Beyond Good & Evil

Beyond Good & Evil

Eine Fotojournalistin als Heldin eines Videospiels? Ein Spiel, das sich der Einordnung in jedes Genre widersetzt? Ein Entwickler, der uns etwas über die Natur des Menschen, seine Stärken und Schwächen erzählen will? Willkommen auf dem Planeten Hillys! Wir schreiben das Jahr 2435. Der Planet Hillys, auf dem Menschen und sehr menschliche Tiere stets in Harmonie zusammengelebt haben, wird seit Monaten von den Angriffen einer Alienrasse terrorisiert: der DomZ. Und obwohl die eilig eingesetzte Militärregierung versprochen hat, die außerirdischen Angreifer in die Flucht zu schlagen, werden immer mehr Hillyaner von den Aggressoren an einen unbekannten Ort verschleppt. Und mitten in diesem Chaos hat die junge Fotoreporterin Jade gemeinsam mit einem gutherzigen, aufrecht laufen-den Schwein – ihrem Adoptivonkel Pey’j – einen Leuchtturm am Rande der Hauptstadt in ein Waisenhaus umfunktioniert. Dort sollen Kinder, deren Eltern den Angriffen der DomZ zum Opfer gefallen sind, ein Minimum an Geborgenheit finden. Als Jade jedoch ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen kann und infolgedessen der Schutzschild des Leuchtturms versagt, kommt es zur Tragödie: Jade muss mitansehen, wie mehrere ihrer Schützlinge von den Aliens entführt werden. Die Soldaten der Militärregierung kommen wie immer zu spät. Jade ist außer sich vor Wut und Verzweiflung und fest dazu entschlossen, den Gründen für die Angriffe und das Versagen des Militärs auf die Spur zu kommen und die Waisenkinder aus den Fängen der DomZ zu befreien. So beginnt die Geschichte von „Beyond Good & Evil“, einem Spiel, mit dem der „Rayman“-Erfinder Michel Ancel 2003 die Videospiellandschaft künstlerisch revolutionieren wollte. „Wir wollten damals die Prinzipien der Spiele aufbrechen, in denen man das Gefühl hatte, in einer Kiste gefangen zu sein“, sagt Ancel heute. „Dazu gesellte sich der Wunsch, tiefere und näherliegende Geschichten zu erzählen: über einen Krieg, wie Leute auf einen Haufen von Informationen reagieren und viel allgemeiner über unsere Gesellschaft, die sowohl modern als auch barbarisch ist.“ Gekauft und gespielt hat es damals trotzdem kaum jemand. 
Zu gut für diese Welt
Dabei hat Michel Ancel in „Beyond Good & Evil“ so vieles richtig gemacht. Einiges davon sogar zum ersten und bisher letzten Mal in der Geschichte des Videospiels. Das Gameplay von „Beyond Good & Evil“ etwa lässt sich nicht in einem einzigen Satz zusammenfassen oder gar in ein klar definiertes Genre pressen: Mal schleicht Jade wie in einem Stealth-Adventure durch die Gänge eines verwinkelten Schlachthauses oder drückt sich auf einem dünnen Wandvorsprung an schwer bewaffneten Wachen vorbei, gegen deren Schlagkraft die einzig mit einem Stock und ihrem Verstand ausgerüstete Journalistin eh nichts ausrichten könnte. Ein anderes Mal wird „Beyond Good & Evil“ zum Action-Plattformer, in dem Jade gemeinsam mit Pey’j in einer Felshöhle über Abgründe springt oder sich die beiden im Teamwork gegen aufgescheuchte Biester verteidigen müssen. An anderer Stelle wiederum liefern sich die zwei an Bord ihres im Laufe des Spiels ständig weiter aufrüstbaren Luftkissenbootes eine Verfolgungsjagd mit Räubern durch die Katakomben von Hillys oder treten auf einer von vier Rennstrecken gegen andere Speedjunkies an. In solchen Momenten wird „Beyond Good & Evil“ zum Arcade-Racer und der eigene Puls zum Tachometer. Mit Minispielen wie einer höllenschweren Air-Hockey-Simulation oder einem Hütchenspiel kann Jade ihren Finanzhaushalt ausgleichen. Und das Wundervolle: Michel Ancel nutzt nur ein einziges Spielelement, um die-se verschiedenen Genres miteinander zu verbinden: die Fotografie. Als Fotojournalistin verdient Jade nämlich ihr Geld damit, jeden Winkel von Hillys nach seltenen Tierarten zu durchforsten und ihre Aufnahmen an das Wissenschaftszentrum von Hillys zu übermitteln. Ganz egal also, wo Jade ihre Suche nach der Wahrheit und dem Verbleib der Vermissten hinführt: Mit einem Auge sucht der Spieler ständig die Umgebung nach versteckten Lebensformen ab. Seine Sammelleidenschaft ist geweckt, und irgendwo in Fernost lacht der Geist von „Pokémon“ in sich hinein.

