Lauschangriff
Spitzengrafik, krasses Gameplay? Wer videospielt, muss etwas sehen können. Oder etwa nicht? Auch blinde Jugendliche spielen mit Konsole und PC. Und die Grafik ist ihnen völlig egal
Prinzessin Peach zu befreien? Schwer vorstellbar. „Mein Vater brachte irgendwann einmal ein SuperNES mit nach Hause. Ich weiß gar nicht warum, denn er wollte nicht spielen - und ich konnte ja eigentlich auch gar nichts damit anfangen.“ Trotzdem sollte das unverhoffte Geschenk die Initialzündung für Christians Hobby werden. Allerdings braucht man als blinder Spieler eine gehörige Portion Geduld, bis man ein Spiel wie „Super Mario“ gemeistert hat. „Erst mal war für mich ausprobieren angesagt - und verrecken. Ich bin in jedes Loch gefallen und wurde von jedem Gegner umgebracht.“ Trotzdem kann auch er es bis zu Bowser schaffen. Der Schlüssel für den Weg durch das Level ist die Musik. Während ein sehender Videospieler über Gruben und Kooper springt, weil er sie sieht, erkennt ein blinder Spieler die Stellen, an denen sich Hindernisse und Gegner befinden, mithilfe des Mariothemas. Er rennt einfach mit konstanter Geschwindigkeit los und merkt sich die Stelle der immergleichen Melodie, an der er ins Gras gebissen hat. Beim nächsten Mal weiß er dann, wann er springen, sich ducken oder ausweichen muss. Das ist eine zähe Angelegenheit, weswegen Christian heute auch lieber andere Spiele spielt. Knapp zehn Minuten Fußmarsch vom Bahnhof entfernt liegt seine Wohnung, eine Blinden- und Sehbehinderten- WG. Dort herrscht Aufbruchsstimmung. Koffer werden gepackt, Umzugskisten stehen herum. Zwei seiner drei Mitbewohner haben ebenfalls gerade ihr Abitur bestanden und ziehen jetzt in andere Städte, um zu studieren. Christians Zimmer sieht aus wie ein beliebiges Jugendzimmer. Erst auf den zweiten Blick fällt auf, dass kein einziges Buch im Regal steht. Fotos oder Plakate an den Wänden gibt es ebenfalls nicht. Dafür ist es unordentlich, und zwar nicht zu knapp. Kleidung und CDs liegen verstreut auf dem Fußboden, und man fragt sich unweigerlich, wie oft Christian wohl über seine Sachen stolpert. Das WG-Wohnzimmer sieht nämlich fast steril dagegen aus, alles hat seinen festen Platz. Auf einem Furnierschränkchen steht ein riesiger Fernseher, für den einzigen Mitbewohner, der ein bisschen sehen kann. Darunter steht eine PSone. Ordentlich aufgereiht daneben: „Tekken 2“, „Streetfighter“ und ein paar andere Prügelspiele. Jeweils mit einem Aufkleber in Blindenschrift drauf. „Damit ich nicht immer jedes Game erst in die Playstation stecken muss, um festzustellen um welches Spiel es sich handelt.“ Mit sicherem Handgriff schließt Christian die Konsole an den Fernseher an. „Zu Hause, bei meinen Eltern“, erklärt er, „schließe ich die Playstation erst gar nicht an den Fernseher an. Es reicht, wenn ich sie über den Eingang meiner Stereoanlage benutze.“ Marburg ist ein hübsches, übersichtliches Städtchen. Knapp 90 000 Einwohner, eine Innenstadt mit Türmchen auf Fachwerkhäusern, verwinkelte Gassen und eine kleine Universität. Idyllisch. Außerdem ist Marburg an der Lahn die Stadt mit den meisten blinden Einwohnern in Deutschland. Ihnen ist es egal, wie Marburg aussieht, wie schön die roten Dächer der 500 Jahre alten Häuser das Sonnenlicht reflektieren, wie das Wasser der Lahr sich um die Felsen bricht, wie die grünen Hügel den Horizont schmücken. Sie leben hier, weil