Guten Rutsch

Guten Rutsch

Mit „Vanquish“ müssen Platinum Games beweisen, dass sie nicht nur originelle Spiele machen können, sondern auch erfolgreiche. Finden sie dabei den Mittelweg zwischen Muse und Masse? Eine Armada russischer Roboter besetzt eine amerikanische Raumstation. Sie legt mit einem gebündelten Energiestrahl kurzerhand San Francisco in Schutt und Asche. Dann greift der Spieler in den Konflikt ein. Er schlüpft in die Rolle des DARPA-Agenten Sam Gideon, ausgerüstet mit einem „Augmented Reaction Suit“ – einer speziellen Rüstung, die ihm übermenschliche Spezialmanöver ermöglicht. Das sind das Setting, die Handlung und die Hauptfigur von „Vanquish“. Originell ist das nicht. Klingt alles nach „Halo“ oder „Crysis“. Der Held dieses Shooters sieht aus, als sei der Masterchief mal eben im Rüstungsschlussverkauf shoppen gewesen. Auf den ersten Blick keine eigene Idee, und noch dazu Anlehnungen an die erfolgreichen Produkte anderer Entwickler: Das ist sehr ungewöhnlich für das junge Studio Platinum Games, das mit „Madworld“ und „Bayonetta“ bislang kompromisslose und durchgeknallte Games erschaffen hat. Hat das Studio der Mut verlassen? Nein, aber es steht viel auf dem Spiel. Vielleicht sogar alles. Denn an „Vanquish“ wird sich die Zukunft des japanischen Entwicklungsstudios entscheiden. Es ist das vorerst letzte Spiel eines Publishing-Deals mit Sega, einer Geschäftsbeziehung mit durchwachsenem Erfolg: „Bayonetta“ hat sich zwar mehr als eine Million Mal verkauft, aber die beiden anderen, „Madworld“ und „Infinite Space“, konnten kommerziell nicht überzeugen. Sollte „Vanquish“ floppen, dürfte nicht nur Sega das Interesse am Verlegen von Platinum Games verlieren. Der Titel des Spiels passt zur Lage: „Vanquish“ heißt „besiegen“ – und will Platinum Games überleben, muss das Studio einen Kampf mit sich selbst ausfechten: Es ist gezwungen, einen Mittelweg zu finden zwischen den hohen Ansprüchen der Macher und denen des Marktes. „Wir haben dieses Mal von Anfang an ein Spiel zu machen versucht, das international bestehen kann“, sagt Mitbegründer Shinji Mikami. „Und um weltweit möglichst viele Spieler anzusprechen, haben wir das Shooter-Genre gewählt“, fügt sein Kompagnon Atsushi Inaba hinzu. „Nun gilt es, inmitten all der Konkurrenz durch Originalität hervorzustechen, denn einen gewöhnlichen Shooter zu entwickeln wäre uns zu langweilig“, befindet Mikami. „Vanquish“ setzt dabei vor allem auf Geschwindigkeit: Auf den Knien rutscht Agent Sam Gideon durch die Level wie ein Fußballer nach seinem Tor zur Eckfahne – in diesem Fall allerdings durch Raketen an-getrieben und daher viel länger, um Ecken herum und sogar Treppen hinauf. Schnell schlittert er so in Deckung, zum nächsten Munitionspaket oder direkt auf Gegner zu. Mit einem Nahkampfangriff kann er den Slide beenden und Roboter mit einem Schlag in Einzelteile zerlegen. Und natürlich kann er auch auf Knien schießen. Elegant verbiegt Gideon sich, um Gegner anzuvisieren und zu treffen, während er an ihnen vorbeigleitet. Verdammt schnell geht das, und wild wird es von Platinum Games inszeniert. Mit Bewegungsunschärfe, Blitzen und Funken. So flink und verrückt wie in „Vanquish“ hat man sich tatsächlich noch durch keinen Shooter bewegt. Deutlich konventioneller geht das Spiel die Deckung an. Wie in „Gears Of War“ verschanzt sich der Spieler per simplem Knopfdruck hinter verschiedenen Objekten. Je nach Höhe der Objekte nimmt Sam dabei eine andere Position ein: fast liegend flach am Boden, gehockt in Lauerstellung oder aufrecht. Zum Zielen und Feuern lugt er kurz hervor und bringt sich dann automatisch wieder in Sicherheit. Das ist schön einfach zu handhaben, und das muss auch so sein – bei dem Chaos, das hier die meiste Zeit um den Spieler herum tobt. Im Sprung kann außerdem ein Zeitlupenmodus aktiviert werden, in dem Sams Ziele mit roten Markierungen gekennzeichnet werden und er mit etwas Geschick gleich mehrere Gegner hintereinander ausschalten kann. Auch wenn seine Lebensenergie zur Neige geht, wird dieser Modus aktiv, damit der Agent noch das Weite suchen kann– am effektivsten natürlich auf den Knien schlitternd. Mit etwas Übung lassen sich Slides, Nahkampfangriffe und Zeitlupenmomente miteinander zu Combos verketten. Wenn Sam Gideon sich dann nach einem Slide per Salto von einem Gegner abstößt und während einer Drehung in Zeitlupe noch drei weitere Roboter mit Schüssen zerlegt, ist das sehr beeindruckend. Und erinnert ein wenig an den Shooter „Wet“, in dem die Hauptfigur Ruby ihre Gegner ebenfalls in Zeitlupe und mit akrobatischen Manövern aufs Korn genommen hat. Entwickler Mikami selbst nennt als direkte Inspiration für das Game „Gears Of War“, „Call Of Duty“ und sein eigenes Spiel „God Hand“. Während spektakulären Quick-Time-Events blitzt auch ein bisschen Wahnsinn wie in „Bayonetta“ auf. Dann feuern zum Beispiel riesige Roboter Raketen ab, die Sam in der Luft greift, umdreht und zurück in den Lauf schleudert. „Das Gefühl von Geschwindigkeit und der Action-Rhythmus sollen ,Vanquish‘ von anderen Shootern abheben“, sagt Shinji Mikami.

