„Das ganze Leben zeigen“

„Das ganze Leben zeigen“

Neue Ideen stammen meist von unabhängigen Geistern. Wir haben sechs Independent-Entwickler aus Russland, Belgien und den USA an den virtuellen runden Tisch gebeten, um mit ihnen darüber zu reden, was in Videospielen in Zukunft möglich sein wird

Die meisten von euch haben am Theater oder als Performance-Künstler gearbeitet, bevor sie damit begonnen haben, Videospiele zu entwickeln. Warum der Berufswechsel?

Kellee Santiago (That Game Company): Bereits als ich in New York Theaterstücke inszeniert habe, war ich sehr daran interessiert, neue Medien in die Aufführungen mit einzubeziehen. Aber Videospiele können mehr als Theater: In ihnen kannst du wirklich alle Formen der Kommunikation unterbringen – Erzählung, Design, visuelle Kunst, Klang, Musik und Technik. Nikolay Dybowskiy (Ice-Pick Lodge): Ich bin im Theater aufgewachsen, da meine Eltern dort gearbeitet haben. Und ich sehe große Ähnlichkeiten zwischen Computerspielen und Theater. In beiden geht es um das Hier und Jetzt, um den Moment, den der Schauspieler mit dem Zuschauer teilt. Der Unterschied: Im Videospiel werden Schauspieler und Zuschauer eins. Michaël Samyn (Tale Of Tales): Für mich sind Videospiele einfach eine weitere Form interaktiver Kunst, in der es wie im Theater häufig darum geht, dass der Spieler in eine Rolle schlüpft und diese glaubhaft verkörpert. Nikolay Dybowskiy: Genau! Die Menschen haben vergessen, was der Begriff „Rollenspiel“ eigentlich bedeutet. Es geht nicht ums Kämpfen, Sammeln und Aufleveln, sondern um das Ausfüllen einer Rolle. Um Schauspiel! Jason Rohrer: Ich sehe das anders. Vielleicht auch, weil ich Programmierer bin und kein Künstler. Es stimmt, dass es zwischen Theater und Videospiel Parallelen gibt. Aber im Kern sind sie grundverschieden. Videospiele stehen in der Tradition von Spielen wie Schach oder Go. Sie sind Systeme, die wesentlich einfacheren Regeln gehorchen als die reale Welt. Und im Unterschied zum Theater ist es bisher noch nicht gelungen, einen Charakter in einem Spiel auf vergleichbarem Niveau Emotionen zeigen zu lassen wie ein Mensch.

Konzentrierst du dich daher in letzter Zeit auf Multiplayer-Games wie „Between“? In dem Spiel geht es ja darum, mit einem anderen Spieler in Kontakt zu treten, den man jedoch nie zu sehen bekommt. Man kommuniziert nur mittels farbiger Klötze miteinander.

Jason Rohrer: Das stimmt. Hat man einmal die Botschaft von einem Singleplayer-Spiel wie „Passage“ verstanden, denkt man vielleicht noch länger darüber nach, aber man braucht es nicht noch einmal zu spielen. Spielt man hingegen mit anderen Menschen, hat man immer wieder einen Grund, zurückzukehren.

Auriea und Michaël, euer erstes Computerspiel „The Endless Forest“ war auch ein Multiplayer-Game, in dem die Spieler in die Gestalt von Hirschen geschlüpft sind und sich allein durch Körpersprache verständigt haben. Wie kamt ihr auf die Idee?

Auriea Harvey (Tale Of Tales): „The Endless Forest“ ist aus einem anderen Projekt hervorgegangen: Als Michaël und ich uns kennen lernten, lebten wir in verschiedenen Ländern. Wir haben deshalb ein Programm entwickelt, das uns erlaubte, miteinander per Gesten zu kommunizieren. Dann trafen wir uns jeden Donnerstag online – und mit der Zeit haben wir erkannt, wie ausdrucksstark nonverbale Kommunikation sein kann. Text- und Voicechat wird dagegen schnell hässlich.

Multiplayer wird immer beliebter. Steht das Singleplayer-Spiel vor dem Aussterben?

Jason Rohrer: Glaube ich kaum. Singleplayer-Spiele sind ja erst durch den Computer als Gegenspieler erfolgreich geworden. Es ist jedoch extrem schwierig, sie interessant zu gestalten. Die meisten arbeiten mit nur sehr einfachen Tricks: In „Solitaire“ spielst du gegen den Zufall, der die Karten immer wieder neu mischt. „Pac-Man“ wird schneller und schneller. Oder es wird eine mittelmäßige Geschichte über das Spiel gelegt, damit es interessant bleibt. Nikolay Dybowskiy: Du sprichst von Computerspielen, als wären sie mechanische Apparaturen, die man bunt anstreichen muss, damit sie interessant bleiben. Jason Rohrer: Ich beziehe mich auf die Mehrzahl der Mainstream-Spiele. Nimm zum Beispiel irgendein beliebiges Hack’n’Slash-Game: Klar, deine Gegner tragen unterschiedliche Kostüme, sie werden stärker oder tauchen in größeren Mengen auf. Aber ansonsten ändert sich gar nichts. Du drückst stundenlang dieselben paar Knöpfe. Und dazwischen wird dir hin und wieder ein bisschen Geschichte präsentiert, um dich bei Laune zu halten. Kellee Santiago: Das kann ja auch sehr befriedigend sein! Ich bin zum Beispiel ein großer Fan von „God Of War“. Was wir uns als Entwickler fragen, ist jedoch: Was kann man noch alles mit Videospielen ausdrücken? Wo ist die Vielfalt? Das Spektrum, in dem sich Videospiele heute bewegen, ist immer noch sehr klein.

