Jetzt mal echt
Online-Dienste wie Foursquare oder Epic Win wollen mit Achievements und Punkten den Alltag ihrer Nutzer zum Spiel machen. Viele Entwickler jedoch sind nicht einverstanden mit der Vereinnahmung durch die Werbeindustrie – und entwickeln selbst Mechaniken für ein „Spiel des Lebens“
Neben dem Schnitzel häufen sich Pommes zu einem krossen Gebirge, Soße fließt über das panierte Monstrum, die Masse erschlägt einen auf den ersten Blick – das wird gleich ein Kampf! Doch zuvor ist noch etwas zu tun. Schnell huschen die Finger über einen Touchscreen, und wenige Sekunden später ploppt die Meldung bei Twitter auf, und kurz darauf steht auch auf Facebook: „Schnitzel at Erika’s Eck. Via Gowalla“. Ein Foto des Hauptgerichts dokumentiert die Angabe, daneben prangt ein Abzeichen in Form eines stilisierten Stücks Fleisch. Der Eintrag gesellt sich zu vielen anderen: „Drinks at Drei Freunde Bar. Via Foursquare“ steht da, illustriert mit einem Cocktailglas, und „6 Kilometer gelaufen. Via Nike+“ neben einem Orden in Form eines Läufers oder „Eichhörnchenfellmütze mit dem Erledigen der To-do-Liste erbeutet. Via EpicWin“. Die Masse der Einträge erschlägt auf den ersten Blick.
Seit im vergangenen Jahr der Service Foursquare gestartet ist, sind Ortungsspiele ein Trend. Weltweit haben sich bis heute mehr als viereinhalb Millionen Menschen bei der New Yorker Firma registriert und teilen Freunden und Bekannten per Statusmeldung mit, wo sie gerade sind und was sie dort machen. Möglich wird das durch Smartphones, die per GPS-Ortung wissen, wo sie sind, und die ihre Position an externe Dienste weiterleiten können. Foursquare belohnt seine Nutzer für die Einträge mit Punkten und Abzeichen – wie in einem Videospiel: Wer zum Beispiel die meisten registrierten Besuche in einem Restaurant vorweisen kann, das in Foursquare verzeichnet ist, wird als „The Mayor“ ausgezeichnet. Das zugehörige „Bürgermeis-ter“-Abzeichen, im Englischen „Badge“ genannt, ist mit einer stilisierten Krone vor blauem Hintergrund illustriert. Es ist begehrt – ähnlich wie die Trophäen und Archievements, die Videogames vergeben. Viele Nutzer von Foursquare verhalten sich aus diesem Grund auch wie Spieler: Sie nehmen den Wettstreit an und versuchen einander durch häufige Besuche in dem Restaurant die „Bürgermeister“-Trophäe abzujagen. Neben diesen einfach zu erlangenden Badges bringt das Unternehmen regelmäßig neue Auszeichnungen unters Volk. Manche sind reichlich exotisch. So erhielt der Astronaut Doug Wheelock als erster Mensch die Auszeichnung „Nasa Explorer“, als er sich auf der Internationalen Raumstation ISS in seinen Foursquare-Account einloggte. Auf der Erde ist Foursquare längst nicht mehr alleine unterwegs, die Liste der Nachahmer ist groß: Gowalla, Badgeville, oder The Life Game buhlen mit nahezu identischen Konzepten um Nutzer.
Verspielte Realität
Für den Spielmechanik-Experten Gabe Zichermann sind solche Ortungsspiele die Zukunft des Videospiels. „In hundert Jahren wird sich niemand mehr an ,Halo‘ erinnern“, sagt der ehemalige Mitorgani-sator der Games Developers Conference – „aber Gamification wird ein fester Bestandteil des Lebens aller sein.“ Den Begriff „Gamification“ hat die Werbeindustrie erfunden, als sich andeutete, dass das mobile Alltagsspiel das nächste größte Ding nach Wii und Facebook-Spielen werden könnte. Gemeint ist damit der Transfer von Elementen aus Computerspielen in das Leben abseits von Fernseher oder Monitor. Gemeint ist aber vor allem auch, Nutzer an ein Produkt oder eine Marke zu binden und sie immer wieder damit zu konfrontieren. Kurz: Es geht um die „Gamifizierung“ des gesamten Lebens. Bereits vor vier Jahren hat Zichermann kritische Vorträge über die Verknüpfung von realen Tätigkeiten mit Spielmechaniken gehalten, doch damals hat sich kaum jemand für seine Theorien über den gläsernen Spieler interessiert. Bis Foursquare Millionen Menschen durch das Verteilen bunter Bildchen dazu brachte, im Web 2.0 ihren Tagesablauf zu dokumentieren. Derzeit organisiert Gabe Zichermann eine Konferenz zum Thema, die Anfang kommenden Jahres stattfinden soll, den Gamification Summit in San Francisco. Und sicher ist: Dieses Mal wird ihm zugehört.
