Die wilde Horde

Die wilde Horde

Im Juli lud Blizzard, der Entwickler des erfolgreichsten Online-Rollenspiels der Welt, seine Fans zur Blizzcon. Mehr als 13000 "World Of Warcraft"-Fans freuten sich in Anaheim, Kalifornien über Tanzwettbewerbe, ulkige T-Shirts und ein Heavy-Metal-Konzert. Unsere Autorin Jessica Braun war dabei

Die Messehalle von Anaheim nahe Los Angeles ist hoffnungslos überfüllt. Und sie hätte leicht noch voller werden können. Die Tickets für die Blizzcon 2007, die diesjährige Messe des "WoW"-Herstellers Blizzard, die hier stattfindet, waren in drei Tagen ausverkauft. Rund 13000 Spieler sind aus allen Teilen der USA, aber auch aus Europa und Südkorea angereist, um sich auszutauschen, mit den Entwicklern zu diskutieren, und natürlich um zu spielen. Jeder von ihnen hat 100 Dollar Eintritt bezahlt. Im Preis enthalten ist ein Geschenkpaket. Einen Sitzplatz bekommt man dafür nicht. Ich sitze deswegen zusammen mit Hunderten anderen auf dem Boden vor der Bühne. Offiziell bin ich als Journalistin hier. Aber eigentlich bin ich Fan. Vor fast drei Jahren habe ich mir meinen ersten "WoW"-Charakter erstellt. Zusammengerechnet war ich seitdem mehr als zwei Monate meines Lebens online. Habe zwei Mal pro Woche gegen Großdrachen gekämpft, "epische Rüstungen" erbeutet und mir Zugang zu jeder Instanz im Spiel verschafft. Meine Freunde haben sich mittlerweile daran gewöhnt, dass ich an manchen Wochenenden lieber 24 Stunden durchzocke, anstatt auszugehen. Aber dass ich mich nur wegen eines Geschenkpakets für zehn Stunden in einen Flieger setze, verstehen nur die, die mit mir hier sind. Neben einem T-Shirt und allerlei anderem Kram steckt in der Blizzcon-Plastiktüte nämlich auch ein Murloc-Kostüm. Nicht für die Spieler. Nur für deren Charaktere. Murlocs begegnet man im Spiel in der Nähe von Gewässern. Es sind grüne, froschähnliche Wesen, die gurgelnde Geräusche machen, wenn sie angreifen. Mit dem Kostüm kann man sie vermutlich nicht davon abhalten, aber im Spiel eine Menge Eindruck schinden. Denn das Kostüm sagt: Ich war auf der Blizzcon 2007. Bis weit ins Dunkel der Halle stehen Menschen in Gruppen zusammen, oder kauern zwischen den nur von flackernden Monitoren erhellten Gängen. Auf der Bühne warten die Teilnehmer eines Tanz-Wettbewerbs, aufgereiht wie für ein Exekutionskommando. Die Stimmung ist ausgelassen. Der Wettbewerb, bei dem die Spieler die Tanzanimationen der verschiedenen "WoW"-Klassen nachmachen, gehört zu den Highlights dieser Veranstaltung. Gemessen an Eintrittspreis und Besucherzahl hat die Blizzcon sonst eigentlich wenig zu bieten: In den zwei schwarz abgehängten Hallen gibt es ein paar Verkaufs- und Imbissstände und Testterminals für die Spiele "Starcraft II" und die "WoW"-Erweiterung "Wrath Of The Lich King". Neben den Wettbewerben finden "Tournaments" statt, Wettkämpfe für Profispieler. Und