Heldensagen

Heldensagen

Es war einmal…beginnen die Märchen von sterbenden Drachen und mutigen Recken. Was aber, wenn jeder ein Held ist? In virtuellen Welten muss man schon Außergewöhnliches leisten, um berühmt zu werden

Die Schwarzfelsspitze ist ein heißer Ort. Die Hitze versengt ihnen die Härchen auf dem Arm. Wenn sie sich den Schweiß von der Stirn wischen, tropft er ihnen wie Schwefelwasser von den Händen. Dazu der Gestank der Kreaturen, die hier hausen. Orks und vierbeinige Drachenwesen schlagen alles Unschuldige in Stücke. Trotzdem wagt sich eine Gruppe leichtsinniger Abenteurer hier herauf - "Pals For Life" heißen sie, Freunde fürs Leben. Auf der Hälfte des Weges halten sie inne: Krieger und Paladine, geschützt von Panzerplatten, in Stoff gewandte Magier, vor heiligem Licht glühende Priester. Vor ihnen liegt der Brutort der Drachkins, an dem ungeschlüpfte fliegende Teufel in ihren Eiern darauf lauern, die Welt mit Übel zu überziehen. Die Gefährten stehen im Kreis und entwerfen einen Schlachtplan. Nur ein einzelner Paladin mit dem Namen Leeroy sitzt abseits der Gruppe. Von der Reise ausgezehrt, kaut der Recke auf einem gegarten Huhn. Es entgeht ihm, wie seine Streitgefährten ihre Überlebenschance bis auf die erste Nachkommastelle ausrechnen. Plötzlich springt er auf, und noch während er den letzten Bissen der Mahlzeit herunterschluckt, bricht sein lang gezogener Kampfschrei aus ihm heraus: "Leeeeeeroy Jenkins!", ruft der Unglück-selige und stürmt zum Entsetzen der anderen in die Brutkammer des Bösen. Was dann folgt, ist Chaos. Dracheneier zerbersten unter dem ungestümen Ritter. Feuerbälle speiende Bestien lugen hervor, erheben sich in die Lüfte und attackieren die nachgerückten Gefährten. Leeroy rennt durch den Raum, verfolgt von einem geifernden Knäuel, und schreit: "Wir haben sie. Wir haben sie." Dann wird ihm seine missliche Lage bewusst. "Ich habe sie. Ich habe sie", stößt er noch hervor, bevor er, wie seine Kameraden, im Getümmel untergeht und sein Leben verliert.

Ein Hohelied auf das Chaos

Ein Video dieses Vorfalls macht Leeroy Jenkins zum berühmtesten "World Of Warcraft"-Spieler: eine Symbolfigur für all jene, die keine Lust auf pedantische Planer und Wichtigtuer haben - auch wenn gemunkelt wird, der Vorfall sei inszeniert. Den Wahrheitsgehalt der nächsten Geschichte ist allerdings über jeden Zweifel erhaben. Sie trägt sich zu in Sonys "Everquest", in der ewig währenden Welt von Norrath, auf dem Server Sullon Zek. Dorthin haben die Götter all jene verbannt, die in der Vergangenheit durch ihre Missetaten aufgefallen sind. Sullon Zek ist eine Strafkolonie, es ist ihren Bewohnern ausdrücklich gestattet, Böses zu tun. Kaum verwunderlich also, dass sich jene mit verdorbenem Herzen zu einem Stamm zusammengeschlossen haben, der den Namen "Evil" trägt. Den wenigen Guten wollen sie das Leben zur Hölle machen - doch ein schwächlicher Barde spuckt ihnen in die Suppe. Fansy, so sein Name, wagt es, sich den Bösen offen entgegenzustellen. Und dafür würden sie ihn am liebsten mit Messern durchstechen und mit schlimmen Zaubern verhexen. Aber Fansy wird von dem einzigen Gesetz geschützt, dem sich alle unterwerfen müssen, egal ob Nekromant oder Bestienmeister: Das Töten von Frischlingen ist tabu, bis sie die sechste Stufe erreicht haben. Und Fansy, der Schlaue, vermeidet tunlichst, jemals die sechste Stufe zu erreichen. Er ist unangreifbar. Der Hass und die Hilflosigkeit der Bösen kennen keine Grenzen. Denn der Winzling macht sie nicht nur lächerlich - sie sind ihm auch zu Dutzenden zum Opfer gefallen. Wer Fansy dem Famosen begegnet, ist meist Sekunden später mausetot. Denn gar oft befindet sich in seinem Schlepptau eine Vielzahl von Sandriesen, groß wie fünf Männer. Indem er sich ihnen in Steinwurfweite präsentiert, lockt er sie. Mehr braucht es nicht. Dann packt die Riesen die Wut, und sie stampfen hinter dem Winzling her. Fansy lenkt die schnaufenden Fleischkolosse auf seine Widersacher. Selbst ein ausgewachsener Schattenritter hat da keine Chance. So verzweifelt sind die bösen Horden, dass sie die Götter anflehen, dem Treiben ein Ende zu setzen. Zwar sind sie Gesetzlose, aber gänzlich ohne Gesetze scheinen sie dennoch nicht auszukommen. So kam es, dass Sony nach einer Beschwerdewelle der von Sandriesen gepeinigten "bösen" Fraktion das Sullon-Zek-Experiment einstellte. Wegen eines einzigen Spielers fügte die Firma neue Regeln hinzu, die unter anderem das massenhafte Anlocken von Kreaturen für Spieler unter dem sechsten Level verboten. Heute ist Sullon Zek der "Everquest"-Server mit der niedrigsten Population.

