Ganz unten

Ganz unten

Seit einigen Jahren versuchen immer mehr Entwickler aus den Staaten der ehemaligen UdSSR die Welt mit Videospielen zu erobern. Jüngster Zuwachs: das ukrainische Studio 4A und seine Romanadaption „Metro 2033“ Der Tunnel scheint kein Ende zu nehmen. Die in festen Abständen an der Wand hängenden Lampen sind ausgeschaltet. Nur die Notbeleuchtung hüllt uns in dämmriges Zwielicht. An den gewölbten, rostroten Stahlwänden läuft Wasser viel zu nah an brüchigen Stromkabeln vorbei und fließt als Rinnsal ins Dunkel. Vorsichtig setzen wir einen Fuß vor den anderen. Auf einmal dringt aus der Ferne ein massiges Grollen heran. Wir bleiben stehen. Das Grollen wird lauter. Es kommt direkt auf uns zu. Wir beschleunigen unseren Schritt. Jeder würde das tun. Dies ist das Verlies des russischen Atombunkers SCP Taganskiy, einem architektonischen Relikt aus der Zeit des Kalten Krieges. Das Grollen ist das durch meterdicken Beton dringende Rumpeln der Moskauer U-Bahn, die im Minutentakt an uns vorbeidonnert. 65 Meter über unseren Köpfen friert und pulsiert das Herz Russlands: Moskau, die Millionenmetropole zwischen in Gold und Beton gegossener Vergangenheit und ungewisser Zukunft. Hier unten ist die Zukunft bereits angekommen. Zumindest jene bedrückende Vision, die der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky in seinem Roman „Metro 2033“ beschreibt: Nach einem mit Atomwaffen ausgetragenen Weltkrieg hausen die wenigen Überlebenden im verzweigten Netzwerk des Moskauer Metro-Systems, haben sich in den Stationen zu teils verfeindeten Dorfgemeinschaften zusammengeschlossen und trauen sich nur noch selten an die radioaktiv verseuchte Oberfläche, da dort verstrahlte Mutanten leben. Das Buch wurde in Russland ein Bestseller, nachdem Glukhovsky eine erste Fassung kostenlos im Internet veröffentlicht hatte. Auch in Deutschland verkauft es sich gut. „Die jahrelangen Gerüchte über ein Videospiel zu ‚Metro 2033‘ waren am Erfolg meines Romans sicherlich nicht ganz unschuldig“, sagt der 30-Jährige. Um dieses Videospiel, das im kommenden Frühjahr erscheinen soll, erstmals der Öffentlichkeit zu präsentieren, haben der Schriftsteller, der Creative Director des ukrainischen Entwicklerstudios 4A, Andrey „Prof“ Prokhorov, und Produzent Dean Sharpe in den Moskauer Untergrund geladen. Kein Ort könnte passender sein. Nach dem Erfolg der in der Ukraine entstandenen „Stalker“-Spiele, die auf dem Roman „Picknick am Wegesrand“ der Gebrüder Arkadi und Boris Strugazki basieren, entsteht nun also mit „Metro 2033“ eine weitere Literaturverspielung. Haben die Videospieler des Ostens eine besondere Affinität zum geschriebenen Wort? „Wir sind eine Nation, die gern liest“, sagt Prokhorov, der Lead Designer des ersten „Stalker“-Spiels war, bevor er zu 4A wechselte, „zu Sowjetzeiten war das allerdings noch ausgeprägter, da die übrige Medienlandschaft der UdSSR einseitig und nicht sonderlich attraktiv war.“ Schriftsteller Glukhovsky hingegen hält die im Osten angeblich besonders enge Beziehung von Gamedesign und Literatur für konstruiert: „Man denke nur an all die amerikanischen Spiele, die den Romanautor Tom Clancy im Namen tragen. Das ist in anderen Ländern viel ausgeprägter als bei uns.“ Auch der Hang zum Düsteren, zur atomaren Apokalypse, der beide Spiele verbindet, sei nicht typisch osteuropäisch. „Im Gegenteil“, sagt Glukhovsky, „die sowjetische Science-Fiction war geprägt von Utopien über den technischen Fortschritt, die Raumfahrt und friedliche Begegnungen mit außerirdischen Kulturen. Die dunklen Seiten kamen aus dem Westen: Meine Freunde und ich sind stark von den ersten ,Fallout‘-Spielen geprägt. Die zeigen den Überlebenskampf in einer postnuklearen Welt, wurden aber im sonnigen Kalifornien entwickelt“ – in einem Land, in dem es kein Tschernobyl gegeben hat.