Auf die harte Tour

Soweit sich das nach einem „Vanquish“-Preview-Tag sagen lässt, könnte es Platinum Games tatsächlich gelingen, dem zunächst austauschbar wirkenden Spiel eine eigene Note zu geben. Inwieweit sich die Originalität mit dem Massenmarkt verträgt, wird sich erst später an den Kassen zeigen. Die Mischung aus bewährten und neuen Features ist bei Weitem keine sichere Nummer, das weiß Mikami. Er weiß das besser als viele andere. Denn dass es sich nicht unbedingt auszahlt, nur die Verwirklichung der eigenen Kreativität im Auge zu haben, hat er auf die harte Tour gelernt, als er Ende 2006 sein Spiel „God Hand“ auf den Markt brachte. „Das war ein Videospiel, das ich komplett nach meinen Vorlieben gestaltet hatte“, sagt er – „und das war am Ende nicht gerade erfolgreich“. Dabei hatte Mikami doch zu Beginn seiner Karriere alles richtig gemacht: Nachdem er bei Capcom zunächst Quizspiele und Games zu Disney-Lizenzen entworfen hatte, erschuf er „Resident Evil“. Nach dessen Erfolg stieg er zum Producer auf und wurde später sogar zum Leiter von Capcoms Production Studio 4 berufen. Dort überwachte er die Entwicklung von Spielen wie „Devil May Cry“, „Resident Evil Code: Veronica“ oder „View-tiful Joe“. Dann schuf er ein eigenes Spiel, den Shooter „P.N. 03“. Das war der Beginn der Achterbahnfahrt. Sein erster Flop. Das Spiel verkaufte sich so schlecht, dass Mikami als Studioleiter zurücktrat und sich nur noch um die kreative Seite der Spiele kümmerte. Damit ging es wieder aufwärts für ihn: Er übernahm das Ruder bei der Entwicklung von „Resident Evil 4“ und erntete für das Ergebnis weltweites Lob. Doch dann kam „God Hand“. Der zweite Flop. Daraufhin gründete Mikami mit seinen Kollegen Atsushi Inaba und Hideki Kamiya die Firma Seeds, aus der später Platinum Games wurde – ein Studio mit dem Anspruch, „andere Spiele“ zu machen. Auch für „Vanquish“ hatte Mikami noch verrücktere Ideen im Kopf, als im Spiel zu sehen sind. Ein Roboterhund sollte Sam im Kampf begleiten und sogar mit dessen Anzug zu neuen Formen verschmelzen können. Klingt fantastisch, wurde dem Entwickler aber vom eigenen Team wieder ausgeredet. „Man kann nicht immer alles machen, was man will“, sagt Mikami. Das sei keine Resignation, sondern eine Businessweisheit. Damit es also nicht zu verrückt wird im fertigen „Vanquish“, transformieren nun statt Hund und Anzug nur noch die Waffen in Sams Hand. Das ist weniger originell, aber für die meisten Spieler einfacher zu verstehen. Und es sieht schick aus: Wenn Sam von einem Waffenmodell zum anderen wechselt, verändert sich die Form. Das wirkt futuristisch, wie alles im Spiel. Aus einer blau beleuchteten Kommandozentrale heraus versorgt zum Beispiel eine Agentin Sam mit Informationen und verschiebt Projektionen in der Luft wie in „Minority Report“. Die feindlichen Roboter sind keine blöden Blechkisten, sondern agile High-Tech-Modelle, die ebenso gute Gegner abgeben wie Außerirdische, Mutanten oder Menschen in anderen Shootern. Jeder Treffer ist ihnen deutlich anzusehen, am Ende verabschieden sie sich mit einer bläulich blitzenden Explosion. Oft kommt sich der Spieler vor wie in einem dreidimensionalen „Bullet Hell“-Shooter: Hunderte kleiner Raketen feuert der Endgegner in der Demo ab, die von allen Seiten auf Sam zufliegen und ihn verfolgen. Einen Weg durch das choreografierte Chaos gibt es aber immer.

