Der Abschied vom Helden

Der Abschied vom Helden

Vor dreißig Jahren hat Sven Stillich Zeitungen ausgetragen, um sich einen C64 kaufen zu können, heute schreibt er sie voll. Er ist Journalist, Buchautor und Textchef von GEE. Das ist seine erste Kolumne. Dieses Mal über: Perspektivwechsel Wir stehen im Mittelpunkt. Wir sind das Zentrum, um das sich alles andere dreht. Wir sind die Hauptfigur, der Handelnde, die Gestaltende. Wir sind der Held. Das ist die Rolle, die wir in den meisten Videospielen ausfüllen – und diese Illusion zu perfektionieren, treibt die Evolution des ganzen Mediums voran. Jahr um Jahr müssen Held und Welt echter wirken, klarer klingen und sich unmittelbarer steuern lassen. Die Industrie gibt alles. Denn Helden verkaufen sich. Helden machen Marken, die sich dann noch leichter verkaufen lassen. Denn Helden wachsen uns enger ans Herz, je länger wir ihres schlagen lassen. Weil wir uns in ihrem Körper für einige Stunden größer fühlen durften als wir sind. Wir wollen siegen und umjubelt werden – und für dieses Gefühl spielt es keine Rolle, ob wir dabei Super Mario heißen oder Cristiano Ronaldo spielen, ob wir uns Nathan Drake nennen lassen oder ob wir gar unsere Figur eigenhändig erschaffen und ihr einen Namen geben dürfen. Wir lieben Videospiele, weil sie diesen einzigartigen Raum erzeugen, in dem wir alles unter Kontrolle haben können. Dieses Heldentum aus zweiter Hand ist beileibe keine Erfindung des Videospiels. Das gibt es im Kino und im Fernsehen, in Büchern und seit Jahrhunderten im Theater. Auch in diesem Jahr wird es neue Helden geben, in Spielen – und eben auch auf der Leinwand. Und gerade deshalb ist die Absolutheit des Helden ein breit angelegter Irrweg. Denn wollen Videospiele zu ureigenen Formen finden, Geschichten zu erzählen, müssen sie es wagen, weniger ausgetretene Pfade beschreiten. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Game, in dem wir nicht den Helden, sondern die Nebenrollen spielen? In dem wir den Helden nicht selbst steuern, ihn aber ständig im Blick hätten? Ein Actionspiel etwa, mit Schusswechseln, Verfolgungsjagden und Schleichereien – nur dass nicht wir darin schießen, verfolgen und schleichen, sondern ein anderer? Ein Spiel, das dabei so offen wie möglich wäre; in dem wir entscheiden könnten, ob wir dem Helden helfen oder nicht – und das Spiel wäre in der Lage, seine Geschichte dennoch adäquat weiterzuerzählen? Wir sitzen am Steuer eines Autos, das dem Helden bei der Verfolgungsjagd entgegenrast und in das er hineinzuknallen droht. Wir drängen Polizeiwagen ab – oder nicht. Schnitt. Wir sind ein Ladenbesitzer, der frühmorgens sein Geschäft aufschließen will und sich plötzlich mitten in einer Schießerei wiederfindet. Wir sehen den Helden aus den Augenwinkeln, ducken uns, versuchen, nicht getroffen zu werden, robben in unseren Laden, verrammeln ihn – und werden vom Helden zur Geisel genommen. Werden wir kooperieren oder nicht? Schnitt. Wir sind die Frau eines Polizisten, die ihm morgens einen Kaffee macht und ihn in den Arm nimmt. Wir -beginnen ihn zu küssen, wir verführen ihn, ziehen ihn ins Schlafzimmer – und dann versuchen wir ihn zu über-reden, nicht zur Arbeit zu gehen, sondern bei uns zu bleiben. Schaffen wir das nicht, wird der Held ihn nachmittags erschießen. Cut. Wir spielen den TV-Reporter, der versucht, von dem Helden die besten Bilder zu bekommen. Rückblende: Wir sind der Mörder, für dessen Tat die Hauptfigur gesucht wird. Wie viele Spuren werden wir hinter-lassen, die ihn be- oder entlasten könnten? Schnitt. Wir stehen an einer Brücke. Wir können springen oder nicht. Wir wissen nicht, welche Konsequenz das für die Story hat. Aber wir müssen uns entscheiden. Cut, Schnitt, Cut. Szene auf Szene spielen wir Randständige, Ins-Geschehen-Geworfene. Wir sind Publikum, das plötzlich keines mehr ist. Wir sind nicht einer, wir sind viele. Doch erst wir machen die Geschichte möglich. Vielleicht treffen wir den Helden sogar einmal persönlich – aber der Held des Spiels werden wir nie sein. Vielleicht werden wir nie erfahren, was seine Motivation ist, warum passiert, was passiert. Oft ahnen wir nicht einmal, welche Auswirkungen unsere eigenen Entscheidungen haben. Würden wir das aushalten? Ein solches Spiel hätte viele Facetten – und es wäre lebendig gerade durch die Distanz. Gerade weil es sich weigert, auf das Unmittelbare fixiert zu sein. Und wie eigenständig diese Erzählweise wäre. Ja, das ist nur eine Idee. Und aus ihr ergeben sich Fragen – aber die sind spannend: Funktioniert das Prinzip auch bei Genres, die keine Geschichte erzählen? Wie verhindert man, dass sich das Ganze anfühlt wie eine Minispielsammlung? Und wie treibt man den Spielern aus, sich am Ende doch als Helden zu fühlen? Wie schön wäre es, wenn sich ein Entwickler an ein solches Spiel wagen würde. Auch auf die Gefahr hin, zu scheitern. Er wäre mein persönlicher Held.
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von Chris Rotllan / Januar 30th, 2010 / 8 Kommentare