sich in Marburg Deutschlands größtes Zentrum für Blinde befindet. Aus diesem Grund wohnt auch Christian hier. Er ist von Geburt an blind und besucht hier ein Gymnasium für blinde und sehbehinderte Menschen. Gerade hat er sein Abi bestanden, Schnitt 3,4. Nicht gerade blendend, aber das ist dem schlaksigen 21-Jährigen egal. Hauptsache er hat eine Studienberechtigung. Christian will Medienwissenschaften studieren, um später Radiomoderator zu werden. Er hat schon jetzt eine eigene Sendung im Lokalradio von Marburg - außerdem gilt er in seinem Freundeskreis als unschlagbarer „Streetfighter“- Spieler. „Ich bin sehr neugierig“, sagt er, rempelt beim Laufen an ein Fahrrad und geht weiter, als wäre nichts passiert. „Deswegen habe ich es vor ein paar Jahren einfach mal ausprobiert“. Heute ist Videospielen für ihn ein Hobby wie jedes andere. Moment: ein Blinder, der vor dem Fernseher sitzt und versucht, mit Mario spiele für Sehende untertan gemacht hat, üben sie allerdings nur einen geringen Reiz aus. „Meistens geht es nämlich nur darum, links und rechts zu drücken“, erklärt Christian, während er aufsteht und die PSone ausmacht. Christian sitzt jetzt wieder in seinem unordentlichen Zimmer und demonstriert so ein Blindengame für den PC. Man hört die herankommenden Raumschiffe. Von links, rechts, hinten oder von vorne. Er muss im richtigen Moment die richtige Taste drücken. „Diese Spiele sind allerdings mehr Geschicklichkeitstest als wirklich vielseitige Unterhaltung.“ Christian hat sich einen Kopfhörer aufgesetzt und starrt auf den Bildschirm. Hastig drischt er auf die Pfeiltasten. Fünf Minuten lang ist es still in seinem Zimmer, dann dreht er sich um: „Sieht man da eigentlich etwas auf dem Bildschirm?“, fragt Christian. Ja, ein graues Fenster, dahinter die irische Landschaft von Windows XPs Standardhintergrundbild. Christian Ganz ohne Hilfe geht's trotzdem nicht. Vor einem „Street Fighter“-Kampf lässt er sich alle Charaktere vorlesen und wägt genauestens ab, wer wohl die beste Antwort auf den Kämpfer des sehenden Kontrahenten sein könnte. Seine Wahl fällt auf Chun Li - in einem Kampf gegen Honda. Und, unvorstellbar, jede Attacke wird von Christian blitzschnell mit der passenden Parade abgewehrt und im nächsten Moment mit einer Serie von Schlägen beantwortet. Keine Zwei-Hit-Combo, nein, sechs oder sieben Treffer hintereinander. Es ist ein bisschen wie in diesen Kung-Fu-Filmen, in dem der blinde Kämpfer allen anderen überlegen ist, nur dass das hier die Realität ist und keine kitschige Fernostfantasie. „Ich höre, was der Gegner macht“, erklärt Christian das scheinbare Wunder, „der Low Kick macht andere Geräusche als ein High Punch.“ Nach dem fünften Kampf gegen Christian macht „Streetfighter“ keinen Spaß mehr. „Ich finde es lustig, gegen Sehende zu spielen. Die sind immer so schön sauer, wenn man sie besiegt,“ grinst Christian ziemlich stolz - und ein bisschen Hohn ist auch dabei. Es gibt aber auch Videospiele, die ausschließlich für Blinde produziert werden. Audiogames werden sie genannt. Christian hat ein paar davon auf der Festplatte seines Laptops. Auf ihn, der sich die Video- stöhnt auf und beendet mit rasender Geschwindigkeit das Programm, öffnet Outlook und checkt seine E-Mails. „Sterbend langweilig, wer will so etwas eigentlich spielen? Meinen PC benutze ich eigentlich nur, um im Internet zu surfen oder E-Mails zu lesen oder um mit einem Emulator ,Super Mario World' zu spielen.