Another World
Vor 18 Jahren entwarf Eric Chahi ein Spiel, in dem Ästhetik, Klang, Gameplay und innovative Technik nahtlos ineinander griffen. Eine Geschichte aus einer anderen Welt
Viele lange Jahre vor Youtube, im Jahr 1991, haben meine Freunde und ich einen VHS-Videorekorder an unseren Amiga 500 angeschlossen, um das Intro eines Spieles aufzuzeichnen, das uns wie kein anderes zuvor beeindruckt hat: „Another World“. Wir zeigten es unseren Eltern, den Geschwistern, den Nichtspielern und sogar geschätzten Lehrern, um schon damals den Beweis zu erbringen: Computerspiele sind Kunst. Als wir dann „Another World“ weiterspielten und versuchten, den Wissenschaftler Lester Knight Chaykin aus der „anderen Welt“ zu befreien, in welche ihn ein Experiment zur Erzeugung von Antimaterie geschleudert hatte, verschlissen wir einige Dutzend weitere Videokassetten bei dem Versuch, einen Perfect Run aufzunehmen, einen Durchlauf ohne Fehler. Es ist unmöglich. Das Spiel hat eine einfache Steuerung, aber ein strenges Gameplay. Wir begreifen in Sekunden, wie wir Lester zu bewegen haben, und sterben dennoch tausend Tode, weil bereits die ersten Schritte äußerste Genauigkeit verlangen.
Lester hüpft, rennt, taucht, schleicht und schießt sich durch Flure, Höhlen, Arenen und Badehäuser einer außerirdischen Stadt und kooperiert dabei mit einem Verbündeten, einem Außerirdischen, der von seinen eigenen Artgenossen gefangen genommen wurde. Ein poetisches, cineastisches Action-Adventure ist das, für das der Begriff Jump’n’Run zu schnell klingt, denn jeder Sprung, jeder Schuss und jede Aktion sind genau definiert. Sind wir dem Spiel gewachsen, wird aus dem Stochern in Möglichkeiten ein flüssiges Ballett des Gelingens, das Euphoriegefühle auslöst, wie sie nur entstehen, wenn man sich den Erfolg erarbeitet hat. „Another World“ zwingt uns zur Entschleunigung, zum genauen Hinsehen, zur Achtsamkeit. Es kann niemals „irgendwie“ durchlaufen werden. Es lässt dem schludrigen Glücksritter keine Chance. Es gibt darin keine Lebensenergie, keine Fehlertoleranz. Dennoch klebten wir an dem Spiel, viele Monate lang.
„Another World“, in den USA als „Out Of This World“ erschienen, ist ein Autorenspiel. Der Franzose Eric Chahi hat es allein entwickelt. Sein einziger Partner ist damals Jean-François Freitas, er macht die Musik und hat seinen Anteil an den Soundeffekten, die nicht zu unterschätzen sind. Dennoch: Der Kern der Sache liegt in der Hand Chahis, einem schmalen, introvertierten und melancholischen Mann, der zerbrechlich wirkt und doch sehr entschlossen, sobald er eine Vision für würdig befunden hat, in die Tat umgesetzt zu werden. In einem seiner seltenen Interviews bemerkt er: „Ich erzähle die Geschichte von ‚Another World‘ nicht gern, weil ich denke, dass die Bilder das viel besser können. Ich habe die Bilder so entwickelt, dass sie etwas rüberbringen.“
Das hat er. Was einen an dem Spiel so fesselt, ist seine atemberaubend intensive Atmosphäre. Völlig zu Recht sprechen die Betreiber der Webseite Artful Gamer, die sich „der Suche nach der Poesie und dem Lyrischen in Videospielen“ verschrieben haben, in Bezug auf Eric Chahi von „überaus fokussierten und konzentierten Designanstrengungen“. Will sagen: In diesem Spiel ist nichts Zufall. Nicht die gezielt ausgewählte Farbpalette von Schwarz, wenigen Erdfarben und dominierenden Blautönen. Nicht die Entscheidung, ein Spiel vollkommen ohne jede Bildschirmanzeige zu entwickeln. Und schließlich: Nicht die dezente, aber eindringliche Musik von Jean-François Freitas sowie Geräusche, die bis heute im Gedächtnis verankert sind – vor allem dadurch, dass sie allesamt mittels Tomaten, Nadeldruckern oder Schwämmen handgemacht wurden. Man könnte jemanden, der „Another World“ das letzte Mal 1991 gespielt hat, mitten in der Nacht wecken und ihm ein paar Klangeffekte daraus vorspielen – er würde sie sofort erkennen. Das Zerquetschen eines Egels. Das Aufladen des Lasers, bis er ein Schutzschild erzeugt. Das trockene Zerfallen eines Skelettes. Der Aufzug, wie er an den Schachtwänden kratzt.