Typische Emotionen, die Videospiele auslösen, sind Euphorie, Anspannung und natürlich auch Frustration über einen verlorenen Kampf. Games wie das Blumenspiel „Flower“ oder das unheimliche und rätselhafte „The Path“ vermitteln jedoch ganz andere Gefühle. Wie macht ihr das?

Kellee Santiago: Wir bei That Game Company überlegen uns zuerst, welche Emotion wir beim Spieler auslösen wollen. Erst danach denken wir über das Gameplay nach. Das ist ein großer Unterschied zu den meisten Mainstream-Entwicklern. Die beginnen mit der Entscheidung, in welches Genre ihr Spiel fallen soll. Sie sagen sich: Wir machen ein Actionspiel, aber diesmal hast du andere Waffen. Oder: Wir machen ein Rennspiel, aber diesmal verläuft die Rennstrecke durch Südafrika. Es kommt aber durchaus vor, dass wir am Ende einen ganz anderen Eindruck vermitteln als ursprünglich geplant. „Flower“ gibt einem zum Beispiel das Gefühl, sich in einem Blumenmeer zu befinden. Am Anfang stand jedoch die abstrakte Vorgabe, ein Spiel zu entwickeln, das das Gefühl erweckt, Liebe zu geben. Michaël Samyn: Bei uns läuft das genau umgekehrt. Wir nehmen uns als Ausgangspunkt eine bereits existierende Geschichte oder eine konkrete Situation und schauen dann, wohin uns das führt. Ein wichtiger Teil des Entwickelns und auch des Spielens unserer Spiele ist es, zu erforschen, welche Emotionen eine bestimmte Situation in einem auslöst. Unsere Spiele sind für uns keine Mittel, um Emotionen auszudrücken – sie sind Werkzeuge, um die eigenen Emotionen zu erforschen.

Gibt es Gefühle oder Gedanken, die sich besonders gut oder ausschließlich in Computerspielen erleben lassen?

Michaël Samyn: Ich denke, da gibt es keine Unterschiede zu anderen Kunstformen. Computerspiele gehen mit Gefühlen und Ideen jedoch anders um. Videospiele können eine Welt zeigen, in der mehrere Sichtweisen der Wahrheit nebeneinander existieren. Videospiele zeigen dir nicht nur einen Weg, sondern viele verschiedene Möglichkeiten. In ihnen geht es um Subjektivität, um Vielfalt. In Zukunft wird es in Computerspielen nicht mehr darum gehen, wie man gewinnt oder verliert, sondern darum, sich mit Fragen zu beschäftigen, ohne den Zwang, sie beantworten zu müssen.

Was entgegnet ihr Kritikern, die behaupten, dass eure Werke gar kein Spiele seien? Über „Flow“ wurde gesagt, es sei nicht mehr als ein Bildschirmschoner – weil man darin nur in der Tiefsee herumschwimmt und frisst.

Kellee Santiago: Das kümmert mich wenig. Ich finde es schade, wenn Menschen nicht offen sind für andere Arten von Erfahrungen, die Videospiele bieten können. Immer mehr Spieler sind jedoch dazu bereit. Unsere Aufgabe ist es, jene Spiele zu machen, die wir machen wollen, und nicht eine Definition von Videospiel zu erfüllen, die jemand anders für richtig hält. Auriea Harvey: Uns ist es egal, ob jemand eines unserer Spiele Spiel nennt oder interaktive Kunst oder was auch immer, solange er etwas damit anfangen kann.

Nikolay und Aleksey, für „Pathologic“ muss-tet ihr aus ganz anderen Gründen Kritik einstecken. Viele Kritiker hielten das Spiel schlicht für unspielbar.

Aleksey Luchin (Ice-Pick Lodge): „Pathologic“ war vielen zu anstrengend. Spieler sind es nicht gewohnt, dass ein Spiel ihnen schwierige Entscheidungen abverlangt, die für den Rest des Games Konsequenzen nach sich ziehen. Nikolay Dybowskiy: Wir Russen sind brutal! Für uns muss jedes Spiel ein Initiationsritus sein. Der Mensch, der sich vom Stuhl erhebt, nachdem er eines unserer Spiele gespielt hat, muss ein anderer sein als der, der sich einige Stunden zuvor an den Bildschirm gesetzt hat. Unser Ziel ist es, eine Transformation auszulösen und den Spieler zu einem neuen, besseren Menschen zu machen. Aleksey Luchin: „The Graveyard“ von Tale Of Tales ist ein gutes Beispiel für das Computerspiel als Initiation, die dich in sehr kurzer Zeit verändert. Du gehst einfach ganz langsam als alte Oma über einen Friedhof. Das ist alles. Ein voller Erfolg! Michaël Samyn: Vielen Dank!