Und auch wenn der Ton von „Beyond Good & Evil“ manchmal todernst und traurig wird, ist das Spiel oft genug erfreulich albern: zum Beispiel, wenn Pey’j Jade seine mit Eigen-Methan befeuerten Sprungschuhe präsentiert. Immer gelingt es Michel Ancel und seinem Team, einen Hauch von Wärme und Menschlichkeit durch das Spiel wehen zu lassen. Das liegt nicht nur an den glaubhaft gesprochenen Dialogen und der Musik des Filmkomponisten Christophe Héral – sondern vor allem am ausdrucksstarken Design der Figuren. Deren lebendige Animationen können es locker mit den Zeichentrickfilmen von Disney, Studio Ghibli und Co aufnehmen: Jade und Pey’j fallen sich nach bestandenem Kampf gegen ihnen zahlenmäßig überlegene Aliens in die Arme, Jade hilft ihrem schwergewichtigen Onkel wieder auf die Beine, wenn es ihn umgehauen hat, und die Verbündeten, die Jade nach und nach kennen lernt, sind alle so verschieden wie liebenswert.
Das Herz und die Seele von „Beyond Good & Evil“ ist jedoch seine Protagonistin selbst. Jade ist kein Klischee, keine auf ihr Aussehen reduzierte Figur, sondern eine Persönlichkeit. In ihrem Gesicht zeigen sich Emotionen, von denen Lara Croft in 
ihrem Leben noch nicht gehört hat. „Ich hatte genug davon, 
immer nur Spiele für Männer zu entwickeln“, sagt Michel Ancel über die Geburt seiner Heldin. „Für mich ist eine Frau mit einer Pistole in jeder Hand und einem tadellosen Aussehen keine wirkliche Frau. Wenn eine moderne Frau eine Frau ist, die wie ein Mann handelt, dann ist das traurig. Jade hat eine wilde Seite, aber sie bleibt feminin und denkt über andere Wege als Gewalt nach, um ein Problem zu lösen. Ihre Waffe ist die Kamera.“ So schön es auch ist, dass mit Jade das erste Mal eine glaubhafte weibliche Hauptfigur in ein Videospiel getreten ist, die nicht den Sexfantasien eines Teenagers entsprungen zu sein scheint, so erschreckend ist die Tatsache, dass seither niemand diesem Beispiel gefolgt ist. Bis heute haben wir viele zerrissene männliche Antihelden wie Max Payne oder Niko Bellic aus „Grand Theft Auto IV“ kennen und spielen gelernt – eine zweite Frau jedoch, die es mit Jades Charaktertiefe aufnehmen könnte, bleibt uns die Spielindustrie nach wie vor schuldig.

Ursachenforschung
Wenn aber so viel stimmt, warum wurde „Beyond Good & Evil“ dann kein Welterfolg, sondern ein Geheimtipp, obwohl es für alle aktuellen Konsolen von der Xbox über die Playstation 2 bis zum Gamecube und sogar für den PC auf den Markt kam? An schlechten Kritiken kann es nicht gelegen haben. Die Presse war sich einig und feierte das Spiel beinahe geschlossen als Meisterwerk. Sicherlich, „Beyond Good & Evil“ ist nicht perfekt: Die Kamera ist an einigen Stellen überfordert und zeigt nicht, was sie zeigen sollte. Die Steuerung am PC ist hakelig. Und wer das Spiel heute, sechs Jahre nach seinem Erscheinen, erneut durchspielt, muss feststellen, dass sich die Welt von Hillys im Gegensatz zum damaligen Eindruck von Weite und Freiheit auf ein sehr überschaubares Terrain zusammenzieht. „The Legend Of Zelda: The Wind Waker“, mit dem „Beyond Good & Evil“ gerne verglichen wird, bietet das Zehnfache an Spielwelt. Mindestens. Aber all das wird bedeutungslos, wenn man sich vor Augen führt, was Michel Ancel in „Beyond Good & Evil“ alles gelungen ist. Und all das erklärt nicht, dass das Spiel derart schnell in den Budget-Regalen der Spielehändler landete oder als Beilage für Computerspielzeitschriften verramscht wurde. Das hatte Ancel sicherlich nicht im Sinn. Er wollte Jade zur Heldin ihrer eigenen Tri-logie machen. Nach den enttäuschenden Verkaufszahlen des Weihnachtsgeschäfts 2003 ließ Ubisoft das Projekt jedoch fallen. Dabei war der französische Publisher am kommerziellen Scheitern von „Beyond Good & Evil“ nicht ganz unschuldig, hatte er mit „Prince Of Persia: The Sands Of Time“ doch zeitgleich eine gelungene Fortsetzung veröffentlicht und sich damit selbst um potenzielle Käufer betrogen. Auch Videospieler sind halt Gewohnheitstiere, die Angst haben vor dem Neuen und – vor die Wahl gestellt – lieber zu Altbekanntem greifen. Am Ende bleibt also die bittere Erkenntnis: Dass es bisher kein zweites „Beyond Good & Evil“ gegeben hat, haben wir uns bis zu einem gewissen Grad selbst zuzuschreiben. Das Spiel ist derzeit nur gebraucht erhältlich, dürfte aber leicht zu finden sein. Je nach System und Zustand bewegt sich der Preis zwischen fünf und 15 Euro.
Tags: ,
von Oliver Klatt / August 25th, 2009 / 3 Kommentare

3 Kommentare

  1. David "Fash" Gerloff sagt:

    Eines der besten Spiele das ich gespielt habe (neben Day of the Tentacle und Psychonauts) und eines jener Games welches man nie vergisst, egal wie alt es ist.

    Ich freu mich zumindest auf den 2. Teil und wenn es nur halb so gut wird wie der Erstling ist´s immer noch um Weiten besser als jedes 2. Spiel auf dem Markt, hoffen wir es wird diesmal gewürdigt.

  2. Yoman sagt:

    So ein seltenes Spiel… und für mich neben Prince of Persia – Sands of Time und Shadow of the Colossus das beste Spiel aller Zeiten.

  3. cmi sagt:

    das spiel gibts übrigens auch „neu“ bei gog.com für $9,99 :)

    ein ähnliches schicksal (spieler jammern über ewig gleiche fortsetzungen, aber neuheiten haben es äußerst schwer) erlitt übrigens auch psychonauts. :(