8 Kommentare

  1. Björn H sagt:

    Interessanter Ansatz, der einen immer wieder an LOST denken lässt;)
    Da mir ja das Game alle Freiheiten böte, hoffe ich doch, dass ich auch der Freund des Polizisten sein könnte und nicht zwingend „die Frau eines Polizisten“ spielen müsste.
    Oder bin ich doch gezwungen, bei den traditionell strukturierten Games zu bleiben, die aber wenigstens erzählerisch progressiver daherkommen, zumindest einen Funken mehr gleichgeschlechtliche Lebensrealität durchblitzen lassen (Bully, Mass Effect, Dragon Age). Hier haben Games wahrlich noch Aufholbedarf.

  2. Sven Stillich sagt:

    Hallo Björn,

    wie kommst du auf Lost?

    Und du meinst mit „Freund“ Lebensgefährte, oder? Dann könntest du natürlich auch den Freund des Polizisten spielen, wenn das an der Handlung des Spiels nichts ändert. Wenn das Geschlecht des Partners für die Story also nicht relevant wäre – und die Frau des Polizisten nicht vom Helden schwanger wird oder so etwas. Was ich aber noch spannender finde: Wie stellst du dir denn die konkrete Umsetzung von „gleichgeschlechtlicher Lebensrealität“ in einem Spiel vor?

    Viele Grüße
    Sven

  3. Hauser85 sagt:

    Hey so ein Spiel würde ich spielen.

    Problem wird es eben, dass Spiel spaßig zu gestalten, wenn der Grundsatz „Spiele müssen Spaß machen“ wichtig ist. Für die Kommerzialisierung
    Hat Killer7 Spaß gemacht? Mir nicht, aber es hat etwas anderes bewirkt, in mir erzeugt, dass mich hat anders denken lassen. Es war Lyrik!!!
    Andere gute Beispiele gibt es unter dem Begriff „Interactive Fiction“ in der Indieszene. Wie zum Beispiel „Pathways“ von Terry Cavanagh (Zur Zeit durch „VVVVVV“ bekannter geworden).
    In diesem Spiel ist man auch nicht direkt Held, man ist eher Spielfigur in einem vorgefertigtem Plot, der einen überrascht, mit Geschehnissen, die einem bisherigem Verständniss von Computerspielen (Spiele machen Spaß usw.) entgegenspielen. Trotzdem spielte ich es öfters, weil die Erfahrung und nicht das Spiel an sich „Spaß“ machten (was für ein wiederspruch.)
    Auch in „Edmund“ (Name des Autors weiß ich nicht) ist man nicht Held und die Erfahrung (die einen etwas beängstigt), steht hier im Vordergrund.

    Das sind Spiele, die das Verständniss von Games verändern. Spiele, die anders sind. Spiele, die vielleicht mehr Kunst, aber dadurch eben noch berechtigter „Kultur“ benannt werden dürfen.
    Arte hat leider noch keine Spielekonsole auf den Markt geworfen.

    Der Abschied von Helden – No more Heroes

    Links :

    Pathways http://distractionware.com/blog/?p=650

    Edmund (nix für zart beseitete, wichtig, zu Ende spielen!!)
    http://www.gamedev.net/community/forums/topic.asp?topic_id=543742&whichpage=1&#3505945

    No more Heroes desperate Struggle und Spaß
    http://kotaku.com/5461307/no-more-heroes-2-desperate-struggle-review-repetitious-rebel

  4. Hauser85 sagt:

    Oh sorry,

    habe die grandiosen Games von Tale of Tales vergessen.
    (http://tale-of-tales.com/)
    Hab Graveyard und The Path gespielt.
    2 Games in denen ich nicht der Held bin.
    Die nicht unbedingt Spass machen, aber Gefühle erwecken, bei denen man froh ist, es doch bis zum Ende durchgespielt zu haben (wie bei nem langatmigen Europäischen Film, um nochmal Arte anzusprechen.)

    Ich denke auch, das Tale of Tales die bekanntere Schmiede wäre, die das Game entwickeln könnte.