Die traurige Wirklichkeit

Dennoch drücken in den ehemaligen Ostblockstaaten entstehende Titel wie „Stalker“ oder „Metro 2033“ etwas aus: das Lebensgefühl der dort Lebenden. „Anscheinend wirken die postsowjetischen Verhältnisse auf die Gefühlslage der Menschen“, sagt Prokhorov. „Das Schreckliche überwiegt gegenüber dem Fröhlichen.“ Die wirtschaftliche Situation ist in weiten Teilen der ehemaligen UdSSR immer noch schwierig bis katastrophal. Wo vormals Aufbruchstimmung aufkam, herrscht vielerorts nun Resignation und Verzweiflung. Und das zeigt sich in Spielen, die eine Welt nach dem Untergang zum Schauplatz haben, mag die Hand-lung auch in ein fantastisches Zukunftsszenario eingebunden sein. Oleg Yavorsky wird noch deutlicher. Sein 760 Kilometer weiter westlich in Kiew gelegenes Entwicklerstudio GSC Game World hat mit „Call Of Pripyat“ gerade das dritte Spiel der „Stalker“-Reihe veröffentlicht und dafür einhellig gute Kritiken bekommen. Für ihn ist Spieleentwicklung nicht nur eine Möglichkeit, in die eigene Zukunft zu investieren, sondern auch ein Weg, aller Welt zu zeigen, wie schön und wie schrecklich es in seinem Heimatland aussieht. „Das Szenario in ‚Stalker‘ ist ein Spiegelbild des ehemaligen russischen Imperiums, das nun in Trümmern daniederliegt“, sagt Yavorsky. „Abgesehen von einigen leichten Übertreibungen zeigt ‚Stalker‘, wie es in der Ukraine heute aussieht. Es mag schockierend sein, aber die meisten Kleinstädte, Fabrikanlagen und Militärstellungen befinden sich hier wirklich in jenem desolaten Zustand, den wir im Spiel einer radioaktiven Katastrophe zuschreiben.“ Realismus bedeutet für die Entwickler von GSC Game World nicht nur eine Höchstzahl an Polygonen, sondern das Abbilden ihrer gesellschaftlichen Bedingungen – versinnbildlicht durch marode, vom Menschen im Stich gelassene Architektur. „Spiele aus dem Wes-ten“, so Yavorsky, „wirken auf uns oft befremdlich, da sie wenig mit unserer Wirklichkeit zu tun haben.“ Es ärgert ihn, wenn in einem amerikanischen Titel wie „Call Of Duty 4: Modern Warfare“ die ukrainische Stadt Pripyat auftaucht, dort hängende Schilder aber in falschem Kyrillisch beschriftet sind. „Wir würden niemals ein Spiel über Gangster in Los Angeles oder japanische Samurai produzieren“, sagt er. „Um die Wirklichkeit eines Landes einzufangen, muss man vor Ort sein. Dort leben. Sonst macht man sich lächerlich.“