Eric Chahi hat jede dieser Design-Entscheidungen so bewusst getroffen wie ein Maler oder Schriftsteller. So etwa, dass das Monster, das Lester zu Beginn jagt, eine abstrakte schwarze Projektionsfläche bleibt. Dass die Aliens, von denen man gefangen genommen wurde und von denen man eines zum Freund gewinnt, eine Sprache murmeln, die man nicht versteht. Dass die Stadt von riesigen Wänden umschlossen wird, die wie Klauen oder Zähne wirken und sich um das Schicksal des armen Lesters schließen. Dass die andere Welt nicht scrollt, sondern Bild für Bild ertastet werden muss. Dass sie Rhythmen hat, Schutzfelder und Zufluchtsorte, dass sie Panik und Hoffnung im Wechsel inszeniert.
„Für mich entsteht das Spiel im Kopf des Spielers“, sagt Freitas – und als solcher fragt man sich auch, während man Lester millimetergenaue Sprünge ausführen oder sich zusammengekauert durch Röhren rollen lässt: Womit hat der Protagonist das verdient? Dieses „Geworfensein“, um es philosophisch zu sagen, diese gnadenlose Prüfung? Hier lässt sich das Spiel über die Kommentare seines Schöpfers hinaus interpretieren. Der Wissenschaftler Lester – so zeigt es uns das Intro auf unseren fein archivierten VHS-Kassetten – ist nicht nur ein junger, sondern auch ein anmaßender Forscher. Er fährt Ferrari, trinkt Cola aus der Dose und startet ein hoch gefährliches Experiment, als wäre es nichts. Seine Hybris wird mit Verbannung in die andere Welt bestraft. Er kann nur überleben, wenn er diese Welt in größtmöglicher Achtsamkeit Schritt für Schritt „erforscht“ und somit seinem Beruf wieder gerecht wird. Kein Ferrari und keine Cola werden ihm dabei helfen, sondern nur das Erforschen der Logik hinter dem Geschehen, einer so strengen wie stringenten Logik.
In der Herstellung der Animationen ist Eric Chahi damals selbst ein Forscher. Inspiriert von den flüssigen Cartoon-Animationen der Amiga-Version von „Dragon’s Lair“ und der Rotoskopie-Technik, die Jordan Mech-ner bei „Karateka“ verwendet hat, fragt er sich, wie neuartige, flüssige und überzeugende Bewegung mit den begrenzten Mitteln des Amiga möglich wären. Zu diesem Zweck entwirft er sein eigenes Werkzeug: einen Editor, in dem er Polygone entwerfen, kombinieren und die Änderung sofort testen und spielen kann. Eine irrsinnig komfortable Lösung ist das im Vergleich zur klassischen Programmierung, bei der jede Änderung erst im Assembler neu kompiliert werden muss. Diesen Baukasten reizt er vollständig aus, bis hin zur genialen Idee, Laserschüsse von vorne in die Tiefe des Bildschirms hineinfliegen zu lassen, wo der Held auf seiner 2D-Ebene entlang-läuft, worauf der Eindruck von Dreidimensionalität entsteht. Als menschliches Vorbild der Bewegungen lässt Chahi seinen kleinen Bruder alle möglichen Bewegungsabläufe durchführen. Chahi erforscht also die Möglichkeiten des Game-Designs wie seine Figur Lester die andere Welt.