Die Wut der Zehntausend

Aber kommen wir zu dem Land mit der weltweit höchsten Einwohnerzahl. Gemeint ist China, das Reich der Mitte, genauer: das dort populärste MMORPG "Fantasy Westward Journey". In der realen Welt herrscht zwar seit über einem halben Jahrhundert Frieden zwischen China und Japan. Aber vergeben können viele Chinesen nicht. Auch, weil Nippon sich nicht erinnern will. Weil die Japaner die Schlächter ihrer Vorfahren immer noch als Helden feiern. Einer von ihnen sitzt für seinen Zorn im Gefängnis von "Fantasy Westward Journey", in ihm kein anderes Gefühl außer Stolz auf sein chinesisches Heimatland. Man hat ihn eingesperrt, weil er laut ausspricht, was er denkt. Sie nahmen Anstoß an seinem Namen: "Kill The Little Japs" hatte er sich genannt, seine Gilde nannte er "The Alliance To Resist Japan". Lange Zeit hat es die Herren der Welt nicht gestört, und plötzlich verlangen sie von ihm, seinen Namen zu ändern. Er verstoße gegen ihre Anti-Diskriminierungsbestimmungen. Natürlich hat er sich geweigert. Diskriminierung ist höchstens seinem Volk widerfahren. Eines Tages wird eine an der Wand des Gouverneurbüros prangende aufgehende Sonne entdeckt, das Himaru: Symbol der Hoffnung für die einen, Zeichen der Unterdrückung für die anderen. Ein Raunen geht durch das Volk. Diese gute Kunde macht auch vor den Gittern des Gefängnisses nicht halt. Und ebenso erreicht die Menschen draußen die Nachricht von seiner mißlichen Lage. Proteste werden organisiert gegen den Frevel. Über Zehntausend sind vor dem Verwaltungsgebäude zusammengekommen. Sie versammeln sich, um sich für seine Freisetzung auszusprechen. Was allerdings viel wichtiger ist: Sie demonstrieren gegen das ihm so verhasste Symbol. "Es ist doch nicht das japanische Himaru", rufen einige dagegen. "Es hat viel weniger Strahlen", sagen andere. Doch sie haben einfach nicht verstanden. Es geht nicht um die Anzahl der Strahlen. Es geht ums Prinzip. Es ist der 7. Juli 2006, und es ist die größte Massenkundgebung in der Geschichte digitaler Welten. Der Weltpolitik ist an diesem Tag der Einzug ins Virtuelle gelungen. Auch in der Betaphase von Richard Garriotts "Ultima Online" kam es 1997 zu einem politischen Akt, der Geschichte machen sollte.