allen, die es ganz genau wissen wollen, stehen die Blizzard-Mitarbeiter in Diskussionsforen Rede und Antwort. Draußen vor den Türen liegt Anaheim im Licht eines diesigen kalifornischen Sommertags. Keine wirkliche Stadt, mehr ein Geflecht aus Highways und Inseln, aus Einkaufszentren und Hotels, die um das eigentliche Stadtzentrum herum gebaut wurden: Disneyland. Von den Blizzcon-Besuchern können sich aber nur die wenigsten für Micky Maus und ihr Reich erwärmen. Ihre Fantasiewelt heißt Azeroth, und große Ohren finden sie nur bei weiblichen Nachtelfen sexy. "Audrey, bist du Single?" brüllt ein Junge neben mir, als ein Mädchen in bester Troll-Manier die Hüften schüttelt. Doch sie hört ihn nicht. Die Musik, Shakiras "Hips Don't Lie", ist zu laut. Und das Publikum johlt und trampelt, als würde es gerade Shakira persönlich sehen. Während Audrey winkend von der Bühne geht, begrüßt Jay Mohr schon den nächsten Teilnehmer. Blizzard hat den Comedian aus "Saturday Night Live" für die zwei Messetage als Moderator gebucht. Es ist ziemlich skurril, was die Tänzer da auf der Bühne tun. Aber auch sehr, sehr lustig. Vermutlich nur für uns Fans, aber Jay Mohr lässt sich nichts anmerken und kommentiert das Geschehen, als wäre eine Halle voller Elfen, Orcs und Trolle sein übliches Publikum. Beim Tanzwettbewerb ist das Verhältnis von Männern und Frauen fast ausgeglichen. Anders als unter den Fans vor der Bühne. Von den 13000 Menschen in den Hallen sind geschätzte 80 Prozent Männer. Einige davon deutlich älter, andere deutlich jünger als ich. Da ist der Elfjährige, der sich am Stand mit den "WoW"-Actionfiguren die Nase an der Glasvitrine platt drückt, während Papa wartet. Da ist die Gruppe junger Männer mit Tattoos und Nietengürteln, die man eher bei einem Incubus-Konzert erwarten würde. Und da sind die älteren Herren in Motorradkluft, die anstatt "Hell's Angels" "Bloodsail Buccaneers" auf ihren T-Shirts stehen haben - die Blutsegel-Piraten sind eine der vielen kleinen Fraktionen im Spiel. Aber gerade wegen des überwiegend männlichen Publikums und wegen der Tatsache, dass die Blizzcon eine Computerspielemesse ist, fällt auf, dass etwas fehlt: nackte Haut. Es gibt keine Gogo-Tänzerinnen, und nirgends in der Halle sind Hostessen auszumachen. Nicht mal auf dem als Elek verkleideten elektrischen Bullen. Das ist ungewöhnlich, mag aber daran liegen, dass Blizzard sich der Aufmerksamkeit der Blizzcon-Besucher ohnehin sicher ist. Vielleicht liegt es aber auch an den Spielern selbst. Als Frau erntet man hier eher anerkennende als skeptische Blicke, und bis auf einen männlichen Journalistenkollegen ergreift auch keiner verstört die Flucht, wenn er eine Angehörige des anderen Geschlechts sieht. "WoW"ler sind, zumindest ist das meine Erfahrung aus dem Spiel, meist offen und politisch korrekt. Und sie stehen zu ihrer weiblichen Seite.