Für Zichermann entsteht der neue große Hunger nach der verspielten Realität aus dem veränderten Sozialverhalten vieler Menschen. Diese seien zum einen durch Freundschafts-Dienste wie Facebook und Smartphones ständig untereinander vernetzt, zum anderen sei eine neue Generation von Netz-nutzern herangewachsen, die mit Videospielen sozialisiert wurde. „Diese Generation will überall spielen“, sagt er, „sie will auch im Alltag nicht auf Gameplay und Spielmechaniken verzichten.“ Foursquare macht seiner Meinung nach alles richtig: „Wollen Alltagsspiele eine große Zielgruppe erreichen, müssen sie so zugänglich wie möglich sein“, sagt Zichermann, „und was könnte einfacher sein, als mit ein paar Klicks eine Belohnung in Form eines Abzeichens freizuschalten?“
Dazu kommt ein enormes Mitteilungsbedürfnis und eine tiefe Sehnsucht nach Sinn: Anscheinend reicht das pure Leben vielen Menschen nicht mehr. Erst indem sie ihren Freunden in den sozialen Netzen mitteilen, was sie gerade machen und dafür belohnt werden, bekommt für sie ein unscheinbarer Alltagsmoment einen Wert. Was sonst nebenbei geschieht, wird überhöht und in einen spielerischen Kontext gesetzt – als sei in einem Game gerade ein Auftrag erledigt worden: „Martin hat das Horn der Raserei erhalten. Awarded for: Mittagessen“, meldet dann die Helden-To-do-Liste ‚Epic Win‘ auf Facebook.
„Spiele, die unter dem Label Gamification auftreten, nehmen die Mechanik, die am wenigsten für ein Spiel wichtig ist, und stellen sie in den Mittelpunkt“, kritisiert hingegen Margaret Robertson den Trend.
Erstrebenswerte Ziele
Für die 34-jährige Spieldesignerin des Londoner Gaming-Studios Hide?&?Seek sind Applikationen, die lediglich mit Achievement-Systemen um Nutzer buhlen, keine Konkurrenz für klassische Spiele oder die von ihr entwickelten Alternate-Reality-Games wie „Tate Trumps“. Darin „kämpfen“ sich Spieler durch das Tate-Modern-Museum in London und sammeln virtuell Exponate der Dauerausstellung. „Diensten wie Foursquare fehlen echte Spielmechaniken, Regelwerke und erstrebenswerte Ziele“, fügt sie hinzu. „Wenn es in einem Spiel nicht möglich ist, zu verlieren oder Rückschläge zu erleiden, dann bedeuten auch die ganzen Auszeichnungen nichts.“
Mit der Gamifizierung seien Spiele in einer Übergangsphase angekommen, in der viele Entwickler zwar merken, dass ihre Kunden Spiele in ihren Alltag integrieren wollen, aber noch nicht wissen, wie das gehen soll.
Außerdem: Bei all den Badges und Trophäen gehe es nicht darum, den Alltag verspielter zu machen, sondern Produkte und Dienstleistungen zu bewerben, indem ihnen Erfolge übergestülpt würden, die in keinem Verhältnis zum betriebenen Aufwand stünden. Selbst „Nike+“, ein Werbespiel des Schuhherstellers, das die Schritte des Nutzers zählt und ihn dafür belohnt, ist für Robertson im Kern kein Spiel: „Ein Spiel würde das Laufen als Mechanik nutzen, um ein Ziel zu erreichen, zum Beispiel einen interessanten Ort“, sagt sie. „Man kann Wirklichkeit nicht einfach zum Spiel erklären.
Spiele sind fiktionale Erweiterungen und Neukonzeptionen von Realität“ – und in der Mittagspause ein Schnitzel mit Pommes zu essen sei eben keine spielerische Herausforderung.
Gamification-Experte Gabe Zichermann hält solche Kritik für eine typische, immer wiederkehrende Abwehrreaktion: „Als Spiele mobil und casual und sozial wurden, wollten auch die meisten ‚ernsthaften‘ Spieldesigner erst einmal nichts damit zu tun haben“, sagt er. Auch den Vorwurf der mangelnden Komplexität lässt er nicht gelten. Schließlich sei das Leben an sich schon wie ein Spiel: „Egal ob Sex mit dem Partner oder die Büroarbeit, alles läuft doch schon nach bestimmten Regeln ab“, sagt er, „das muss nicht noch komplizierter werden. Einfaches Feedback reicht aus, um Nutzern den spielhaften Charakter ihres Lebens klar zu machen.“
Wie Alltags-Gameplay aussehen kann, ohne auf Achievements zurückzugreifen, zeigt das Spiel „Macon Money“ des Studios Area/Code. In ihm geht es darum, Kommunikationshürden abzubauen und Spieler offener für ihre Mitmenschen zu machen. Dazu werden Spieler mit einem bestimmten Code ausgestattet. Nur durch Gespräche zu anderen Menschen können sie herausfinden, wer ein Gegenstück ihres Codes besitzt. Finden sie durch Gespräche auf der Straße einen Code-Partner, erhalten sie einen Gutschein, mit dem sie dann gemeinsam in Buchhandlungen, Cafés oder Theatern bezahlen können. „Macon Money“ gibt ihnen dabei den Antrieb, aus festgefahrenen sozialen Strukturen auszubrechen.