Spielt man „Another World“ heute erneut, wirkt es immer noch genau so hochwertig und frisch wie am ersten Tag. Es ist ein altes Spiel, sicher, aber würde es heute – so wie es ist – das erste Mal erscheinen, würde man es als vollwertiges Werk respektieren. Optik, Klang und Gameplay würden nicht veraltet wirken, sondern in ihrer kompromisslos konsequenten Ästhetik als künstlerisch folgerichtig.
Chahi hat ein Spiel gemacht, das ähnlich einem Kafka-Text oder einem bahnbrechenden Musikalbum niemals veralten kann. Solche Spiele gibt es nicht oft. „Ico“ ist so eines, „Shadow Of The Colossus“, „Okami“ oder die Produktionen von Tale Of Tales, „The Path“ und „Fatale“ – mit dem Unterschied, dass sie Kunstwerke sind, die man auch spielen kann, während „Another World“ ein Spiel ist, das eben auch ein Kunstwerk darstellt.
Chahi hatte vor „Another World“ während seines Elektronikstudiums einige Spiele für den Oric-1-Computer programmiert, schließlich parallel zur Entwicklung des PC- und Amstrad-Games „Le Pacte“ die Schule geschmissen und mit „Les Voyageurs du Temps (La Menace)“ 1989 zu Delphine Software gefunden, wo er „Another World“ bis hin zur handillustrierten Verpackung fast ganz allein erschuf. Der umstrittene, nur auf Sega-Mega-CD erschienene Nachfolger „Heart Of The Alien“ entstand laut Chahi nur „aufgrund des Druckes von Interplay“, erzählt die Story aus Sicht des Außerirdischen und wird in Chahis Werkliste auf seiner Webseite nicht aufgeführt. Diese endet 1998 mit dem liebevollen, ambitionierten Jump’n’Run-Adventure „Heart Of Darkness“, einem der schönsten Spiele für die erste Playstation. Danach widmete sich Chahi ausschließlich dem Erbe von „Another World“. Mittels seiner Homepage, welche die Genese des Spiels erklärt, mit teils selbst mitgestalteten, teils autorisierten Portierungen (unter anderem für Symbian-Handys und den Game Boy Advance) sowie mittels einer detailreichen „15th Anniversary Edition“ (2006), die neben einer komplett überarbeiteten Version unter anderem ein Making-of, ein Entwicklertagebuch und ein technisches Skizzenbuch mit kryptischen Notizen enthält.
„Neues Projekt in Arbeit“, verkündet seine Webseite heute trocken, eine Interviewanfrage ging ins Leere. Derzeit können wir also nur abwarten, ob Eric Chahi noch einmal ein Computerspiel erschaffen wird. Fest steht aber: Sollte dieser Mann, der sich alle Zeit der Welt lässt und ausschließlich etwas machen wird, das vollkommen und eigenständig ist, tatsächlich wieder mit einem neuen Spiel in Erscheinung treten, wird es uns alle wieder aus der Routine holen. Und: Es wird Kunst sein.
Die „15th Anniversary Edition“ des Spiels für PC aus dem Jahre 2006 ist für 15 Euro weiterhin zu erwerben und enthält ebenfalls die Amiga-Fassung für Emulatoren
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GEE 50
Ich habe neulich eine Ausgabe der GEE am Bahnhofskiosk gesehen und wusste beim schnellen Durchblättern nicht so ganz, was ich davon halten soll, da mir der Bilderanteil sehr hoch erschien. Wenn ich gewusst hätte, daß in dem Magazin sogar solch zeitlose Perlen wie „Another World“, die an den meisten Redakteuren der heutigen Games-Presse unbemerkt vorbeigezogen zu sein scheinen (wenn man ihre Bewertungsmaßstäbe betrachtet), hätte ich die aktuelle Ausgabe sicher gekauft.
Schade daß Chahi zu keinem Interview bereit war; Das Video auf der 15th Anniversary Edition bleibt so wohl erstmal die letzte Aufnahme, die man von ihm ergattern kann.
Auch wenn dieser Text hier keine so schöne Liebeserklärung wie die bei actionbutton.net darstellt, möchte ich dem Magazin und Herrn Uschmann ein großes Lob aussprechen… ich habe seit Jahren kein Spiel gespielt, dessen Design sich hätte mit dem auf das Wesentliche reduzierten „Another World“ hätte messen können.