    Ich weiß, dass ich ein wenig am Thema vorbeifliege,
    aber ich denke, dass gerade der Spaß, ein Knackpunkt sein könnte.

  5. Crey sagt:

    Hallo,

    ansich ist die Idee gar nicht so schlecht. Wenn es richtig umgesetzt ist, ist es bestimmt ein Spiel das man durchaus Spielen kann.
    Bei den Fragen am Ende Ihres Artikels feht mir aber eine. Will der Spieler das überhaupt ?

    Was ich damit sagen will, ist nicht einer der Hauptgründe, warum wir Spiele spielen, der, dass wir die Helden sind ?
    Gut, ich gebe zu, nicht bei jedem Spiel liegt das Hauptaugenmerk darauf der Held zu sein, aber zumindest immer der Beste zu sein, egal ob es jetzt um ein Rennspiel, Actionspiel oder Puzzle geht.

    Im echtem Leben, da bin ich doch schon die Nebenfigur. Ich bin vielleicht genau die angesprochene Frau die ihren Mann bittet, nicht zur Arbeit zu gehen. Ich bin vielleicht genau die Person die weil ich mich vielleicht gerade zufällig runter beuge um einen Cent aufzuheben, eben nicht von einer umherfliegenden Kugel getroffen wird, oder eben doch und damit verhindere das der wahre Held getroffen wird.

    Ihr Spielkonzept, ist, finde ich, das echte Leben.
    Spielen wir nicht genau deswegen so gerne Spiele ? Weil wir mal der Held sein möchten ? Weil wir spannende und aufregende Abenteuer erleben wollen ?
    Weil wir es sonst kaum sein könnten.

    Egal welches Spiel wir spielen, wir schlüpfen doch immer in die Rolle einer Figur, auch wenn sie uns noch so ehr nachempfunden wurde, und geben für ein paar Stunden unser eigenes echtes Leben am empfang ab, um für kurze Zet woanders zu sein.
    Und will ich dan wirklich „nur“ der stille Beobachter sein ? Der Unschuldige Passant ?

    Ich muss gestehen das ich selber darauf keine Antwort habe, ich würde mich aber gerne von so einem Spiel überraschen lassen.

    In diesem Sinne….

  6. Sven Stillich sagt:

    Hallo Crey,

    ob Spieler so ein Spiel überhaupt wollen… diese Frage lässt sich wohl nur beantworten, indem so ein Spiel gemacht wird. Vielleicht sogar aufgeteilt in Episoden, dann wäre es in der Produktion nicht einmal teuer.

    Und zum Gegensatz von Spiel und „echtem Leben“: Die Idee, die ich skizziert habe, ist doch eine Sammlung von Extremsituationen und extremen Entscheidungen. Wird es die Frau schaffen, ihren Mann zu überzeugen, zu Hause zu bleiben? Wen wird die Kugel treffen, die in einer Fußgängerzone verschossen wird? Den Helden? Das Kind, das gerade mit dem Fahrrad vorbei fährt? Es gibt in dieser Aufstellung abseits des Helden so viele Positionen, die interessant wären, gespielt zu werden. „Stille Beobachter“ sind die Personenen nicht, jeder nimmt auf seine Weise am Geschehen teil – und handelt. Jeder ist in seiner Rolle. Und die hat zumindest mit meinem Alltag und „echtem Leben“ nicht viel zu tun.

    Viele Grüße
    Sven

  7. Crey sagt:

    Ok, das Argument mit den Extremsituationen ist gut.
    Und jetzt kommt das aber ;)

    ABER… wenn ich in so einer Extremsituation bin, wie Sie sie beschreiben, also das mit dem Schiessen. Wenn ich mich also entscheide, etwas zu unternehmen, damit vielleicht kein Unschuldiger verletzt wird, werde ich dan nicht Automatsch zum Held ?
    Es gibt ja schon genügend Games, wo man eine Entscheidung treffen muss, Gut oder Böse zu handeln.

    Sind wir dan nicht wieder bei dem alten SPielprinzip vom Helden ?
    Daher stellt sich direkt die nächste frage, ist diese Vorstellung, die Sie beschreiben überhaupt möglich ?

    mfg
    Crey

  8. Sven Stillich sagt:

    Hey Crey,

    vielleicht wird man durch Handeln automatisch zum Helden des Alltags – aber nicht zum Helden des Spiels. Denn dazu müsste man im Mittelpunkt der Handlung stehen. Die Frage, ich ich interessant finde: Mit wem identifiziert sich der Spieler in einem solchen Spiel? Mit der Figur, die er spielt – jedoch vielleicht nur zehn Minuten in der Fußgängerzone, Schnitt – oder mit dem Helden, den er eben nicht spielt? Sich in einem Videospiel einer Figur nahe zu fühlen, die handlungsmächtiger ist als man selbst und (gegen) die man nicht spielt, fände ich äußerst spannend…

    Viele Grüße
    Sven