Spiele wie „The Endless Forest“, „Passage“ oder „Flow“ spielen sich recht entspannt. Wie wichtig ist der Schwierigkeitsgrad für ein Spiel – die Herausforderung, die es bietet?

Kellee Santiago: Das hängt davon ab, welche Erfahrung man dem Spieler ermöglichen will. „Flow“ zum Beispiel ist ein Spiel über den Zen-Zustand des Sich-im-Fluss-Befindens. Für so etwas wäre ein hoher Schwierigkeitsgrad hinderlich. Was aber nicht heißen soll, dass wir in Zukunft keine Videospiele veröffentlichen werden, die höllenschwer sind. Aleksey Luchin: Durch wirkliche Herausforderungen – und ich meine nicht das bloße Aufleveln in einem Rollenspiel – erhält der Spieler das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Er nimmt das Game ernst. Und das hilft uns dabei, ihm etwas durch das Spiel zu vermitteln. Ich mag „Flower“, das ist ein sehr schönes Spiel. Aber irgendjemand muss ja die bösen Spiele machen. Auriea Harvey: Das ist doch das Bezeichnende an Computerspielen: Sie können all diese verschiedenen Dinge sein. Mal sind sie poetisch, mal brutal, manche spielt man nur einmal, zu anderen kehrt man immer wieder zurück. Jason Rohrer: Ich finde, jedes Spiel sollte eine Herausforderung sein. Du wirst als Spieler vor schwierige Entscheidungen gestellt, du musst Probleme lösen, Hindernisse überwinden. Sonst ist es kein Spiel. Herausforderungen gehören zu Spielen wie die Kamera zum Film. Auriea Harvey: Aber du kannst einen Film mit wackeliger Handkamera drehen, mit langen durchkomponierten Einstellungen oder ihn Bild für Bild aufnehmen wie einen Trickfilm. Ich denke, auch die Herausforderung an die Spieler kann verschiedene Formen annehmen. Sie muss nicht darauf beschränkt sein, wie schnell du einem Drachen auf den Kopf schlagen kannst. Aber womöglich benötigen Spiele auch gar keinen Schwierigkeitsgrad. Ich halte es für zu dogmatisch, vorzuschreiben, was ein Spiel sein darf und was nicht.

Wie sieht für euch die künstlerische Zukunft des Mediums Computerspiel aus?

Jason Rohrer: Die Spielindustrie braucht dringend Nachschub! Ein Grund, warum es so viele einfallslose Fortsetzungen gibt, ist der Mangel an talentierten Gamedesignern. Auriea Harvey: Die meisten Künstler, die ich kenne, haben nicht das Gefühl, in dieser Branche willkommen zu sein. Dazu gibt es einfach zu wenig kunstvolle Games. Ohne diese Talente ist die Industrie aber aufgeschmissen. Ich wünsche mir daher, dass wir mehr von ihnen durch unsere Arbeit davon überzeugen können, es mit Videospielen zu versuchen. Nikolay Dybowskiy: Die Aufgabe jedes Künstlers sollte es sein, die Sprache und die Werkzeuge zu finden, die der Menschheit ihre aktuelle Situation vor Augen führen, die das ganze Leben zeigen, wie es ist. Jedes Jahrhundert hat bisher noch seine eigene Sprache finden müssen, um sich Gedanken über die aktuellen Probleme und die Zukunft zu machen. Computerspiele sind die Sprache des 21. Jahrhunderts. Wir müssen sie nur richtig sprechen lernen. Aleksey Luchin: Das Problem ist: Die Spiele, die versuchen, die Möglichkeiten dieser neuen Sprache zu ergründen, kannst du an einer Hand abzählen. Daher ist es umso wichtiger, dass wir Entwickler hart an uns arbeiten. Unsere Aufgabe ist es, herauszufinden, welches Potenzial in Videospielen steckt, das andere Kunstformen nicht bieten. Das Internet zum Beispiel hat uns alle bereits verändert. Vor 20 Jahren hätte sich niemand diese Telefonkonferenz vorstellen können. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit wurden so viele Informationen von so vielen Menschen verarbeitet – und Computerspiele können uns dabei helfen, Veränderungen wie diese zu begreifen und voranzutreiben, da sie uns eine Welt aufzeigen, in die wir genauso aktiv eingreifen können wie in die reale Welt. Nikolay Dybowskiy: Ich denke, dass schon sehr bald ein wirkliches Genie auf die Videospielbühne treten wird. Ein Puschkin des Game-designs! Wir alle bereiten lediglich den Boden vor, auf dem er gehen wird.
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von Oliver Klatt / August 25th, 2009 / 2 Kommentare

2 Kommentare

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