“ Dann hört man eine blecherne Stimme, die eine Mail vorliest: „Herrzzlicheen Glücckwünnsch zuum bestaandenen Abbi.“ Die meisten blinden Videospieler finden Audiogames allerdings ganz okay. Ihr Anlaufpunkt ist die Internetseite www.audiogames.net. Dort gibt es auch eine Top 3 der beliebtesten Audiogames. Von richtigen Firmen, die sich darauf spezialisiert haben, Audiogames auf einem hohen Niveau zu produzieren und zu vertreiben. Das wohl beste Beispiel ist „Tank Commander“. Ein Spiel von GMA Games, einer US-Firma, die ausschließlich Spiele für Blinde herstellt. Und das sehr professionell. Was das bedeutet, demonstriert Christian sofort. Er schließt den Laptop an die Anlage an, und im Zimmer entsteht eine bombastische Geräuschkulisse. Als Sehender muss man jetzt einfach die Augen schließen, und schon befindet man sich inmitten von kriegerischem Treiben. Die virtuellen Kameraden geben hektisch Kommandos, Projektile zischen über den Kopf hinweg, und man hört in der Ferne das bedrohliche Grollen des heranrollenden Feindes. Das ist schon beeindruckend, „Tank Commander“ ist quasi „Doom 3“ für die Ohren. Doch Christian reicht das nicht. Er will spannende Spielkonzepte. Und mit dem Ton verhält es sich letztendlich wie mit der Grafik. Einmal gehört, für toll befunden, aber ein zweites Mal die gleiche Faszination entwickeln? Neben „Tank Commander“ gehört der Action-Shooter „Aliens In The Outback“ zu den beliebtesten Spiel unter Blinden. Zumindest verraten das die Bewertungen der Spieler auf Audiogames.net. Die Geschichte eines australischen Farmers, der auf offener Straße von Aliens angegriffen wird, ist ein bisschen bemüht. Doch das Gameplay macht das wieder wett. Ähnlich wie in „Space Invaders“ kommen die Aliens von oben langsam auf dich zu. Position, Bewegungsrichtung und Gegnertyp werden durch verschiedene Sounds angezeigt. Ein Spielprinzip, das unter den Audiogames weit verbreitet ist. So ein Spiel würde Daniel auch gern mal machen. Hier in Deutschland, nicht in den USA. Daniel ist kein bisschen blind, Daniel ist Absolvent der Games Academy in Berlin. Sein Traum ist es, richtig gute, aufwendig gemachte Audiogames zu produzieren. „Einmal stand ich an einer Ampel und hörte von allen Seiten dieses Klacken für Blinde. Ich machte die Augen zu und merkte, wie durch die verschiedenen Klackgeräusche eine Räumlichkeit entstand. Und mittlerweile gibt es doch 5.1-Soundsysteme und aufwendige Soundkulissen in Spielen. Warum also nicht ein grandioses Audiogame für Blinde hier in Deutschland machen?“ Schließlich ist die Zielgruppe gar nicht so verschwindend klein. Rund 700 000 blinde oder stark sehbehinderte Menschen gibt es hierzulande. Alle mit demselben Bedürfnis, unterhalten zu werden wie Sehende. Relevant für die Spieleindustrie, also zwischen 16 und 60 Jahre alt, sind knapp über 40 Prozent - etwa 300 000 potenzielle Spieler. Doch Daniel will mehr: nämlich die sehenden Spieler mit den Nichtsehenden zu vereinen. Ihnen eine Plattform zu bieten. Sein Konzept: ein Audiorollenspiel, das so spannend ist, dass es für Sehende eine neue spielerische Erfahrung wird und für Blinde das beste Audiogame, das sie je gespielt haben. „Stimmungsvoll soll es sein. Wie ,Baldur's Gate'. Ich will, dass die Geräusche jedem die Möglichkeit geben, mit seinem Alter Ego mitzufühlen.