Entwicklungshilfe

Ganz ohne Einfluss von außen geht es dann aber doch nicht. Der Kalifornier Dean Sharpe, der während der finalen Entwicklungsphase von „Metro 2033“ dabei ist, wurde vor zwei Jahren vom amerikanischen Publisher THQ nach Kiew geschickt, als sich nach sechs Jahren Entwicklungszeit abzeichnete, dass „Stalker“ in dem von den Ukrainern vorgelegten Tempo wohl niemals fertig gestellt würde. „Die Situation hier im Osten ist mit der in den USA vor 20 Jahren vergleichbar“, erklärt Sharpe die widrigen Produktionsbedingungen, während das Grollen der Metro erneut anschwillt und die Lichter flackern lässt. „Oft fehlt es an Erfahrung und Hintergrundwissen. Auch bei uns konnte man sich damals nicht einfach für einen Kurs in Computerspielentwicklung an der Uni einschreiben.“ Während das heute im Westen eine Selbstverständlichkeit ist, fehlt diese Möglichkeit im Osten noch immer. Die wirtschaftliche Realität in den Ländern der ehemaligen UdSSR hinterlässt ihre Spuren also nicht nur in der Welt, die ihre Spiele präsentieren, sondern erschwert bereits die Entstehung dieser Welten enorm. Solange kein westlicher Geldgeber ein Projekt unterstützt, ist die Bezahlung meist schlecht. Ganze Entwicklerteams müssen sich in schummrige Kellerräume zwängen und sich ihren Lebensunterhalt durch Zweitjobs finanzieren. Und die wenigen östlichen Publisher, die mit den in Russland und Osteuropa sehr beliebten PC-Spielen Gewinne erwirtschaften, lassen das Geld lieber in ihre eigenen Taschen wandern, anstatt es in den Nachwuchs zu investieren. Andrey Prokhorov erinnert sich: „Nachdem ich meinen Job als Radiologe aufgegeben und den Entschluss gefasst hatte, Gamedesigner zu werden, musste ich mir alle Fähigkeiten mühsam selber aneignen. Das geht hier allen so.“ Die Folgen: Der Wissenstand kann auch innerhalb eines Studios stark variieren: „Ein Videospiel produzieren“ ist oftmals gleichbedeutend mit „lernen, wie man ein Videospiel produziert“, und Fehler werden manchmal erst dann entdeckt, wenn es zu spät ist. Laut Sharpe setzt dieses „Learning by doing“ aber auch Energien frei: „Hier hört man den Satz ‚Lass es uns einfach ausprobieren‘ viel öfter als ‚Das funktioniert sowieso nicht‘“, sagt er. In vielen Spielen aus dem Osten finden sich Anzeichen dieser Arbeitsweise – im Guten wie im Schlechten. Oft wollen etwa Spiele wie „The Void“ des Moskauer Künstlerkollektivs Icepick-Lodge gerne anders sein und surreale, nie gesehene Welten zeigen, liefern jedoch allzu sperriges Gameplay. „Stalker“ wiederum hat jeden beeindruckt, der gern Egoshooter spielt, war jedoch stellenweise unbalanciert und dadurch unnötig schwer. Auch „Metro 2033“ scheint nicht frei von diesen Gegensätzen. Als wir die ers-ten Abschnitte des Spiels anspielen, sind wir zunächst sprachlos: Die lebendige, mit Abenteurern, Händlern, spielenden Kindern und zusammengepferchten Tieren bevölkerte Untergrundwelt, die Dmitry Glukhovsky in seinem Roman beschreibt, wurde eins zu eins ins Spiel übernommen. Wir fühlen uns in dieser Welt – einer Hommage an den Überlebenswillen des Menschen unter schwierigsten Bedingungen – sofort zu Hause und verstehen jetzt auch den Schriftsteller, der uns kurz zuvor erzählt hatte, er habe Gänsehaut bekommen, als er seine Vision erstmals auf einem Monitor zum Leben erweckt sah. Weniger überzeugt sind wir hingegen, als wir uns in den Ruinen von Moskau gegen ein Rudel Wölfe verteidigen müssen oder während einer Draisinenfahrt durch einen dunklen Metro-Tunnel von Mutanten angegriffen werden. Trotz präzise platzierter Ladungen aus dem Schrotgewehr scheint unsere Trefferquote eher vom Zufall bestimmt zu sein als von unserem eigenen Können. Hier hat das Team von 4A noch einiges an Arbeit vor sich, bevor das Gameplay mit der Spielwelt verschmilzt. Noch sind Videospiele aus dem Osten nicht perfekt, und man ist in der Ukraine und Russland auf Finanzspritzen aus dem Westen und Menschen wie Dean Sharpe angewiesen, die hin und wieder nach dem Rechten sehen. Doch schon sehr bald könnte in der ehemaligen Sowjetunion etwas Neues und Wichtiges entstehen. Denn während amerikanische und westeuropäische Studios immer mehr einfallslose Fortsetzungen produzieren und den Schwierigkeitsgrad nach und nach auf das Niveau von Casual Games herunterfahren, lieben die Entwickler des Ostens die Herausforderung. Game-design ist dort ein Abenteuer, ein Experiment, das schief gehen, aber auch kunstvolle und aufregende Resultate hervorbringen kann. Ob „Metro 2033“ zur letzteren Gruppe gehört, bleibt abzuwarten. Unser Blick wendet sich ab vom im Dunklen strahlenden Bildschirm. Wir sind in einem besonders stickigen Raum des Bunkers. An den Wänden hängen Gasmasken und Schau-diagramme zur Erstversorgung radioaktiver Verbrennungen. Auf unserer Website findet ihr ein Interview mit dem Produzenten Wolfgang Walk, der bereits mit mehreren Videospielentwicklern aus der ehemaligen Sowjetunion zusammengearbeitet hat: www.geemag.de/taktik_und_seele
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von Oliver Klatt / Dezember 12th, 2009 /

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