Niemand ist unsterblich

Die Hecken im Palastgarten sind akkurat gestutzt. Die Gittertore sind hochgezogen und lassen jeden freien Mann durch das prächtige Anwesen wandern. Einiges Volk hat sich versammelt, starrt gebannt auf die Zinnen der Mauer und wartet darauf, dass sein Herrscher zu ihm spricht. Die Wachen lehnen am Mauerwerk und dösen vor sich hin. "Bitte weitergehen", ruft ein Ungeduldiger, der in dem Pulk stecken geblieben ist. Just in diesem Moment erscheint Lord British, Herrscher von Britannia. Das Volk liebt ihn ob seiner Gerechtigkeit. So hat er keinen Grund zur Furcht, als er an den Rand der Balustrade tritt und seine Stimme erhebt. Im Publikum steht jedoch ein Mann mit einer anderen Sicht auf die Dinge. Rainz ist Mitglied der Gilde "Ravens Of Fate", die sich umstürzlerischen Gedanken hingibt. Geschickt durchsucht der Dieb die Taschen der Umstehenden, bis er findet, was er braucht: Eine magische Rolle des Feuerfeldes. Damit ist es ihm ein Leichtes, einen Flächenbrand zu verursachen. Jetzt muss alles schnell gehen. Als er die Rolle aktiviert, geht direkt über ihm der blanke Stein in Flammen auf. "Jetzt wird mich das Strafgericht treffen", denkt sich Rainz noch. Denn nicht wirklich rechnet er damit, dass British unvorbereitet ist auf ein Attentat. Jemand ruft: "Netter Versuch, Junge!" Ein anderer: "Lord British ist unverwundbar. Feuer wird ihm nicht schaden!" Doch dann: Ein Schmerzensschrei, die Menge in Aufruhr. "Er ist tot!", brüllt jemand. Und tatsächlich: Der Körper des Herrschers von Britannia liegt zusammengekrümmt in einem Flammenmeer. Wahnsinnig lachend bahnt sich der Attentäter einen Weg durch die Menge. Gerade noch kann er fliehen, denn das Strafgericht in Form von vier eilig herbeigerufenen Dämonen verbrennt auf der Jagd nach dem Täter nicht nur die akkurat gestutzten Hecken. Eigentlich sollte Lord British, der Avatar von "Ultima"-Schöpfer Richard Garriott, tatsächlich unverwundbar sein, als er zum Ende der Beta-Phase von "Ultima Online" eine Ansprache halten wollte. Doch der Server stürzte 20 Minuten zuvor ab, und sämtliche Schutzfunktionen mussten neu aktiviert werden. Anscheinend vergaß Garriott, das Häkchen unter "unsterblich" zu machen. Rainz wurde kurz darauf von der Beta ausgeschlossen. Nicht wegen des Mords, sondern angeblich wegen des Ausnutzens von Bugs. Das ist den Attentätern in unserer letzten Geschichte nicht passiert. Sie hat sich zugetragen im fernen Science-Fiction-Universum von "Eve Online".

Mit Geduld und Tücke

Manchmal kommt der Tod mit Verspätung. Ein ganzes Jahr lang wartet der stets unrasierte und missmutig dreinschauende Istvaan Shigatsu auf eine günstige Gelegenheit, um aus der Deckung hervorzukommen und das Leben von Mirial zu beenden. Ein Jahr, um ein Komplott gegen die Geschäftsführerin der Wirtschaftskorporation Ubiqua Seraph zu schmieden. Ein Konkurrent Mirials hatte Shigatsu beauftragt, ihm ihren Leichnam zu überbringen. Das Motiv: Hass und Neid. Der Lohn: 1 Milliarde Interstellare Krediteinheiten. Zwölf Monate lang infiltrieren die Mitglieder von Shigatsus "Guiding Hand Social Club" Mirals Firmennetzwerk. Sie werden gerne aufgenommen, denn sie sind verlässlich und haben gute Handelskontakte. Immer mehr Schlüsselpositionen besetzen sie, die Attentäter erhalten Zugang zu den firmeneigenen Hangars, in denen Devisen und wertvolle Rohstoffe gelagert werden. Einer von ihnen ist sogar in den engsten Zirkel von Ubiqua Seraph aufgestiegen. Als Mirial ihr Raumschiff am 18. April 2005 gegen fünf Uhr morgens aus dem Sternentor in das Haras-System lenkt, schlägt er zu: Der engste Berater Mirials, Arenis Xemdal, wendet die Bordgeschütze seines "Imperial Apocalypse" gegen seine Herrin. Nur zwei Raumschiffe dieser prächtigen Klasse existieren überhaupt, sie sind in der Lage, ganze Flotten aufzuhalten. Milial hat keine Chance gegen den Verrat, sie stirbt sofort. Unmittelbar nach ihrem Tod transferiert jeder Doppelagent den Inhalt eines Hangars auf sein Depot. Nicht nur, dass Mirial ihr Schiff verliert und wertvolle Körperimplantate: Ihre Korporation wird um über 30 Milliarden Krediteinheiten betrogen. Wo sich der Reichtum der Ubiqua Seraph anhäufte, bleibt nichts zurück. Nichts außer dem neuen Wissen um die eigene Verwundbarkeit und einer Notiz, es handele sich um das Werk des "Guiding Hand Social Club". Die Kunde der Tat verbreitet sich schneller durch die Weiten der 5000 Sonnensysteme als das Licht und macht Istvaan Shigatsu so unsterblich wie Leeroy Jenkins, Fansy und Rainz. Von ihren Taten wird noch in Generationen gesprochen werden, selbst wenn die Welten, in denen sie gelebt haben, bis dahin vielleicht selbst Geschichte sind. Text: Tim Rittmann, Illustration: ITF Grafik Design
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von Volker Hansch / April 10th, 2008 /

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