konsequenzen. Denn ab einer gewissen Leibesfülle gestalten sich viele Missionen schwierig oder sind gar nicht mehr zu bewältigen. Dann geht’s ab ins Fitnessstudio oder in den Sattel des BMX-Rads. Dort werden die überflüssigen Pfunde abtrainiert. Und das ist nicht nur gut für die Fitness, sondern auch fürs Ego. Denn Passanten quittieren CJs unansehnliche Statur mit hämischen Bemerkungen, und auch Mitglieder rivalisierender Gangs lassen das vermissen, worum es CJ geht: Respekt. Mit diesen kleinen Kniffen haben die Entwickler von Rockstar installiert, was in den bisherigen Teilen von „GTA“ noch fehlte: Der Hauptcharakter in „GTA: San Andreas“ ist eine Figur, derer man sich annimmt, die man nach seinen Vorstellungen formt und entwickelt – fast wie in einem klassischen Rollenspiel. Doch auch sonst wurde daran gearbeitet, die Persönlichkeit des Spielers noch mehr in die Welt von „GTA“ einzubinden. So lassen sich die Autos, bisher immer ein reiner Wegwerfgegenstand, nun optisch, und mit einer Lachgaseinspritzung sogar technisch, verändern. Und während das Auto sonst meistens auf geheimnisvolle Weise verschwunden war, wenn man ein Gebäude wieder verließ, findet man in „GTA: San Andreas“ alle Karren dort wieder, wo man sie abgestellt hat – es sei denn, die Polizei hat sie abgeschleppt. „Dann musst du den Autosammelplatz der Polizei suchen und dein Auto zurückklauen. Und es ist verdammt abgefahren, deine custom-getunte Karre inmitten der ganzen anonymen Autos zu sehen“, unterstreicht Hamish, wie echt die Welt in „GTA: San Andreas“ geworden ist. Zudem hat sie ein echtes Eigenleben entwickelt. Manchmal kommt es vor, dass plötzlich Schüsse ertönen. Instinktiv wähnt man sich als Spieler selbst im Visier übereifriger Polizeibeamter. Dabei sind diese nur gerade damit beschäftigt, einen renitenten Mitbürger zu verhaften. „Es kann vorkommen, dass du auf dem Highway hinter einem Polizeiwagen herfährst, der dann das Steuer herumreißt, um einen Motorradfahrer zu verfolgen, der euch mit überhöhter Geschwindigkeit entgegengekommen ist“, ergänzt Hamish. So verstärkt sich das Gefühl, nicht mehr das Zentrum von etwas, sondern ein Teil eines Ganzen zu sein. Was gibt es sonst zu „GTA: San Andreas“ noch zu sagen? Nein, es wird nicht nur HipHop im Radio zu hören geben. Ja, die Grafik ist viel besser als in „Vice City“. Man kann viermal so weit gucken wie beim Vorgänger. „Die einzigen Ladezeiten gibt es, wenn du ein Gebäude betrittst“, doziert Hamish. Neue, von Rockstar in Eigenregie entwickelte Streaming- und Render-Routinen sorgen dafür, dass alles hübsch in Szene gesetzt wird. Ohne Wartezeiten, die den Spieler aus der Welt von „GTA: San Andreas“ in sein Wohnzimmer zurückbefördern würden. Aber am Ende sind diese Fragen genauso unwichtig wie vor drei Jahren, als „GTA3“ erschien. Wichtiger ist, wie viel mehr „San Andreas“ zu einem virtuellen Zuhause geworden ist, in dem man Tage verbringen will, das man bis in den letzten Winkel erforschen oder in dem man sich einfach treiben lassen möchte. „Und, wie ist es?“, fragt Hamish am Ende der Präsentation. Diese Frage lässt sich wie immer jetzt noch nicht beantworten. „GTA“-Spiele sind wie eine große Metropole, in die man zieht, nachdem man sein Leben lang in derselben Kleinstadt gewohnt hat. Am Anfang ist man überwältigt und sprachlos. Erschlagen von der schieren Größe, den Möglichkeiten und Angeboten der neuen Stadt. Und im gleichen Maße, wie einem die Stadt vertraut wird, fängt man auch an, sie zu lieben. „GTA: San Andreas“ wird großartig. „GTA: San Andreas“ erscheint am 22. Oktober Text: Michail Hengstenberg
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von Volker Hansch / Oktober 10th, 2004 /

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