Lederhosen und rosa Zöpfe

Als Blizzard die "Anprobe" einführte, eine Funktion, mit der man ausprobieren konnte, wie der eigene Charakter in einem neuen Rüstungsteil aussieht, waren die männlichen Mitspieler meines Servers völlig aus dem Häuschen. Stundenlang wurden Brustpanzer und Roben per Chat verglichen - passen die Handschuhe auch farblich zur neuen Waffe? Dass solche Angebote nicht nur in meinem Umfeld begeistert angenommen werden, zeigte auch die Reaktion des Publikums auf eine der Ankündigungen von Blizzard-Chef Mike Morhaime in seiner Eröffnungsrede. "Mit dem nächsten Add-on vergrößern wir die Schulterrüstungen der Orcs um ein Dreifaches." Ein paar Jungs klopften sich zufrieden gegenseitig auf den Rücken. "Wir werden Belagerungswaffen einführen", fuhr Morhaime fort. Der Kameramann zu meiner Linken applaudierte zustimmend mit. "Und es wird eine Auswahl neuer Frisuren für alle Charaktere geben. Auch die bestehenden." Es folgte Jubel aus Tausenden Männerkehlen. Selbst die älteren Herren in Lederhosen riss die Begeisterung buchstäblich von ihren Sitzen. Und das, obwohl die Mehrheit der hier anwesenden "WoW"-Spieler sich bei der Wahl ihrer Avatare wohl wenig um konventionelle Schönheitsnormen gekümmert hat. Wer anfängt, "World of Warcraft" zu spielen, steht vor einer grundlegenden Entscheidung: Schlage ich mich zur Horde, oder unterstütze ich die Allianz? Die Horde, das sind die Wilden, die Rebellen, die Bösen. Die Allianz, das sind die Guten. Oder gut Aussehenden. Zumindest war das so, als ich vor fast drei Jahren meinen ersten Charakter ins Spiel schickte. Ich wollte meine Zeit nicht mit einem grünen, grunzenden Orc verbringen. Oder mit einem Untoten, dem das Fleisch in Fetzen über den Knochen hängt. Also wählte ich Allianz. Was sich hier auf der Blizzcon in etwa so anfühlt, als stünde ich als einziger FC-Bayern-München-Fan im St.-Pauli-Block. Schon bei der Begrüßung hatte Blizzard-Chef Mike Morhaime die Fronten geklärt. Auf sein gebrülltes "Für die Horde!" antwortete der Saal mit zustimmendem, tiefem Gejohle. Seitdem fühle ich mich als doppelte Minderheit: Ich spiele Allianz. Und ich bin eine Frau. Doch Gnome hin, Orcs her - wer sich so über neue rosa Zöpfe für seinen Horden-Charakter freut, ist sicher nicht so böse, wie er im Spiel aussieht. "World Of Warcraft" ist eher für jene attraktiv, die sich selbst nicht allzu ernst nehmen. Unter den wenigen Verkaufsständen in der Halle gehört der des T-Shirt Herstellers Jinx zu denen mit der längsten Schlange. Zwei ordentliche Reihen haben die Spieler davor gebildet, die Verkäufer sehen dennoch gehetzt aus. Jinx verkauft laut Firmenclaim "Clothing for Gamers and Geeks". Hier auf der Blizzcon gibt es vor allem Shirts mit Aufdrucken, die sich über das Spiel und die Spieler lustig machen: "+ 20 Frost-Widerstand" steht da auf einem Kapuzenpullover, in Anlehnung an die Rüstungs-Boni im Spiel. Und "Sturmwind-Waise" auf einem Strampelanzug - in der Menschen-Hauptstadt Sturmwind gibt es ein Waisenhaus. Vielleicht ist das aber auch eine Anspielung auf die Zeit, die manche Eltern im Spiel verbringen. Vor der Tür treffe ich Andrew mit seiner Tochter Michelle. "Ja, so drei Mal die Woche bin ich schon online", gibt er zu und deutet auf seine Tochter, "aber nur, weil ich sie sonst gar nicht mehr sehen würde." Michelle steht daneben und grinst. "Papa ist mittlerweile in meiner Gilde", erzählt die 16-Jährige, "für unseren Schlachtzug ist er aber noch zu schlecht."