Hoher Einsatz
Klingt gut. Dennoch läuft auch bei „Macon Money“ am Ende alles auf Geld hinaus. Die Achievements heißen hier Dollar oder Euro, und die Wirtschaft freut sich über die wertvollen Daten der Spieler. „Aus diesem Grund ist der Begriff Gamification in Entwicklerkreisen mittlerweile ein schmutziges Wort“, sagt Mathias Crawford, der am Institute For The Fu-ture (IFTF) in San Francisco die Auswirkun-gen von Games auf Sozialstrukturen untersucht. „Bei dem Hype geht es alleine um eine Sache: Menschen dazu zu bringen, ihre Gewohnheiten und Vorlieben der Werbeindustrie vollkommen freiwillig und ohne eine Gegenleistung zu überlassen.“ Darum bemühen sich die Forscher des IFTF, einen neuen Begriff zu etablieren, den der „gameful experience“, zu Deutsch etwa: verspielte Erfahrung. Unter diesem Terminus entwickelt die Community Gameful.org Spiele, die ein echtes Regelwerk haben. Spiele, die nur belohnen, wenn auch etwas geleistet wurde, und die aus dem Alltag einen Jahrmarkt der Möglichkeiten machen, anstatt in eine Sackgasse des Konsums zu führen. Dass es sich lohnt, „echt“ zu spielen, liegt für Mathias Crawford auf der Hand: „Wenn ich ein Spiel für eine wahre statt für eine fiktionale Welt entwickle, sind meine Einsätze viel höher“, sagt der 28-Jährige. „Ich kann viel mehr verlieren, aber ich kann auch ungleich mehr gewinnen.“ Typische Videospielelemente wie eindeutige Ziele oder die Trennung der Level in Ober- und Unterwelt können seiner Meinung nach Spielern sogar helfen, ihren Alltag zu bewältigen.
Wie ein Spiel aussehen kann, das das Leben verändert? Crawfords Kollegin, die Spieldesignerin Jane McGonigal, hat mit „Super Better“ ein solches entwickelt – und zwar aus persönlichen Gründen: Im vergangenen Jahr erlitt sie eine schwere Gehirnerschütterung und konnte wochenlang nicht konzentriert arbeiten. Schließlich ent-schloss sie sich, begleitend zu ihrem Genesungsprozess eine passende Spielme-hanik zu entwickeln. Ihre Aufgabe: die Symptome ihrer Erkrankung zu bekämpfen, mit ihren Mitstreitern Strategien zu besprechen und ihre Superkräfte zu trainieren. Wie in einem Rollenspiel levelt sie ihre Spezialfähigkeiten auf – und zwar nicht Stärke oder Magie, sondern ihre beeinträchtigten Sinne wie Geruchsvermögen, Sensorik und Gehör. Außerdem legt sie eine fiktionale Geschichte über die Spielmechanik, die ihre Lebenswirklichkeit greif- und erfahrbar macht – die Story der Fernsehserie „Buffy – Die Vampirjägerin“: Ihre Familienmitglieder und Freunde übernehmen die Rolle der Seriencharaktere und unterstützen sie wie eine Gilde bei ihrem Kampf mit dem Alltag. Die beste Freundin etwa wird zum „Watcher“. Sie überwacht das große Ganze – den Feldzug gegen die Krankheit – sie ruft täglich an, um sich vom Fortschritt der Mission zu überzeugen, und denkt sich bei geheimen Tref-fen mit der Heldin neue Kampfstrategien aus. „Vielleicht hat das Spiel nicht meinen Körper geheilt, aber die Verzweiflung über die Krankheit habe ich mit ihm besiegt“, hat Jane McGonigal fünf Wochen, nachdem sie im echten Leben auf Start gedrückt hatte, mitgeteilt.
Ein Spiel wie „Super Better“ braucht also vom Spieler vor allem eines: seine Zeit. Den sekundenschnellen Kick eines virtuellen Abzeichens von Foursquare will es nicht bieten, dazu fordert es zu viel Engagement, dafür ist es zu sehr Spiel. Gerade das ist es aber auch, was Experimente wie Jane McGonigals Selbstheilungssimulation so spannend machen. Sie zeigen, wie Spieler mit dem richtigen Gameplay ihre Wirklichkeit und ihren Alltag „gamifizieren“ könnten, ohne dabei ihr wirkliches Leben aus den Augen zu verlieren.
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