Unter Beschuss

Die Spielgrafik von „Vanquish“ ist dabei durchgängig erstklassig. Dar-gestellt wird das Spiel von einer optimierten Version der „Bayonetta“-Grafik-Engine. Selbst die Menüs sehen schon zum derzeitigen Stand der Produktion so aus, als hätte sie jemand noch kurz vor Spielbeginn auf Hochglanz poliert. „Wir wollen Spiele machen, die dem Namen Platinum Games gerecht werden“, sagt Atsushi Inaba. Und edle Optik entwickelt sich dabei zum Markenzeichen des Studios. Die opulente Präsentation und das Ausmaß an Action sind der Grund dafür, dass es in „Vanquish“ keinen Mehrspielermodus geben wird. Mit Blick auf den Markt und die Verkaufszahlen gehört der heutzutage eigentlich zwar zum Pflichtprogramm, laut Mikami hätten für einen Multiplayer-Modus aber so viele Elemente aus dem Spiel deaktiviert werden müssen, dass es ein ganz anderes Spiel geworden wäre. „Wir wollten so viel wie irgend möglich in das Hauptspiel ‚Vanquish‘ hineinpacken und eine durchdesignte Single-Player-Erfahrung schaffen“, sagt Mikami. Das scheint ihm durchaus zu gelingen, und es ist schön zu sehen, dass er sich nicht allen Zwängen beugt – und bei allem Druck noch Sinn für Details hat. Seinem Helden hat Shinji Mikami ein besonders ungewöhnliches Spezialmanöver spendiert: Mitten im Kampf kann Sam sich hinter einer Deckung eine Zigarette anzünden. Und weil es ein Spiel ist, ist rauchen nicht tödlich, sondern lebensrettend. Schnippt der Agent die Kippe weg, springen die Gegner darauf an und nehmen sie unter Beschuss, sodass Sam selbst einen Überraschungsangriff starten kann. So steckt in „Vanquish“ am Ende doch viel mehr Mikami, als es auf den ersten Blick scheint. Er ist selbst begeisterter Raucher. Ein Platinum-Game wird „Vanquish“ auf jeden Fall. Ob es den dringend nötigen Erfolg einfahren kann, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Für das Studio hängt viel davon ab, Mikami jedoch hat längst neue Pläne. Für Electronic Arts produziert er bereits ein Survival-Horror-Spiel von Suda 51, und in Zukunft will er seiner Kreativität wieder mehr Raum lassen: Nach der Fertigstellung von „Vanquish“ wird er Platinum Games verlassen und sich ganz seinem neu gegründetem Studio Tango widmen. „Oft wird die Entwicklung von Spielen in Japan unter rein geschäftlichen Aspekten betrachtet“, sagt Shinji Mikami, „bei Tango soll die kreative Seite im Vordergrund stehen.“ Außerdem möchte er dort neue Talente fördern, „die Spielmacher der Zukunft aufziehen“. Das klingt wie schon einmal gehört. Bleibt die Hoffnung, dass er selbst nach „Vanquish“ noch eine Menge Spiele entwickelt. Wenn es nach uns geht, darf er seine Kreativität dabei auch komplett von der Leine lassen. Wir würden uns über ein Game mit einem Roboterhund freuen. „Vanquish“ erscheint Ende des Jahres für Playstation 3 und Xbox 360
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von Volker Hansch / Juni 6th, 2010 /

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