“ Mit seinem Konzept steht Daniel derzeit allerdings noch ziemlich alleine da. „Leider gibt es wenig risikobereite Publisher, die mich bei diesem Projekt unterstützen würden. Spiele für Blinde, diese Vorstellung ist denen einfach zu abstrakt“, stellt er ein wenig traurig fest. Christian ist in seiner WG schon einen Schritt weiter. Hier werden nicht nur Konsolenspiele und Audiogames gespielt, sondern auch schon die nächste Generation von Videospielen für Blinde. Spiele, die eigentlich für Sehende gemacht, aber so modifiziert wurden, dass auch Blinde sie spielen können - alleine oder auch gemeinsam mit Sehenden. Sascha, ein Mitbewohner von Christian, kennt sich damit aus. Sascha ist fast blind, kann aber noch genug sehen, um mit dem Game Cube oder dem PC „richtig“ zu spielen. Er weiß, was abgeht in der Spielebranche, hat ein PC-Spielemagazin im Abo und liebt 3DShooter. Besonders „Quake“. In seinem abgedunkeltem Zimmer erklärt er, warum gerade dieser doch etwas veraltete First-Person-Shooter es ihm angetan hat: „Es gibt ,Audioquake', eine Modifikation für ,Quake', die spiele ich manchmal mit Christian übers Netzwerk. Da kann ich was sehen, und Christian kann es mit einer speziellen, ins Programm integrierten Blindensteuerung spielen.“ Über verschiedene Tastaturkommandos lassen sich für Blinde die aktuelle Position, Hindernisse oder Gegner ansagen. So sind die schnellen Deathmatches auch für Blinde möglich. Doch Christian hat selten Lust, „Audioquake“ gegen Sascha zu spielen. „Der gewinnt immer, weil er noch was sehen kann. Das ist unfair.“ Richtig ausgereift ist das Projekt also doch nicht. Aber trotzdem ist die unter www.agrip.org.uk runterladbare Mod ein Hit und gilt unter blinden Spielern als Geheimtipp. Und dabei war für „Audioquake“ nicht einmal ein professioneller Publisher vonnöten. Agrip ist eine Gruppe von Hobbyprogrammierern, die einfach aus einem Mainstreamtitel ein „All Accessible Game“, also ein für alle zugängliches Spiel, gemacht hat. Es dauert wohl noch ein Weilchen, bis es wirklich einen ernst zu nehmenden Videospielmarkt für Blinde geben wird. Und das, obwohl PC-Spiele wie „Half Life“ oder „Halo“ bereits heute ohne größeren Aufwand mit den „Audioquake“-Features ausgestattet und somit Blinden zugänglich gemacht werden könnten. Christian hat seinen Laptop zugeklappt, er muss jetzt zur Schule. Die Abizeugnisse werden vergeben. Über ein Spiel, wie Daniel es machen will, würde er sich freuen. Aber so richtig glaubt er nicht an die Professionalisierung der Audiogames, die über ein Drehen an der Soundschraube hinausgehen könnte. „Wir sind einfach zu wenige, um wirtschaftlich relevant zu sein“, sagt er, während er sich im Flur seiner WG die Schuhe anzieht. Als er die Wohnung verlässt und den Gehweg betritt, dreht Christian sich noch einmal kurz um und ruft: „Ach so: Wenn mal keine Konsole zur Hand und mein Laptop aus ist, spiele ich auch gern Game Boy, aber da ist der Sound so scheiße, da muss ich mich immer so konzentrieren.“ Er lacht. Wahrscheinlich hat er gemerkt, dass die Leute, die an ihm vorbeigehen, gesehen haben, dass er blind ist. Sie dürften sich jetzt fragen, ob das ein Witz war. Christian grinst und biegt links in die Straße ein. Sein Blindenstock klackert auf dem Asphalt. Text: Thilo Mischke, Fotos: Simone Scardovelli
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Spitzen Artikel!! sehr interresantes thema!!