Fabrikarbeiter und Schülerinnen, Juristen und Schauspieler

Aber nicht nur Vater und Tochter kämpfen - vorausgesetzt, Dad ist schon gut genug - in der Welt von "Warcraft" einhellig nebeneinander. Auf der Blizzcon trifft man Fabrikarbeiter und Juristen, Schülerinnen und sogar Schauspieler. Macaulay Culkin, besser bekannt als Kevin Alleinzuhaus, testete im abgeschirmten Pressebereich mit glänzenden Augen "Wrath Of The Lich King". So verwundert es kaum, dass ich den ersten Tag der Convention auf der Terrasse des Hotels mit Tim und Sam ausklingen lasse, während am Himmel das allabendliche Disneyland-Feuerwerk explodiert. Tim ist Fachjournalist, Sam dagegen der Literaturkritiker einer großen englischen Tageszeitung. Über "WoW" schreibt er wie ich nur, weil er selbst spielt. Wir sitzen da und tauschen "WoW"-Witze aus. "Als der Papst gestorben ist, schrieb einer bei uns im Channel: Hey Leute, habt ihr das mitgekriegt? Der Papst ist tot", erzähle ich, "und wisst ihr, was die erste Antwort war?". Sam schlägt sich jetzt schon vor Vergnügen auf die Knie. "Wer hat ihn gelegt, und was hat er gedroppt?" Zwei erwachsene Männer spucken Bier vor Lachen, und ich kichere mit. In meinem Freundeskreis versteht kein Mensch die Pointe. Aber hier auf der Blizzcon sprechen alle die gleiche Sprache. Doch irgendwo hat selbst das Fan-Sein seine Grenzen. Meine sind am zweiten und letzten Abend erreicht. Mein Kollege Tim und ich sitzen in der fußballstadiongroßen Anaheim-Arena und warten gespannt darauf, was der krönende Abschluss für die Blizzcon 2007 sein wird. "Weißt du, was es mit der Band auf sich hat?", fragt Tim. Angekündigt sind die Level 70 Elite Tauren Chieftain. Eine Tauren-Band? Vielleicht eine Videoanimation. Oder doch Menschen in kuhähnlichen Tauruskostümen? Als schließlich auf der Videoleinwand der Bandname aufblitzt, springen die Blizzard-Angestellten wie ein Mann von ihren Sitzen und klatschen. Warum wird klar, als die Musiker die Bühne betreten. Mit hochgereckter Faust und Bass vor dem Bauch baut sich Blizzard-Chef Mike Morhaime hinter einem der Mikrofone auf. Den Sänger gibt der langhaarige Sam Didier, einer der "WoW"-Designer. "I am Murloc!", brüllt Didier in bester Heavy-Metal-Manier zu Stakkato-Riffs ins Mikrofon. Die Halle tobt. Auch noch, als er zum zehnten Mal "For the Horde!" grölt. Tim sieht mich zweifelnd an und formt unauffällig mit den Händen Buchstaben: "Gib mir ein A. Gib mir ein L. Gib mir ein... ach, vergiss das." Zwei Allianz-Spieler zwischen Tausenden Hordlern. Die Schlacht haben wir schon verloren. Ich wünschte, ich hätte wenigstens ein Allianz-Shirt angezogen, und überlege, ob es nicht Zeit ist, ins Hotel zurückzufahren. Oder meinen Account zu kündigen. Erst als Morhaime mit seiner Band die Bühne verlässt und das Sinfonieorchester Video Games Live die ersten Takte anstimmt, weiß ich wieder, warum ich hier bin. Das hundertköpfige Orchester unter der Leitung des Videospiel-Komponisten Tony Tallarico stimmt das Sturmwind-Thema an. Es ist fürchterlich pathetisch. Kitschig. Aber erwischt mich mit voller Breitseite. Ich sehe zu Tim: "Sturmwind. Wie schön." Sturmwind ist in "World Of Warcraft" eine der Hauptstädte der Allianz und liegt im Anfängergebiet. Und diese Musik ist eine der ersten Melodien, die man dort als Spieler hört. Sie markiert den Moment, in dem alles noch neu und aufregend ist, man seinen Charakter alle zwei Minuten sterben sieht und trotzdem weiter mit ihm diese fremde neue Welt entdecken will. Sie steht für erste Spielbekanntschaften, erste Erfolge, erste Beute. Für all das, was einen drei Jahre lang spielen lässt. Für all das, was mich auf die Convention geführt hat. Für all das - und ab jetzt auch noch für ein Murloc-Kostüm. Jessica Braun, 32, ist freie Journalistin und hat für "Woman", "Neon", "Spiegel.de" und "Rolling Stone" geschrieben. Ihr Schwerpunkt sind Reisereportagen. Manchmal auch aus virtuellen Ländern. Text: Jessica Braun, Fotos: Jessica Braun, Blizzard
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von Volker Hansch / Oktober 10th, 2007 /

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